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Bastienne Voss: "Grünauge sieht dich"
Ideologie vs. Bauchgefühl

Etliche DDR-Fluchtgeschichten sind anlässlich des 30. Mauerfall-Jubiläums erzählt worden - keine klingt wie die von Iris Landowski. Über sie schreibt die Autorin und Schauspielerin Bastienne Voss einen spannungsreichen Wenderoman, in dem niemand nur Täter oder Opfer ist.

Von Miriam Zeh | 19.12.2019
Die Schauspielerin und Schriftstellerin Bastienne Voss
Bastienne Voss ist Schriftstellerin und Schauspielerin (Picus Verlag/ Laura Kuckartz)
Es gehört zu den tröstlichen Eigenschaften der Menschheit, dass Heranwachsende mit denselben inneren und zwischenmenschlichen Konflikten beschäftigt sind, ganz gleich in welcher Zeit und unter welchem Regime sie aufwachsen. So sitzen auch Iris und Anja im Spätsommer 1989 in einem Klassenzimmer in Ostberlin, angeödet von den endlosen Monologen ihres Geschichtslehrers. Was interessiert sie die Französische Revolution? Was kümmert sie der "unaufhaltsame Fortschritt der menschlichen Gesellschaft", von dem der Lehrer redet? Es gibt im Alltag der Mädchen wahrlich Wichtigeres.
"Anja fand, dass das alles langweilig war, weil viel zu lange her, aber nur vier Jahre war es her, dass Iris Landowski und Baby Kaminsky im Ferienlager als festes Paar gegolten hatten. Sie war damals zwölf und Baby 14 gewesen, und als sie wieder in Berlin waren, da war die Sache irgendwie stecken geblieben, und jetzt hatte Anja ein Auge auf Baby geworfen, und Baby anscheinend ein Auge auf Anja."
Teure Geschenke aus dem Westen
Über Moritz alias "Baby" Kaminsky will Iris endgültig hinwegkommen. Schließlich ist sie 16, fast 17 sogar. Und sie fühlt sich erwachsen – erst recht, seitdem der Vater sie in seine Staatsfunktion eingeweiht hat. Nach der Trennung ihrer Eltern vor zehn Jahren lebt Iris bei ihm, in einer großen schönen Wohnung mit Flügeltür, Parkett und Balkon.
Lange weiß sie nicht, warum die Mutter damals ausziehen musste. Der Vater fährt weiterhin oft auf Dienstreisen. Manchmal bekommt Iris teure Geschenke aus dem Westen. Und eines Tages darf die Tochter sogar mit ins Büro. Dort begreift sie: Leo Landowski arbeitet gar nicht im Außenhandel, wie er immer behauptet hatte. Er ist Wirtschaftsspitzel bei der Stasi. Selbstverständlich muss Iris darüber Stillschweigen bewahren.
"Und seitdem verstand sie mehr als die meisten. Man musste ein Land schützen, vor allem wenn es klein und verwundbar war. Selbst Länder, die nicht klein und verwundbar waren, schützten sich. Amerika schützte sich, und wie sich Amerika schützte. Amerika, die unverwundbare Weltmacht. Kuckuck. Sie fand das mit dem Schützen logisch, absolut logisch, und sie war dafür."
Die Firma Horch und Guck
Bastienne Voss‘ Wenderoman kommt ohne plakative Zuschreibung von Täter- und Opferrollen aus. Die Berliner Autorin zeigt vielmehr, dass auf einer alltäglichen und zwischenmenschlichen Ebene alles wesentlich komplizierter ist. Bewundert Iris anfangs noch die staatstragende Rolle des Vaters, gerät sie bald selbst in die Zwänge der Staatssicherheitsbehörde. Als sie den Vater auf einer Dienstreise begleitet, verliebt sie sich in einen 20 Jahre älteren Mann, in Henry Weber. Es ist ausgerechnet jener westdeutsche Nuklearspezialist, den ihr Vater in die DDR abwerben soll.
Naiver Weise versucht das ungleiche Paar, seine Affäre zu verheimlichen. Doch die Augen und Ohren der "Firma Horch und Guck" sind überall. Iris und Henry werden beim gemeinsamen Wochenende in Prag fotografiert. Das bringt auch Iris' Vater in Bedrängnis. Sein Vorgesetzter erpresst ihn. Will er Sanktionen für sich und seine Tochter vermeiden, muss Leo Landowski seine minderjährige Tochter zur Kooperation mit der Stasi überreden. Iris soll Henry Weber weiterhin treffen, ihn aber im Auftrag ihres Landes ausspionieren.
"Sie fragte: ‚Was ist dir wichtiger? Ich oder deine Arbeit?‘
‚Wichtiger‘, Landowski machte eine Pause, ‚das ist das falsche Wort. So kann man die Frage nicht stellen.‘
‚Und wie kann man sie stellen?‘
‚Das eine darf das andere nicht stören.‘ Er umfasste ihre Schulter und zog sie sacht zu sich heran."
Weit weg von den wirklichen Themen
Bastienne Voss erzählt ihren spannungsreichen Wenderoman aus drei Perspektiven. Die einzelnen und bereits in sich kunstvoll komponierten Kapitel alternieren zwischen den Sichtweisen der 16-jährigen Iris, ihres Vaters und ihres liebeskranken schwäbischen Atomphysikers Henry. Erzähltempi variieren, detailreiche Beobachtungen wechseln sich ab mit zeitraffend introspektiven und pointierte Dialoge komplettieren die einnehmende Atmosphäre. Bastienne Voss beweist, dass sie die gesamte Klaviatur des Erzählens beherrscht.
Der Titel ihres dritten Romans "Grünauge sieht dich" spielt an auf die Volkspolizei der DDR in ihren grünen Uniformen. Im Erzählen findet Voss die Menschen hinter den Behörden und Befehlen, und zwar im Westen wie im Osten. So formuliert Henry Weber seine Kritik am kapitalistischen Wissenschaftssystem, das von ihm verlangt, die Unbedenklichkeit radioaktiver Strahlung für den menschlichen Körper zu beweisen. Ebenso wie Stasi-Mitarbeiter Leo Landowski auf seinem Arbeitsweg im Stillen Kritik am sozialistischen System übt.
"Sie waren weit weg von den wirklichen Themen. Sie waren gar nicht mehr dabei oder waren nie – aber so weit wollte er nun doch nicht gehen – dabei gewesen. Sie hockten seit Jahren mit ihren ganzen schönen Theorien im Gepäck unter einer Glocke und hauten einander Begriffe um die Ohren. Triebkraft, Wachstum, Fortschritt, und jeden Tag ein unbeschwertes "Guten Morgen, Genosse Oberst‘".
Schließlich stand sie am Grenzübergang
Bis in das nächtliche Chaos des 9. Novembers 1989 reicht Bastienne Voss' Geschichte. Alle drei Hauptfiguren erleben die Grenzöffnung als Erschütterung. Dabei ist die Autorin sensibel genug, aus ihrer späteren und wissenden Erzählposition, nicht bis ins Detail vorwegzunehmen, was genau hier wie umgewälzt wird. Sie respektiert ihre Figuren und damit auch die Grenzen ihrer Perspektiven. So bleibt die Irritation, mit der Iris Landwoski die geschichtsträchtige Nacht des 9. November erlebt, kraftvoll unkommentiert.
"Schließlich stand sie am Grenzübergang Invalidenstraße und sah zu, wie die Leute gingen. Alle gingen, und niemand kam zurück. Kam denn niemand zurück? Jemand zog sie am Ärmel: "Komm, komm rüber!" Aber sie blieb. Sie kam nicht rüber. Sie blieb genau hier stehen."
Bis Iris an der Grenze steht und bleibt, wird eine Flucht vereitelt, ein Familiengeheimnis gelüftet werden und eine unmögliche Liebe erloschen sein. Nicht immer leiten Bastienne Voss‘ Figuren dabei Ideologien und Weltgeschichte, sondern oft einfach Liebe, ein Bauchgefühl oder die eigene Dummheit. So entsteht ein Wenderoman, in dem sich viele typische Motive finden.
Doch eingebettet in individuelle Konturen gestalten sie sich alle ein wenig anders als schon so oft zitiert. Bastienne Voss führt ihren Leserinnen damit die Stärke vor Augen, die Ambivalenz der Literatur im Vergleich zum Geschichtsbuch. Und die Autorin beweist auch, dass aus diesem gerade 30 Jahre alt gewordenen Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte noch vielen Geschichten zu erzählt sind.
Bastienne Voss: "Grünauge sieht dich"
Picus Verlag, Wien. 254 Seiten, 24 Euro.