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Balance von Ökonomie und Solidarität

Der stellvertretende Vorsitzende des Nationalen Ethikrats, Eckhard Nagel, hat vor Einsparungen im Gesundheitswesen gewarnt. Es sei einer der entscheidenden Wachstumsbereiche der nächsten Jahrzehnte. Dort müsse man investieren. Die finanziell Stärkeren sollten für die Schwächeren sorgen.

Moderation: Rainer Berthold Schossig |
    Schossig: Wir schreiben den 2. Advent, wir zünden Kerzen an, auf den Märkten dudeln Weihnachtslieder und auch diverse Hilfsorganisationen melden sich wieder mit Spendenbitten - und das nicht ohne Anlass: Experten sagen, der Sozialstaat droht zu kippen. Zum Beispiel steht fest: Geringer Verdienende sind häufiger krank, sie sterben früher und nur zwei Drittel der Armen erreichen das Rentenalter. Die Probleme des Renten- und Gesundheitswesens sind zweifellos eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Dabei geht es nicht nur um medizinische, sondern auch um ethische und ökonomische Fragen. Für uns ein Grund, über Defizite und unschöne Züge des Sozialstaates zu reden. Vor der Sendung habe ich mit Professor Eckhard Nagel gesprochen. Er ist Direktor des Instituts für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften an der Universität Bayreuth und stellvertretender Vorsitzender des Nationalen Ethikrates. Und ich habe ihn gefragt: Laut Statistik macht also Armut krank und verkürzt das Leben - woran liegt das?

    Nagel: Also ich denke, das ist eine der bedauernswerten Erkenntnisse, die wir in den letzten 50 Jahren gesammelt haben, dass das solidargemeinschaftliche Gesundheitswesen, was von Bismarck einmal eingeführt worden ist, um kranke Menschen besonders auch zu schützen, dass es nicht dazu geführt hat, dass wir alle - die wir den gleichen Zugang zum Gesundheitswesen haben - gleich gesund sind und die gleiche Lebenserwartung haben. Und da muss man dann im Detail gucken, woran das liegt.

    Schossig: Es wachsen jetzt wieder die Randgruppen der Gesellschaft. Die Gebrechlichen, wir sehen sie häufiger auf den öffentlichen Plätzen. Zum Beispiel gibt es ja auch Rentner, die sich gar nicht mehr zeigen, die selten zum Arzt gehen. Ist der ächzende, ohnehin schon überforderte Sozialstaat überhaupt noch in der Lage, diese zunehmende Last zu tragen? Oder brauchen wir andere Systeme der Solidarität?

    Nagel: Also ich glaube, das sind zwei Bereiche, die man da noch mal differenzieren muss. Der eine Bereich ist das Gesundheitswesen selbst. Und wenn ich anfangs gesagt habe, es ist so bedauerlich, dann auch eine persönliche Enttäuschung, dass man eben feststellen muss: Egal, wie ich das Gesundheitswesen offensichtlich organisiere, führt es dazu nicht, dass alle Menschen die gleiche Lebenserwartung haben. Das hat einmal natürlich Gründe, die liegen an unserer Erbmasse, liegen an unseren Umweltbedingungen. Zum anderen aber eben auch, dass man feststellen muss: Wenn ich nicht so viel Geld aufwenden kann, um mich selbst wertzuschätzen, dann lebe ich offensichtlich in gesellschaftlichen Gruppen, die Gesundheit nicht so wichtig nehmen. Und dementsprechend ist die Wahrscheinlichkeit, heute noch, von unteren sozialen Schichten, früher zu erkranken und zu sterben deutlich höher als eben für Menschen, die aus wohlhabenden Schichten kommen. Das ist reine Medizin. Der andere Bereich, den Sie angesprochen haben, ist nun die Frage, inwieweit unser soziales Netz löchrig geworden ist. Und da denke ich, ist schon ganz klar, dass natürlich mit dem Postulat: Wir haben nicht mehr so viel Geld zur Verfügung, auch die Konsequenzen mehr und mehr sichtbar werden, dass eben Randgruppen entstehen, die von unserer Seite aus nicht mehr solidarisch unterstützt werden.

    Schossig: Reiche leben also länger, wenn ich Sie so interpretieren darf. Und es gibt ja längst das Zwei-Klassen-System in der Medizin. Wo sind nun Ihrer Ansicht nach die Grenzen, bis an die eine solche Differenzierung reichen sollte und darf? Setzt nicht das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes hier eine enge Grenze?

    Nagel: Ich glaube, das ist eine ganz enge Grenze, die auch unser Gesundheitswesen direkt betrifft. Wenn wir darüber diskutieren: Wie soll zum Beispiel der Zugang zu Gesundheitsleistungen auch in Zukunft organisiert werden?, dann ist das Gleichheitsgebot meines Erachtens ganz entscheidend. Und da mögen noch so viele ökonomische Gründe dafür sprechen, die Dinge etwas anders zu organisieren. Es muss meines Erachtens gewährleistet bleiben, dass jeder in unserer Gesellschaft Zugang zum medizinischen System hat. Wenn Sie sagen "Zwei-Klassen-Medizin", dann ist das auch wieder etwas differenzierter zu betrachten. Natürlich gibt es eine Gesundheitsleistung, die praktisch - nach dem heutigen Stand des Wissens - das Bestmögliche darstellt. Ich denke, wir haben in Deutschland noch die ideale Situation, dass fast für alle Menschen das gilt, dass sie den Zugang dazu haben. Der andere Punkt ist natürlich, wie wir das in Zukunft machen und ob durch die Privatisierung von auch Gesundheitsanbietern nicht wir mehr und mehr in eine Lage kommen, wo dann doch mal irgendwann aus ökonomischen Gründen selektioniert wird. Und das wäre meines Erachtens mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.

    Schossig: Zurzeit streiken ja die Ärzte wegen ungerechtfertigter Überstunden und unbezahlter Arbeit bei den Klinikdiensten. Das wird sicherlich zu ändern sein, das wird aber zusätzliche Kosten verursachen. Wenn wir jetzt mal auf die Ärzte schauen: Wie lässt sich denn im Gesundheitssystem eine Balance schaffen zwischen Ökonomie und Solidarität?

    Nagel: Ich glaube, das ist die ganz schwierige Frage dieses Jahrzehnts, ob es uns gelingt, tatsächlich eine Balance eben zu schaffen zwischen ökonomischen Ansprüchen - die man auch zum Beispiel angesichts globaler Situationen vielleicht wirklich mehr in den Vordergrund stellen muss - und der Frage: Was bedeutet das für die Solidarität im Einzelnen? Jetzt heißt es ja gerade: Wir müssen die Stärkeren wieder ein bisschen mehr belasten und ins Boot holen, dann wird das alles schon gut gehen. Am Gesundheitswesen kann man sehen, dass das so einfache Antworten nicht geben wird. Die Situation für die Krankenhausärzte haben Sie angesprochen. Wir haben mittlerweile eine Problematik, die wirklich an Dramatik auch nicht mehr zu überbieten ist. Wenn es zu Streiks kommt in einem solchen System, dann ist etwas völlig aus dem Ruder gelaufen. Also hier muss, glaube ich, die Gesellschaft verstehen - und die politische Klasse, wenn ich das mal einfach so etwas harsch formulieren darf -, die muss einsehen, dass das Gesundheitswesen kein Bereich ist, an dem man dauerhaft sparen kann, nur weil man etwas ganz anderes im Auge hat, nämlich die Lohnnebenkosten. Hier muss es eine Umsteuerung geben. Und der Gesundheitsmarkt, das Gesundheitssystem ist der Wachstumsbereich überhaupt in den nächsten Jahrzehnten. Und da muss man einfach mehr Geld investieren. Und da müssen eben die Stärkeren auch für die Schwächeren Geld investieren.

    Schossig: Der neue Koalitionsvertrag trägt ja den Titel "Gemeinsam für Deutschland - mit Mut und Menschlichkeit". Das klingt wunderbar, dennoch steht relativ wenig über das Gesundheitswesen in diesem sehr langen Koalitionsvertrag drin. Wie beurteilen Sie die Aussagen zum Gesundheitsvertrag in den Koalitionsverhandlungen?

    Nagel: Also ich bin schon etwas enttäuscht. Auf der anderen Seite darf ich sagen, dass ich auch nicht sehr viel mehr erwartet habe. Wenn ja gerade die Frage der Organisation des Gesundheitswesens ein besonders strittiger Anteil innerhalb des Wahlkampfs war, dann kann man nicht erwarten, dass drei oder vier oder sechs Wochen danach in den politischen Lagern schon Klarheit besteht, wie man denn weiter fortfahren möchte. Ich hoffe aber, dass die jetzige Situation der großen Koalition auch deutlich macht, dass es eine große Koalition für die Fortentwicklung unseres Gesundheitssystems geben muss und nicht etwa - ja, ich meine - ideologische Ausrichtungen in die eine oder andere Richtung, dass man meint, man müsse nun entweder eine Bürgerversicherung oder Kopfpauschalen durchsetzen. Beide Systeme lösen überhaupt nicht die Probleme, die wir im Gesundheitswesen haben, und löst überhaupt nicht die Frage, die Sie gestellt haben, nach der Solidarität. Sondern das sind reine Finanzierungsmechaniken, die dann so oder so beurteilt werden können. Also ich hoffe sehr stark, dass im nächsten Jahr hier eine intensive, wissenschaftliche wie gesellschaftliche Debatte initiiert wird, die dann zu einer wirklichen strukturellen Reform im Sinne der Solidarität für das Gesundheitswesen führt. Nur im Moment kann ich noch nicht richtig sehen, wer der Träger der Diskussion sein wird.

    Schossig: Es läuft ja im Augenblick irgendwie zweierlei auseinander, finde ich: Wir haben einerseits diese neoliberale Sicht, dass der Sozialstaat nur noch ein Selbstbedienungsladen sei, der die Arbeitsmoral untergräbt; auf der anderen Seite - Sie waren Präsident des jüngst vergangenen Kirchentages - gibt es immer mehr die Einsicht auch vieler Menschen an der Basis, der Menschen auf der Straße, wie man so schön sagt, dass Solidarität geboten ist in diesen Zeiten, wo der staatliche Apparat nicht mehr anscheinend so greift. Wie sehen Sie diese Schere?

    Nagel: Also ich glaube, die Schere ist deutlich geworden, einfach wenn man zum Beispiel jetzt wieder aus dem Gesundheitswesen argumentiert. Wir sehen auf der einen Seite immer weiter steigende Gewinne bei großen Unternehmen - die müssen sicherlich auch sein und die sind auch sinnvoll. Wir sehen aber auf der anderen Seite, dass Finanzierung zum Beispiel der Klinikärzte immer schlechter wird. Das kann auf der anderen Seite auch nicht sein. Menschen sind bereit, auch in unserem Land bereit, unterschiedliche Lebensstandards zu akzeptieren und auf unterschiedlichem Niveau zu leben und sich zu engagieren, auch für den Staat - solange bestimmte Grundsysteme funktionieren. Und eines dieser wesentlichen Grundsysteme ist meines Erachtens das Gesundheitswesen. Solange der Staat für mich als Bürger dann eintritt, wenn es existenziell wichtig wird, also wenn mein Leben bedroht ist, solange kann ich auch Teil dieser Gesellschaft sein und mich damit identifizieren. Wenn ich hier zum Kalkül von ökonomischen Überlegungen werde und man irgendwann sagt: Na, das lohnt sich nicht mehr, hier zu investieren, dann bricht die Gesellschaft insgesamt auseinander. Und genau an dieser Schnittstelle muss man einfach sehr sorgsam agieren und sehr vorsichtig sein. Und alle, die so leichtfertig an den Stellschrauben des Gesundheitswesens oder auch anderer Sozialversicherungssysteme drehen, die müssen sich immer im Klaren sein, dass sie damit mehr verlieren, als sie wahrscheinlich gewinnen werden.

    Schossig: Damit sprechen Sie die Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz an. Soziale Unterschiede sind ja ziemlich hässlich und gefährden genau diese Akzeptanz des Sozialstaates und irgendwann auch den sozialen Frieden - Sie haben das angedeutet. Was könnte denn konkret Abhilfe schaffen? Zum Beispiel der Aufbau von Präventionen?

    Nagel: Also das ist ja eine Hoffnung, dass es immer besser ist, Krankheit zu vermeiden als Krankheit dann auch unter Umständen teuer zu therapieren. Dennoch glaube ich, nach allen Erfahrungen, die man mit Prävention auch hat, es wird dazu führen - und das würde ich mir sehr wünschen -, dass Menschen länger gesund bleiben. Die Kosten im Gesundheitswesen generell werden sich dadurch nicht wirklich senken lassen, weil natürlich wir dann zu einem späteren Zeitpunkt krank werden. Denn krank werden und sterben müssen wir alle. Und dass wir das ein Stück weit dann auch mit medizinischer Hilfe hinauszögern wollen, ich glaube, das ist auch legitim. Es geht nichts daran vorbei, dass wir hier mehr Geld in die Hand nehmen müssen in der Zukunft. Und unter Umständen in anderen Bereichen unserer Gesellschaft darauf verzichten müssen. Und da denke ich zum Beispiel an die Organisation auch unserer Abwehrmaßnahme auf die Frage, inwieweit Friedenssicherung nicht anders möglich sein kann als durch entsprechende Investitionen. Also ich glaube, hier sind die Politiker auch gefordert, und die Gesellschaft insgesamt, Prioritäten zu setzen. Und ich - und das tue ich nicht nur, weil ich Arzt bin - plädiere sehr stark dafür, das Gesundheitswesen hier mit an erster Stelle zu nennen. Denn, in den Umfragen - ich glaube, das geht fast jedem persönlich so - ist die Gesundheit nun mal das höchste Gut, was wir im Moment haben.