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Bataille, Nietzsche und der Wille zur Chance

Den 100. Geburtstag von Friedrich Nietzsche im Jahr 1944 wollte außer den Nazis in Weimar niemand feiern, schon gar nicht in Frankreich. Georges Bataille war der einzige, der es wagte Nietzsche zu retten, als die Nazis ihn noch für sich okkupiert hatten. Gleich zwei Bücher veröffentlichte der französische Schriftsteller und Philosoph damals.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 11.01.2006
    'Ich bin Nietzsche'. Nicht Nietzsche sagt das. Aber wer sonst? Georges Bataille! Wie kommt er zu diesem Satz? Sein deutscher Übersetzer und Kommentator Gerd Bergfleth konstatiert:

    " Bataille setzt sich von der gesamten Nietzsche-Rezeption ab, insofern als er die gesamte Nietzsche Forschung vom Tisch wischt und sagt, im Grunde, man kann Nietzsche nur authentisch lesen, wenn man Nietzsche ist. Also er verwandelt sich so sehr Nietzsche an, dass er sagen könnte, ich bin Nietzsche. Deshalb spricht er im Nietzsche-Buch von seiner Gemeinschaft mit Nietzsche und betrachtet sein Buch immer als diese Gemeinschaft."

    Das überrascht um so mehr, als sich das jetzt auf Deutsch erschienene Buch "Nietzsche und der Wille zur Chance" gar nicht so sehr mit Nietzsche zu befassen scheint. Der dritte und längste Teil enthält sogar ein Tagebuch aus dem Jahr 1944, also aus der Zeit der Befreiung Frankreichs und Europas vom nationalsozialistischen Deutschland. Und doch gibt es einen formalen, nicht unwesentlichen Bezug zu Nietzsche. Dessen 100. Geburtstag in jenem Jahr wollte außer den Nazis in Weimar niemand feiern. Bataille war der einzige, der es wagte Nietzsche zu retten, als die Nazis ihn noch für sich okkupiert hatten, der daher zum Geburtstag gleich zwei Bücher veröffentlichte, das andere, schon länger auf Deutsch vorliegend unter dem bezeichnenden Titel "Wiedergutmachung an Nietzsche" und eben "Nietzsche und der Wille zur Chance". Das haben nicht alle verstanden. Manche halten Bataille daher heute noch fälschlicherweise für einen Protofaschisten, was nach den wiederkehrenden Nietzsche Renaissancen der letzten Jahrzehnte einigermaßen merkwürdig anmutet.

    1944 sich zu Nietzsche zu bekennen, ja sich mit Nietzsche zu identifizieren, war jedenfalls ein mutiger Akt. Ja, Bataille hält Nietzsche für seinen Zwillingsbruder, Nicht nur in dessen Art und Weise will auch er philosophieren. Gerd Bergfleth meint vielmehr:

    " Die deutsche Nietzsche-Forschung betrachtet Nietzsche als totes Objekt, während Bataille sich geradezu berauscht an dieser Passion des Menschen Nietzsche."

    Bataille denkt ähnlich leidenschaftlich und auf das konkrete Leben des Menschen bezogen wie Nietzsche, ein Leben, das vor allem nicht seiner tragischen und dramatischen Momente entbehrt. Der Mensch lebt, so die Einsicht Nietzsche, die Bataille aufgreift, in einer sinnlosen Welt, in der ihm keine Zwecke vorgegeben sind, die er sich höchstens selber suchen muss. Insofern erweisen sich Nietzsches und Batailles Philosophie als ein Plädoyer für die Freiheit des Menschen, der sein Leben selber gestalten muss.

    Obgleich Bataille die Intentionen und Stile Nietzsches aufgreift und fortsetzt, betet er ihn doch keineswegs blind nach. Allein der Titel des Buches deutet eine diskrete Absetzbewegung an: "Nietzsche und der Wille zur Chance". Damit distanziert sich Bataille von einem Nietzsche-Verständnis, das in dessen zentraler Konzeption des Willens zur Macht einen Herrschaftsanspruch ausmacht, der sich skrupellos der Gewalt bedienen darf - ein Verständnis, das ja gerade durch das damals von Nietzsches Schwester aus dem Nachlas zusammengestellte und dabei fleißig manipulierte Werk "Der Wille zur Macht" befördert schien. Gerd Bergfleth bemerkt:

    " Einsichtig ist dass der Wille zur Chance den Willen zur Macht aushebelt sofern die Chance bedeutet, dass ich nicht über mich verfüge. Der Wille zur Chance besagt insofern, die Unverfügbarkeit des Lebens und insofern wiederum grundsätzliche Freiheit des Menschen."

    Doch hat die spätere Forschung vor allem durch die Neuedition von Nietzsches Nachlas das Nietzsche-Bild erheblich zurechtgerückt. Der Wille zur Macht legitimiert schon für Nietzsche dann gerade keine Herrschaftsansprüche, sondern entzieht diesen ihre Grundlagen. Kein Herrschender darf zugeben, dass seine Macht auf bloßer Willkür beruht. Diese muss vielmehr dem Allgemeinwohl dienen. Genau solche Täuschungen aber demaskiert Nietzsches Begriff des Willens zur Macht, den aus heutiger Perspektive Batailles Wille zur Chance eher fortschreibt, als ihn abzuwandeln.

    " Also ich sehe in Batailles Chance vor allem, dass die Welt nicht sinnvoll geordnet ist, Die Chance ist das Spiel der Welt."

    Wo Bataille in der Tat an Nietzsche sowohl ziemlich genau anschließt und ihn dabei auch überschreitet, das betrifft Nietzsches berühmte These vom Tode Gottes. Auch für Nietzsche heißt das nicht, dass Gott nicht existiert, aber dass Gott im Leben keine Rolle mehr spielt, höchstens noch eine beiläufige, die dem Gott noch weniger gerecht wird. Doch was Nietzsche ohne Bedauern kalt diagnostiziert, um nun zu neuen, wiewohl nur noch irdischen Ufern aufzubrechen, das hat sich im Denken von Bataille doch tiefer eingebrannt. Bataille bringt ein Paradox auf den Begriff, nämlich das Göttliche in einer Welt nicht aufzugeben, in der Gott selbst weitgehend verdrängt wurde - was wahrscheinlich viele tun, aber ohne es sagen zu dürfen. Wie kann man dann noch am Göttlichen festhalten? Bataille ficht das nicht an:

    " Also Gott ist tot sagt Bataille. Über Nietzsche hinausgehend, heißt, Gott ist abwesend, Gott ist uns vollkommen unbekannt. Aber dieses Unbekannte ist. Wie wissen wir nicht. Wir haben keinen Bezug zur Transzendenz, alles ist immanent und trotzdem sagt die Atheologie: wenn Gott tot ist, lebt das Göttliche."

    "Atheologische Summe III" lautet ja der Untertitel dieses Nietzsche-Bandes und schließt damit deutlich an die "Summa theologica" des Thomas von Aquin an, der wie kein anderer das katholische Weltbild bis heute fundiert hat. Bataille setzt also dem Atheismus eine Atheologie entgegen. Der Gott ist fern, abwesend. Dass der Mensch über ihn kein Wissen hat, daraus folgt aber nicht, dass Gott nicht existiert. Umgekehrt verweist ihn dieses Nichtwissen indes in die diesseitige Welt, an das Irdische, wo indes seine religiösen Fragen und Faszinationen erhalten bleiben. Allerdings mangelt ihnen der jenseitige Sinn. Der erste Band der atheologischen Summe unter dem Titel "Die innere Erfahrung" beschäftigt sich denn auch mit Methoden der Meditation und der Mystik, die allerdings keine Jenseitserfahrungen mehr erbringen. Doch Ekstase und Kontemplation erlebt der Mensch auch noch unter Bedingungen, wenn Gott tot ist. Gerd Bergfleth erläutert:

    " Für jeden zugänglich ist die mystische Erfahrung in der Liebe, ekstatische Liebe so dass die Erotik als ein Seitenzweig der Mystik erscheint."

    Dieser hat denn Bataille auch eines seiner berühmtesten Werke gewidmet unter dem Titel "Der heilige Eros". Die drei Bände der atheologischen Summe spielen insgesamt eine zentrale Rolle in seinem theoretischen Werk, zu dem vor allem noch sein ökonomisches Werk "Der verfemte Teil - Versuch einer allgemeinen Ökonomie" gehört. In allen diesen Bänden tauchen die zentralen Motive Batailles auf, die ihn vom zeitgenössischen Existentialismus Sartres gleichermaßen abgrenzen wie annähern, haben beide nicht von ungefähr miteinander im Konflikt gelegen: der eine der kalte Rationalist, der dem Menschen aufgibt, sein Leben selber kalkuliert in die Hand zu nehmen; der andere, der den Menschen leidenschaftlich aufruft, sich dem Leben hinzugeben und in solcher Hingabe über sich hinauszuwachsen. Müssen beide Projekte scheitern? Gerd Bergfleth bemerkt:

    Bataille denkt nicht existentiell, sondern exzessiv. Bataille ist in einem undogmatischen Sinn ein existentieller Denker.

    Georges Bataille: "Nietzsche und der Wille zur Chance.
    Atheologische Summe III"
    (Matthes & Seitz Verlag, Berlin).