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Bangladeschs Textilindustrie
Niedrige Löhne und gefährliche Arbeit

Bei dem Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch starben vor einem Jahr mehr als 1.100 Menschen. In der Kritik stehen die großen Modeketten und Handelshäuser in Europa und den USA. Sie lassen in Bangladesch produzieren, zu extrem niedrigen Löhnen und bei laxen Sicherheitsvorschriften.

Von Gerhard Schröder | 24.04.2014
    "So billig kommt ihr nicht davon!" - Demonstranten fordern Entschädigung für die Opfer von Rana Plaza
    Protest Textilindustrie Bangladesch (Axel Schröder)
    "Ich verspreche Euch, wir werden die Opfer nicht vergessen. Rana Plaza darf sich nicht wiederholen."
    Michael Sommer, der Bundesvorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, steht auf einem kleinen Podest vor dem Haus der Textilgewerkschaft in Dhaka, der Hauptstadt Bangladeschs. Umringt von knapp 100 Frauen in bunten Gewändern. Einige stützen sich auf Krücken, andere halten Röntgenbilder in die Luft, als Beleg für die Qualen, die sie durchlitten haben.
    "Ich habe im sechsten Stock gearbeitet, als die Fabrik zusammenbrach. Ich stürzte in die Tiefe, und wurde von den Trümmern begraben. Alles war dunkel. Ich konnte mich nicht bewegen. Erst nach drei Tagen wurde ich gerettet."
    Asma ist Näherin, sie war 24 Jahre alt, als das Fabrikhochhaus Rana Plaza am Randa von Dhaka einstürzte. Vor einem Jahr war das, am 24 April 2013. Es war der bislang größte Unfall in der bengalischen Textilindustrie. Der Besitzer hatte auf das fünfstöckige Haus illegal drei weitere Stockwerke draufgesetzt, das hielt das Gebäude nicht aus. Asma stürzte in die Tiefe und überlebte wie durch ein Wunder - schwer verletzt und traumatisiert:
    "Ich kann die Bilder von dem Unglück nicht vergessen. Es war ein kleiner Hohlraum, in dem ich lag, drei Tage lang. Ich konnte mich nicht bewegen, hatte Schmerzen und großen Durst. Es war schrecklich. Heute bekomme ich Panik, wenn ich in geschlossenen Räumen bin. Ich bin in ärztlicher Behandlung, aber ich kann nicht arbeiten."
    Rosina, die sich den Arm abgesägt hat, um aus den Trümmern des Rana Plaza zu entkommen
    Rosina, die sich den Arm abgesägt hat, um aus den Trümmern des Rana Plaza zu entkommen (Deutschlandradio Kultur / Jürgen Webermann)
    Wie sollen wir jetzt überleben, fragt die junge Frau verzweifelt. 80 Euro hat sie in der Fabrik im Monat verdient, das ist nicht viel, für die harte Arbeit, sagt sie, aber wir sind damit über die Runden gekommen. Jetzt fehlt ihr das Geld, mit der Miete ist sie seit drei Monaten in Verzug.
    "Sie sollen mir meine Eltern zurückgeben oder Geld, damit wir überleben können."
    ...sagt der achtjährige Bijoy. Er hat in den Trümmern von Rana Plaza seinen Vater und seine Mutter verloren. Mit seinem kleinen Bruder lebt er nun bei seiner Oma Nazma.
    "Ich habe zwei Töchter verloren und meinen Schwiegersohn. Jetzt haben wir nichts mehr. Die Wohnung kann ich nicht mehr bezahlen. Wir müssen uns irgendwie durchschlagen, müssen uns alle paar Tage eine neue Bleibe suchen. Das ist sehr schwierig für uns."
    Schwerster Unfall in der boomenden bengalischen Textilindustrie
    Der Einsturz von Rana Plaza war der bislang schwerste Unfall in der boomenden bengalischen Textilindustrie. Aber er ist kein Einzelfall. Arbeitsschutz und Gebäudesicherheit werden in dem bitterarmen Land nicht sonderlich ernst genommen. Die Unternehmen achten nicht darauf, die Regierung kontrolliert nicht, sagt DGB-Chef Michael Sommer, der das Land Anfang April besuchte:
    "Wir haben hier immer wieder wöchentlich Tote in den Fabriken. Das gehört hier fast zum Standard. Wir haben Arbeitsunfälle, wir haben Ausbeutung ohne Ende."
    Nur vier Monate vor dem Einsturz von Rana Plaza brannte die Fabrik Tasreen ab, über 100 Menschen kamen in den Flammen ums Leben:
    Rui Abekom hebt klagend die Arme in die Höhe, Tränen laufen über das zerfurchte Gesicht. In der Hand hält sie ein kleines Foto von ihrer Tochter; sie trägt ein rotes Kleid, die Haare streng nach hinten gebunden. Sie war gerade 17 Jahre alt, als sie in den Flammen starb.
    "Sie war alles, was ich hatte. Meine einzige Tochter. Ich habe sie allein groß gezogen, mein Mann hatte uns früh verlassen. Sie war so stolz, weil sie zum ersten Mal ihr eigenes Geld verdiente. Sie sagte zu mir, 17 Jahre hast Du für mich gearbeitet, jetzt arbeite ich für Dich."
    Sieben Monate arbeitete die Tochter dort, dann starb sie in den Flammen der brennenden Fabrik. Eklatante Sicherheitsmängel waren für den Brand verantwortlich. Hilfe hat Rui Abekom nie erhalten, nicht vom Staat und nicht von den Unternehmen.
    Selbst den letzten Monatslohn der Tochter hat der Arbeitgeber nie bezahlt, klagt die 31jährige Mutter. Neben ihr steht eine zierliche junge Frau, 20 Jahre alt. Maputa Akter arbeitete im dritten Stock, als das Feuer ausbrach.
    "Der Chef sagte: Das ist nichts, arbeitet weiter. Als dann die Flammen in unsere Etage hochschlugen, war es zu spät. Das Treppenhaus brannte. Da bin ich aus dem Fenster gesprungen."
    Katastrophen von haben weltweites Entsetzen ausgelöst
    Eine lange Narbe am Oberarm zeigt die Folgen des Sturzes: Der Knochen splitterte, bis heute kann die 20Jährige nicht arbeiten. Sie kann nicht verstehen, dass sich jetzt niemand dafür verantwortlich fühlt.
    "Wir haben für Walmart gearbeitet, für Peek und Gap, diese großen Unternehmen. Wir hatten über ein Dutzend Auftraggeber. Jahrelang haben wir für die gearbeitet. Doch das interessiert jetzt niemanden mehr. Keinen Cent haben wir bislang von denen bekommen. Auch die Regierung kümmert sich nicht um uns. Keiner."
    Die Katastrophen von Rana Plaza und Tasreen haben weltweites Entsetzen ausgelöst. Im Blickpunkt stehen die großen Modeketten und Handelshäuser in Europa und den USA. Wal-Mart und Gap, Lidl und Kik, C+A und H+M, sie alle lassen Hosen, Hemden und T-Shirts in Bangladesch produzieren, zu extrem niedrigen Löhnen und laxen Sicherheitsvorschriften. Wollen für die Folgen aber nicht aufkommen. Von den zwei Dutzend Firmen, die in Rana Plaza produzieren ließen, hat nicht einmal die Hälfte den Opfern und Hinterbliebenen Entschädigungen zugesagt, schimpft Amin Haq, der Präsident der Textilarbeitergewerkschaft.
    "Es ist wirklich beschämend, dass die Arbeiter ein Jahr nach der Katastrophe noch immer keine Entschädigung bekommen haben. Jahrelang haben sie in den Fabriken produzieren lassen, für wenig Geld. Sie sind verantwortlich für das Desaster, sie müssen bezahlen."
    Ganz erfolglos war der Kampf nicht.
    Ende Dezember des vergangenen Jahres wurde ein Entschädigungsfonds unter dem Dach der Internationalen Arbeitsorganisation ILO eingerichtet. 40 Millionen Euro wären nötig, um die Opfer und Angehörigen zu entschädigen, hat die ILO berechnet, 15 Millionen wurden bislang eingezahlt. Ein Skandal, findet auch Michael Sommer, der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes:
    "Die Opfer müssen entschädigt werden, das ist das Wichtigste. Wir brauchen sichere Arbeitsplätze. Und ich verspreche Euch, wir werden nicht eher ruhen, bis wir das erreicht haben."
    Auch die deutschen Firmen, die in Bangladesch produzieren lassen, geben kein gutes Bild ab, sagt Gisela Burckhart, die Vorsitzende des Frauennetzwerks Femnet.
    "Wir finden das natürlich einen Skandal, dass zum einen die betroffenen Unternehmen, die dort produzieren ließen, wie zum Beispiel die deutschen Unternehmen Kik oder NKB und Adler, dass die entweder zu wenig oder gar nicht eingezahlt haben."
    Rettungskräfte hatten T-Shirts mit dem Logo des Modeherstellers Kik in den Ruinen gefunden. Sie wurden ohne Wissen des Unternehmens von einem Geschäftspartner in der Unglücksfabrik produziert, behauptet Kik. Erst vor drei Monaten – fast ein Jahr nach dem Unglück - lenkte Kik ein. Mit 500 000 Euro will sich das Unternehmen nun doch an dem Hilfsfonds beteiligen.
    Modehersteller Kik und Adler wussten angeblich nichts
    Auch die Modefirma Adler aus Haibach bei Aschaffenburg will nichts davon gewusst haben, dass Kollektionen ihres Hauses in Rana Plaza produziert wurden. Ein Lieferant sei vertragsbrüchig geworden, und habe zwei Aufträge an Firmen im Rana Plaza vergeben. Adler sehe deshalb keine Verpflichtung, in den Entschädigungsfonds einzuzahlen, wolle aber aus humanitärem Verantwortungsgefühl über eigene Kontakte Gelder an Hinterbliebene verteilen, erklärte die Firma.
    "Man geht eben in das Land, weil es schön billig ist und weil man die Arbeitskräfte entsprechend ausnutzen kann, aber ist nicht bereit, dann hinterher auch für den Schaden aufzukommen."
    Ganz wirkungslos war der öffentliche Druck jedoch nicht. 150 überwiegend europäische Unternehmen, darunter knapp 50 aus Deutschland, haben ein verbindliches Gebäude- und Brandschutzabkommen namens Accord unterzeichnet. Erstmals soll kontrolliert werden, ob die Textilfabriken sicher sind. Tragödien wie Rana Plaza oder Tasreen dürfen sich nicht wiederholen, sagt Marcus Schmidt, der Leiter der deutschen Entwicklungshilfeagentur GIZ in Dhaka:
    "Es war ein erster wichtiger Schritt. Aber wir sind jetzt in der Umsetzung, und jetzt kommt es darauf an, inwieweit es wirklich flächendeckend auch umgesetzt werden kann."
    Die Reste des Rana Plazas
    Die Reste des Rana Plazas (Deutschlandradio Kultur / Jürgen Webermann)
    Die ersten Kontrolleure sind inzwischen ausgerückt, haben die ersten Fabriken inspiziert. Die Ergebnisse sind wenig beruhigend, sagt Brad Loewen, der Chefkontrolleur von Accord.
    "Die Brandgefahr ist in vielen Fabriken sehr hoch, weil die Stromleitungen schlecht verlegt sind. Der Feuerschutz ist unzureichend. Und oft gibt es auch gravierende Baumängel wie in Rana Plaza. Die Fabriken stehen zwar noch, aber es muss nun schnell gehandelt werden, um die Gebäude zu stabilisieren."
    Fabriken mit Baumängeln müssten geschlossen werden
    Brad Loewen ist Amerikaner, groß gewachsen, mit kantigem Kinn und ergrautem Haar. Ein Mann mit klaren Vorstellungen. Er und seine Leute werden nun reihenweise blaue Briefe an die Fabriken verschicken, mit der Aufforderung, die Mängel zügig zu beheben. In vielen Fällen wird das kein Problem sein, meint Loewen, etwa wenn Stromleitungen nicht ordentlich verlegt wurden oder Feuerschutztüren fehlen. Grundlegende Baumängel sind dagegen nicht so leicht zu beheben. Größere Investitionen werden erforderlich sein, sagt er, sonst müssen Fabriken geschlossen werden.
    "In allen Fabriken muss etwas getan werden, in allen. Und da sind zunächst natürlich die Besitzer gefragt. Die Besitzer stehen in der Pflicht, ihnen gehört schließlich das Gebäude. Aber auch die ausländischen Auftraggeber, die Modefirmen sind verpflichtet, ausreichende Ressourcen bereit zu stellen. Sie können sich nicht einfach aus dem Staub machen, die Fabriken müssen sicher gemacht werden."
    Die Fabrik Tung Hai im Zentrum Dhakas, verborgen hinter hohen Eisentüren. An altertümlichen Maschinen werden hier Strickpullover und Leggings für Europa hergestellt. Wichtigster Kunde ist die irische Modekette Primak.
    Sicherheit wird bei Tung Hai inzwischen groß geschrieben. Vor einem Jahr brach ein Feuer im Lager aus, niemand bemerkte es, acht Menschen starben, darunter der Geschäftsführer. Er ist auf überlebensgroßen Fotos zu sehen, die in den Fluren der Fabrik aufgehängt sind. Wir vermissen ihn sehr, sagt Abdul Saddat, der amtierende Geschäftsführer:
    "Die Fabrik wurde geschlossen. Das war eine sehr schwierige Zeit, wir mussten sehr hart kämpfen, aber wir haben es geschafft, haben alles erneuert. Die Auftragslage ist wieder stabil, wir sind auf einem guten Weg."
    Aktivisten verschiedener Organisationen nehmen in Berlin an einer Aktion zum Jahrestag des Fabrikeinsturzes in Rana Plaza, Bangladesch teil.
    Aktivisten verschiedener Organisationen nehmen in Berlin an einer Aktion zum Jahrestag des Fabrikeinsturzes in Rana Plaza, Bangladesch teil. (picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm)
    Den Brandschutz hat Tung Hai inzwischen grundlegend modernisiert, sagt Saddat, die Elektroinstallationen wurden erneuert, Brandschutztüren eingebaut, eine Sprenkleranlage und Videoüberwachung sind in Planung. Das alles ist nicht ganz billig, sagt er, aber wir machen das. Unsere Fabrik soll sicher sein. - Seit dem Einsturz von Rana Plaza legen auch die Abnehmer in Europa großen Wert auf Sicherheit:
    "Alle Kunden fragen inzwischen danach, ist die Fabrik auch sicher. Vor einem Jahr hat das keinen interessiert, aber jetzt sagen sie uns: Ihr müsst das machen und das machen. Auch wenn es teuer ist, das spielt keine Rolle."
    Die großen Modekonzerne haben die Macht
    Zwei Fabriken wurden bereits geschlossen, wegen grober Sicherheitsmängel, mehrere tausend Näherinnen wurden arbeitslos. Weitere könnten folgen, fürchtet Atiqul Islam, der Präsident des bengalischen Verbands der Textilindustrie. Die Zinsen sind hoch, sagt er, vielen heimischen Unternehmen fehlt das Geld, um größere Investitionen zu tätigen. Und die Gewinnmargen schrumpfen. Denn die westlichen Einkäufer drücken die Preise.
    "Die großen Modekonzerne haben die Macht, sie setzen die Preise. Und sie wollen immer weniger bezahlen. Sie sagen: Wir bezahlen drei, vier Prozent weniger als letztes Jahr. Das ist für uns ein großes Problem."
    Gisela Burckhardt von Femnet sieht das ähnlich. Die großen Modekonzerne redeten zwar viel von sozialer Verantwortung und fairen Preisen, sagt sie, die Praxis sehe aber ganz anders aus.
    "Mir hat ein Auditor erzählt, dass gerade im letzten Jahr wieder 40 Cent weniger pro Kleidungsstück bezahlt wird. Das heißt: Die Einkäufer drücken die Preise. Und natürlich kann man nicht auf der einen Seite die Preise drücken und dann erwarten, dass die Fabrikbesitzer höhere Löhne bezahlen. Wie sollen die das denn machen."
    Die Textilfabrik Tuba im Zentrum Dhakas. Ein schnörkelloser Betonbau, acht Stockwerke hoch. Im Erdgeschoss sind Büros untergebracht. In den oberen Etagen surren die Nähmaschinen.
    Die Luft ist heiß und stickig. Dunkelgrüne und blaue Stoffe türmen sich. Dazwischen sitzen dicht aneinandergedrängt junge Frauen auf weißen Holzbänken, die Köpfe über große graue Nähmaschinen gebeugt. Niemand redet, auch die acht bärtigen Männer am Rand nicht, die die Arbeit der Frauen mit ernsten Mienen überwachen.
    1200 Menschen arbeiten in der Fabrik, die meisten davon sind Frauen. Sie nähen Hemden und T-Shirts für Bekleidungshäuser in Europa. Ein Mitarbeiter im fünften Stock weist auf einen Stapel T-Shirts, schwarz-weiß gemustert. Die sind für Lidl, sagt er stolz, die deutsche Supermarktkette.
    Juleta ist 30 Jahre alt, das hagere Gesicht von einem orangefarbenen Kopftuch umhüllt. Während der Arbeit schiebt sie das Tuch vor den Mund, um sich vor der staubigen Luft zu schützen. Seit zwölf Jahren arbeitet sie in der Textilindustrie.
    "Ich komme aus einer sehr armen Gegend. Dort gibt es keine Arbeit. Meine Familie hatte wenig Geld, und als mein Vater starb, musste ich meiner Mutter und meinen Geschwistern helfen. Deshalb ging ich nach Dhaka, um in der Textilindustrie zu arbeiten."
    Er sagt, dass seine Kosten um 70 Prozent gestiegen sind, die Einkaufsmanager aus dem Westen aber zu Preiserhöhungen nicht bereit sind.
    Shohag, der Besitzer einer Textilfabrik in Dhaka (Deutschlandradio Kultur / Jürgen Webermann)
    Acht bis zehn Stunden arbeitet sie täglich, sechs Tage in der Woche, manchmal auch sieben, je nach Auftragslage. "Eine anstrengende Arbeit, aber mir gefällt der Job", sagt Juleta. Vor zehn Jahren hat sie als Hilfsarbeiterin angefangen, inzwischen zählt sie zu den erfahrenen Fachkräften, was sich auch im Lohn widerspiegelt. Sie verdient inzwischen 8 bis 9000 Taka im Monat. Das sind umgerechnet 80 bis 90 Euro.
    "Es ist nicht einfach, damit über die Runden zu kommen. Dhaka ist eine teuere Stadt, die Preise steigen. Die Hälfte meines Lohns muss ich für die Miete ausgeben, dann bleibt kaum noch genug, um das Essen zu bezahlen. Und ein bisschen Geld muss ich ja auch noch meiner Mutter schicken, die auf meinen Sohn aufpasst."
    Nazma Akter nickt. Sie kennt die Leidensgeschichten der Näherinnen. Die 40jährige Gewerkschaftsführerin fing selbst mit elf Jahren in einer Textilfabrik an zu arbeiten. Der Vater verkaufte Gemüse, die Mutter arbeitete als Näherin. Doch das Geld reichte nicht für die neunköpfige Familie. Deshalb musste sie mithelfen. Ihr erstes Monatsgehalt betrug 2 Euro 50.
    "Ich war ein Kind, ich wollte spielen und zur Schule gehen. Aber ich musste wie ein Erwachsener arbeiten, mit elf Jahren 12, 15 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche, ohne Pause. Das war meine Kindheit."
    Auch von 53 Euro im Monat kann man in Dhaka nicht leben
    Einiges hat sich seitdem geändert. Der Mindestlohn in der Textilbranche wurde vor vier Monaten erhöht, von 30 auf umgerechnet 53 Euro im Monat. Ein wichtiger Schritt, sagt Nasma. Doch auch von 53 Euro im Monat kann man in Dhaka nicht leben. Deshalb müssen nach wie vor viele Kinder in den Fabriken schuften, um den Familien das Überleben zu sichern.
    "Viele fangen mit 14, 15 Jahren an, aber die meisten halten den Job nur 20 Jahre durch, bis sie 45 sind. Weil die Arbeit so schwer ist. Die Arbeitszeiten sind zu lang, viele verdienen so wenig, dass sie sich nicht richtig ernähren können, es gibt Übergriffe gegen Frauen, es fehlt an sauberem Trinkwasser. Es gibt so viele Probleme, die wir lösen müssen."
    Nazma Akter zählt zu den bekanntesten Frauenrechtlerinnen im Land, kampferprobt und unbeugsam, vielfach dekoriert mit internationalen Preisen für ihr Engagement. Ein Vorbild für junge Frauen in Bangladesch, für ihre Rechte zu kämpfen.
    "In der Vergangenheit war es gefährlich, in einer Gewerkschaft zu sein, man konnte seinen Job verlieren. Doch jetzt haben wir keine Angst mehr."
    Sagt Marzina. Sie ist 24 Jahre alt, steht barfuß im Büro des Geschäftsführers von Tuba Limited, neben ihr steht die gleichaltrige Schahin. Beide sind Näherinnen, Rahman, der dritte im Bunde, ist 26. Ein Zentimetermaß baumelt um seinen Hals. Er ist für die Qualitätskontrolle zuständig, schaut nach, ob alle Nähte ordentlich verarbeitet sind.
    Vor drei Monaten haben sie einen Betriebsrat gegründet. In einem Land wie Bangladesch ein fast schon rebellischer Akt:
    "Es gibt eine Menge Probleme hier. Unser Gehalt wird nicht pünktlich ausgezahlt, manchmal müssen wir wochenlang darauf warten. Wir wollen auch, dass die Überstunden bezahlt werden. Und dass wir auch mal Urlaub bekommen. Wir brauchen auch Geld, wenn wir mal krank werden. Wir machen hier wirklich einen anstrengenden Job, aber dann muss er auch ordentlich bezahlt werden. Wir lassen uns das nicht länger gefallen."
    Faruk Hussein, der Geschäftsführer steht an der Wand, und hört schweigend zu. Er hat derzeit ganz andere Probleme. Der Besitzer der Fabrik ist in Untersuchungshaft. Ihm gehörte das Tasreen-Gebäude, das vor anderthalb Jahren abbrannte.
    "Zwei, drei Wochen halten wir noch durch, wenn er dann immer noch in Haft ist, dann müssen wir die Fabrik schließen. Denn die Banken geben uns kein Geld mehr."
    Das sorgt auch in der Belegschaft für Unruhe. Natürlich muss er verurteilt werden, wenn er schuldig ist, sagt Marzina. Aber sie hat auch Angst um ihren Job:
    "Wir brauchen diese Arbeit, wovon sollen wir denn sonst leben. Es gibt hier keine anderen Jobs."
    Gerade deshalb ist die Textilindustrie so wichtig für Bangladesch, sagt Srinivas Reddy, der Direktor der Arbeitsorganisation ILO. Sie ist der Schlüssel, um die Armut im Land zu reduzieren:
    "Bangladesch bietet sich hier eine einzigartige Chance. Es gibt große Möglichkeiten, die Produktivität in der Textilindustrie zu erhöhen, durch modernere Maschinen und bessere Ausbildung. Dann könnten höherwertige Waren produziert und höhere Löhne gezahlt werden. Es wäre ein Weg, der Millionen von Menschen die Chance böte, der Armut zu entfliehen."
    Klingt einfach – und ein bisschen naiv. Unternehmen und Regierung haben bislang wenig Sinn für sozialen Fortschritt erkennen lassen, und die Gewerkschaften sind noch schwach. Doch Srinivas Reddy ist kein Träumer. Er kennt die Probleme der Textilindustrie, aber er weiß auch: Eine andere Chance hat Bangladesch nicht.