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Bauen ohne Vorschriften
Viertel Kunterbunt

Niederländische Architektur, das sind nicht nur Reihenhäuser in Backstein-Optik. In einem Viertel von Almere bauen die Bewohner zum Beispiel, wie es ihnen gefällt, quasi ohne Regeln. Das "Wilde Wohnen" hat aber seinen Preis: Die Bewohner müssen das Areal selbst erschließen und dafür zahlen.

Von Kerstin Schweighöfer | 04.07.2019
Etwas verloren liegen sie in der flachen Landschaft - wie ausgestreut unter dem hohen niederländischen Himmel: das eine Haus knallblau, das andere rot. Mal aus Stahl in der Form einer Scheune, mal traditionell aus Backstein. Oder holzverkleidet wie ein Chalet aus den Schweizer Alpen. Um sie herum Wiesen mit Schafen und Obstbäumen, umgepflügtes Ackerland und frisch eingesäte Grundstücke, die noch zu Gärten werden müssen. Es hat etwas vom Wilden Westen und den ersten Siedlern Amerikas.
"Stimmt", lacht Linda Dales, die gerade ein paar Sträucher eingepflanzt hat und in Gummistiefeln durch den Mutterboden stapft. "So fühlen wir uns auch, wie Pioniere!"
Linda wohnt mit ihrem Mann im "Wilden Osten" der Niederlande, genauer gesagt in Oosterwold, einem revolutionären Neubauviertel, das seit 2014 am Stadtrand von Almere entsteht, rund 30 Kilometer östlich von Amsterdam. Hier haben sich die Dales ihren Traum vom Eigenheim erfüllt. Modell Scheune aus Stahl. Knallgelb. "So gelb wie die Sonne, die jeden Tag aufgeht", erklärt Linda.
Die Narrenfreiheit hat einen Preis: Erschließungskosten
In Oosterwold wird der traditionelle niederländische Wohnungsbau auf den Kopf gestellt. Hier haben die Bewohner nicht nur völlige Gestaltungsfreiheit und sind mit Ausnahme von Sicherheitsvorschriften wie etwa für den Brandschutz von so gut wie allen Bauvorschriften befreit.
Und damit nicht genug: Hier müssen sie auch selbst für Wasser und Strom sorgen, die Kanalisation regeln, Wege und Straßen anlegen. Denn der Eigentümer des Gebiets, die Stadt Almere, verkauft die Grundstücke unerschlossen.
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Linda Dales und Daan Fröger vor Dales' Haus in Oosterwold, das einer gelben Scheune ähnelt. (Deutschlandradio / Kerstin Schweighöfer)
Organisches Wachstum
Das jedoch geht nur in Absprache mit den Nachbarn, und deshalb müssen sich die Bauherren zu Anwohnervereinigungen zusammenschließen, erklärt Daan Fröger, der in Oosterwold zusammen mit seinem Sohn ein Bauunternehmen führt. Der 74-Jährige gehört zu den allerersten Bewohnern und ist Vorsitzender einer Anwohnervereinigung:
"Das Revolutionäre an diesem Viertel ist, dass es ohne städtebaulichen Plan entsteht. Es wächst organisch, mit jedem neuen Bewohner. Keiner weiß, wie es einmal aussehen wird. Es ist ein einzigartiges städtebauliches Experiment."
Eine Regel: 50 Prozent landwirtschaftliche Nutzung
Die Idee ist aus der Not geboren, während der Wirtschafts- und Finanzkrise, von der die niederländische Baubranche besonders hart getroffen wurde. "Was ist, wenn wir einfach einmal alles loslassen?" fragten sich die Stadtväter von Almere. "Was, wenn wir die Bürger alles selbst regeln lassen?"
Einzige Vorgabe: Da es ein grünes Viertel werden soll, muss jeder Bewohner 50 Prozent seiner Grundstücksfläche landwirtschaftlich nutzen. Mit Hühnern und Schafen wie Daan Fröger. Oder Obstbäumen wie Linda.
Die Grundstücke in Oosterwold sind begehrt, die Wartelisten lang. Und das, obwohl sich die Grundstückspreise mehr als verdoppelt haben: Beim Start 2014 kostete ein Quadratmeter noch 29 Euro, inzwischen sind es 74. Aber das sei immer noch ein Schnäppchen, so Fröger, verglichen mit rund 500 Euro, die ein Quadratmeter im Rest von Almere durchschnittlich koste.
Nachbarschaftsstreit gibt es auch hier
Dennoch ist so mancher Oosterwolder inzwischen böse aus seinem Traum erwacht: Weil er sich mit seinen Nachbarn nicht über den Verlauf der Straße einigen konnte. Denn die besitzen die Oosterwolder gemeinsam - jeder bis zum Mittelstreifen. Da komme es in den Anwohnervereinigungen schon mal zu Konflikten, weiß Fröger:
"Viele Leute schätzen auch die Erschließungskosten falsch ein, sie vergessen die archäologische Bodenuntersuchung, die kann bis zu 30.000 Euro kosten. Und dann sind die Baukosten in der letzten Zeit stark gestiegen, denn die Krise ist vorbei. Plötzlich kostet der Traum vom Eigenheim 450.000 statt wie erwartet nur 300.000 Euro."
Auch die Stadtväter im Rathaus sind inzwischen um einige Erkenntnisse reicher. Wirklich alles los- und den Bürgern überlassen, das geht nicht. Denn wer baut die Schulen und Spielplätze? Wer legt Parks und Wanderpfade an? Da konnte sich die Stadt nicht aus der Verantwortung stehlen. Und deshalb hat sie jetzt selbst ein Grundstück in Oosterwold erworben. Um darauf eine Grundschule zu bauen.