Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Barbara Honigmann: „Georg“
Ein Tausendsassa-Leben

Barbara Honigmann ist eine Meisterin des biografischen Porträts. Nachdem sie 2004 schon ein Buch über ihre Mutter veröffentlicht hat, legt sie mit "Georg" nun ein Vaterbuch vor. Die Geschichte eines überaus schillernden Mannes, der Kommunist, Spion, Journalist und Frauenliebhaber war.

Von Terry Albrecht | 30.04.2019
Buchcover: Barbara Honigmann: „Georg“
Buchcover: Barbara Honigmann: „Georg“ (Buchcover: Carl Hanser Verlag, Foto: imago stock&people / Rudolf Gigler)
Barbara Honigmann ist die Autorin des biografischen Porträts. Sei es, dass sie die Menschen in ihrer Straße in Straßburg, wohin sie nach der Ausreise aus der DDR 1984 zog, beschreibt oder sich der Biografie ihrer Mutter annähert, einer Österreicherin, die als überzeugte Kommunistin in London lebte. "Schreiben heißt ja wiederfinden. Die verlorene Zeit zum Beispiel oder sich selbst", sagt sie. An einer Stelle ihres nun erschienenen Buches "Georg", einer biografischen Annäherung an ihren Vater, bedauert Barbara Honigmann, dass er sein Leben nicht selbst aufgeschrieben habe. Zum Glück, kann man da nur sagen, denn so hat es die Tochter getan. Entstanden ist die Geschichte eines Mannes, der zwischen 1903 und 1984 lebte. Es ist nicht ihr erstes Vaterbuch. Schon in ihrer Erzählung "Eine Liebe aus dem Nichts" von 1991 nahm die Tochter die Beerdigung ihres Vaters 1984 zum Anlass, um in der dritten Person das gemeinsame Leben in der Vergangenheit zu rekapitulieren. In "Georg" wählt Barbara Honigmann nun erneut die Perspektive einer frei erfundenen, quasi neutralen Erzählerin mit dem Namen Anna.
Freud lässt grüßen: Die neutrale Erzählerin heißt "Anna"
So schafft die Autorin eine Distanz zu der Geschichte ihres Vaters, ohne die Nähe, die sie zu ihm und seinem Schicksal empfindet, zu verbergen. Der Vater ist Georg Honigmann, der als jüdischer Journalist vor dem Terror des Nationalsozialismus nach England flüchtete, dort Schutz fand und nach dem Zweiten Weltkrieg in die DDR ging, wo er in die Kulturelite aufstieg. Barbara Honigmann erzählt dessen schillernde Biografie, wie sie nur das 20. Jahrhundert hervorbringen konnte, nicht als chronologisch erinnerte Geschichte. Vielmehr folgt ihre Dramaturgie den eigenen Einfällen. Die Erzählung beginnt mit einer recht nüchternen Beschreibung.
Georg Honigmann heiratete immer Frauen um die 30
"Kurz nach seinem sechzigsten Geburtstag zog mein Vater in ein möbliertes Zimmer, Toilette und Bad auf dem Gang. Um zu telefonieren musste er hinunter zur 'Landlady', wie er sich ausdrückte. Die 'Landlady' hatte ihn als erstes eine Hausordnung unterschreiben lassen, in der sie ihm Krach und Besuch nach 22 Uhr verbot."
Das klingt nach dem Altersruhesitz eines Mannes, der sein Leben gelebt hat, und ist doch nur eine Zwischenstation in Georgs Vita, der die Frauen liebt, aber zu einer dauerhaften Bindung unfähig ist und auch nach dieser Einkehr wieder heiraten wird. Weil seine Mutter frühzeitig mit knapp über dreißig starb, hat er einen Tick entwickelt.
"Mein Vater heiratete immer dreißigjährige Frauen. Er wurde älter, aber seine Frauen blieben um die dreißig. Die erste, die zweite, die dritte und die vierte Frau. Sie hießen Ruth, Litzy, das war meine Mutter, Gisela und Lieselotte."

Über Litzy, ihre Mutter, hat Barbara Honigmann 2004 bereits das Buch "Ein Kapitel aus meinem Leben" geschrieben. Auch hier tauchte ihr Vater schon am Rande auf. In "Georg" porträtiert sie nun einen Mann, dessen jüdische Vorfahren Mediziner und Banker waren. Der Vater ihres Vaters, ein Arzt und Anhänger der ganzheitlichen Erziehungsmethode, schickte Georg als Kind auf die Odenwaldschule.
Lehranstalt Odenwaldschule
"Man war dann für sein ganzes späteres Leben verdorben, sagte mein Vater jedes Mal, wenn er von der Odenwaldschule sprach und er sprach oft von ihr. Klaus Mann, der auch einen Teil seiner Schulzeit dort verbrachte, hat es so ähnlich beschrieben: 'Dies zugleich unschuldig-fröhliche und problematisch-spannungsreiche Zusammenleben junger Menschen in völliger Freiheit, weit weg von den Konventionen der Stadt, des Elternhauses. Wer den Zauber dieser Daseinsform einmal gekostet hat, dem bleibt die Sehnsucht danach im Blut.'"
Georg wurde nach der Schulausbildung Journalist bei der "Vossischen Zeitung". Die "Vossische Zeitung" war in den 20er und frühen 30er-Jahren eine der wichtigsten liberalen Berliner Tageszeitungen. Für sie arbeitete unter anderem etwa auch der Schriftsteller Kurt Tucholsky, der für die "Vossische Zeitung" als Korrespondent nach Paris ging, während Anfang der 30er-Jahre Georg Honigmann die Korrespondentenstelle in England übernahm. Als der Zweite Weltkrieg begann, kam Georg Honigmann wie viele in England lebende Deutsche, obwohl er die britische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, in ein Internierungslager nach Kanada. Dort wurde er zum Kommunisten. Nach seiner Rückkehr nach England betrieb er gemeinsam mit seiner Frau Litzy Spionage für die Sowjetunion. Diese radikale Hinwendung ihres Vaters zum Kommunismus kommentiert die Tochter entsetzt so:
"Unverständlich war mir noch heute die Entscheidung Litzys und ihres Freundeskreises, in die sich auch Georg hatte hineinziehen lassen oder von der er doch wenigstens Kenntnis gehabt haben musste, dieses so bewunderte Land zu hintergehen und es für die Sowjetunion auszuspionieren."
Journalist und Kabarett-Direktor in der DDR
Georg und Litzy siedelten nach Kriegsende in die DDR über. Zunächst arbeitet er als Journalist, später dann als Filmproduzent, der für die DEFA die satirische Fernsehserie "Das Stacheltier" entwickelte. In den 60er-Jahren war Georg Honigmann der Direktor des über die DDR-Grenzen hinaus bekannten Kabaretts "Die Distel", das noch heute existiert. Er lebte das Leben eines Bohemiens im Sozialismus. Nach der Ehe mit Litzy heiratete Georg Honigmann 1956 die Schauspielerin und Brecht-Interpretin Gisela May, eine Ikone der DDR-Bühnen, im Buch nur "die Schauspielerin" genannt. Barbara Honigmann setzt diese Mosaiksteinchen eines bewegten Lebens zusammen, ohne den Anspruch darauf ein vollständiges Bild abzugeben. Zugleich weist sie auf die Lücken hin, die ein solches Porträt haben muss, etwa bei der nur vom Hören-Sagen erzählten Geschichte, ihr Vater - wie auch ihre Mutter - hätten auch schon in England für den sowjetischen Geheimdienst spioniert.
"Die Erinnerungen, die ich an ihn habe und in denen er mit mir weiterlebt, stammen aus einer anderen, viel späteren Zeit. Aber auch die Erzählungen, die Sagen seines Lebens, über deren Wahrheit ich natürlich gar nichts weiß, haben sich in meine Erinnerungen an ihn geschoben."
Die erinnerte Geschichte des Vaters hat notwendig Lücken
Barbara Honigmann, die zum Teil bei ihrer Mutter und zum anderen Teil bei ihrem Vater aufgewachsen ist, gelingt es, von der besondere Nähe, die sie für ihren Vater versspürt hat, genauso eindringlich zu erzählen, wie von der Seite ihres Vaters als Lebemann, die ihr immer fremd geblieben ist. Zudem ist "Georg" eine autobiografische Erzählung, in der sie etwa über die Folgen schreibt, die die Trennung ihrer Eltern für sie mit sich brachte.
"Während der folgenden Jahre hatte ich sozusagen vier Eltern und zwei verschiedene Leben, unter der Woche bei meiner Mutter und ihrem Mann, den ich Onkel nannte, und am Wochenende bei meinem Vater und seiner neuen Frau, der Schauspielerin, die ich bei ihrem Vornamen Gisela nannte, mein Leben als begleitendes Theaterkind."
Eine dieser kunstvoll und einfühlsam erzählten Erinnerungen im Wechselspiel zwischen Distanz und Nähe, ist eine Episode, in der sie eine Autofahrt mit ihrem Vater beschreibt, der eigentlich lieber einen Sohn statt einer Tochter gehabt hätte und Barbara Honigmann daher als "Mann" bezeichnete.
"Solange ich zurückdenken kann, bin ich mit meinem Vater Auto gefahren, zuerst war es ein IFA F9 Cabriolet der Marke Wartburg, in dem wir mit offenen Verdeck über die Autobahn sausten. Allerdings hatte der IFA F9 des Öfteren einen "Platten" oder lief nur "auf zwei Töpfen", aber "wir Männer" waren ein eingespieltes Team beim Radwechsel und Zündkerzenaustausch und stoppten jedes Mal die Zeit, die wir brauchten, um dann meiner Mutter stolz unsere Rekorde mitzuteilen, die das allerdings sehr wenig interessierte."
Der Vater bezeichnete die Tochter als "Mann"
In der letzten Zeit setzen sich eine Reihe von Autoren wie András Forgách oder Autorinnen wie Natascha Wodin in ihren Büchern mit der Biografie ihrer Eltern auseinander. Sie suchen dabei auch immer die Spuren der eigenen Herkunft in der unbekannten Elternwelt. Auch Barbara Honigmanns Vaterbuch taucht nicht nur tief in die Geschichte der von Krieg, Exil und dem Intellektuellenmilieu in DDR geprägten Biografie ihres Vaters ein, sie macht die Prägungen, die diese Lebensgeschichte für sie selbst hat deutlich und somit zu einem bewegend zu lesenden Buch.
Barbara Honigmann: "Georg"
Hanser Verlag, München. 160 Seiten, 18 Euro.