Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


"Baut neben jede Koranschule eine säkulare Schule"

Laut Reinhard Erös haben Schulen eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung des Landes. Der ehemalige Bundeswehrarzt und Gründer der Kinderhilfe Afghanistan hält zudem einen zentralen Staat in Afghanistan für einen Irrweg, plädiert für einen offeneren Dialog mit Afghanen und glaubt, dass die Probleme nur durch einen kompletten Neuanfang zu lösen seien.

Reinhard Erös im Gespräch mit Jasper Barenberg | 27.05.2009
    Jasper Barenberg: Von der derzeit größten humanitären Katastrophe weltweit spricht die Hilfsorganisation Oxfam und nach Angaben der Vereinten Nationen sind im Nordwesten Pakistans inzwischen drei Millionen Menschen auf der Flucht - viele ohne Zugang zu Lebensmitteln, zu Wasser oder medizinischer Versorgung. All das sind die Folgen einer inzwischen seit Wochen andauernden Offensive der pakistanischen Armee mit dem Ziel, die Taliban als Machtfaktor auszuschalten. Die Kämpfe zeigen aber auch, mit welcher Schärfe sich der Konflikt mit den Taliban von Afghanistan aus über die Grenze ausgebreitet hat, denn auch in Afghanistan hat sich die Lage längst dramatisch verschlechtert.
    Was bedeutet all das für die internationale Aufbauarbeit am Hindukusch? - Ich hatte vor der Sendung Gelegenheit, darüber mit Reinhard Erös zu sprechen, dem ehemaligen Bundeswehrarzt und Gründer der Kinderhilfe Afghanistan. Seit Jahren organisiert er in der Region Hilfsprojekte, auch und gerade in den besonders bedrohten und umkämpften Ostprovinzen von Afghanistan. Ich habe ihn gefragt, welche Auswirkungen die Kämpfe in Pakistan auf seine Arbeit haben.

    Reinhard Erös: Unmittelbar keine. Ich bin vor 14 Tagen erst aus Ost-Afghanistan wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Ich hatte da in den Wochen zuvor zwei neue Schulen eröffnet, Grundsteine gelegt für Waisenhäuser und für Berufsschulen. Also unmittelbare Gefährdung unserer bestehenden Projekte oder auch unserer jetzt laufenden Arbeit sind nicht zu beklagen oder sind nicht zu vermerken. Das hat natürlich seine Gründe: Wir sind seit über 20 Jahren im Land, wir kennen die Menschen dort, die Menschen kennen uns. Wir tun nur Dinge, die wir uns sinnvollerweise zutrauen, die mit den Einheimischen abgesprochen sind, teilweise auch mit den Taliban abgesprochen sind. Das heißt, wir versuchen, aufgrund unserer langen Erfahrung jedes Risiko für unsere afghanischen Mitarbeiter, für die Nutzer unserer Einrichtungen, also für die Kinder an den Schulen, und natürlich auch für uns selber zu reduzieren und zu minimieren, und würden zum Beispiel in kein Gebiet gehen, wo derzeit Kämpfe stattfinden, oder würden uns gegebenenfalls aus diesem Gebiet sogar zurückziehen.

    Barenberg: Wie beurteilen Sie denn das Erstarken der Taliban? Fangen wir mal an mit Pakistan und dem Kampf der Regierung, die auf die militärische Karte setzt.

    Erös: Jetzt müssen wir mal definieren, was wir unter Taliban dort unten verstehen, oder was man generell bei uns unter Taliban versteht. Das sind ja nicht nur die mit der Waffe in der Hand oder nicht nur die mit dem Sprengstoffgürtel oder die irgendwelche Mienen verbuddeln und sie dann sprengen. Taliban im Sinne der Menschen in Pakistan und Afghanistan, das sind junge Männer zwischen 12, 13 und 20, die in inzwischen 17000 Koranschulen eine Art religiöse Ausbildung erfahren. Nicht jeder von diesen sechs, sieben Millionen, die in diese Schulen gehen, ist bereit oder in der Lage oder beides, nach Abschluss der Schule mit der Waffe in der Hand irgendwie Krieg zu führen. Das ist ein ganz geringer Teil. Wir müssen unterscheiden zwischen Taliban, die gleichzeitig Kämpfer sind, oder Religiösen. Bei uns hat Taliban einen dämonischen Begriff; das ist jemand, der mit dem Messer in der Hand ausländischen Journalisten die Gurgel durchschneidet oder Kinder in die Luft sprengt. Das sieht man dort unten nicht so. Die Anzahl der Koranschulen hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Das hat seine Gründe. Die Gründe sind zu allererst in einem völlig desolaten Bildungssystem Pakistans zu finden. Das wird viel zu wenig angesprochen. Die Koranschulen hätten lange nicht diesen Zulauf, vermutlich wären sie bedeutungslos, wenn Pakistan in den letzten 20 Jahren auch nur halbwegs seine Pflichten als Staat erfüllt hätte, um den Kindern den Zugang zu säkularen Schulen zu ermöglichen. Dieses Loch, dieses Vakuum nutzen religiöse Fanatiker - vorwiegend aus Saudi-Arabien - aus, um in Pakistan oder auch in Pakistan mit saudi-arabischen wahabitischen Koranschulen dieses Vakuum zu füllen und damit ihre religiösen, gesellschaftspolitisch-religiösen Vorstellungen auch in Pakistan durchzusetzen. Das heißt, wenn ich das Problem Taliban mittel- und langfristig lösen will - das wollen wir alle -, dann kann ich nicht erst ansetzen, wenn die Taliban mit der Waffe in der Hand irgendwo Leute erschießen oder Attentate durchführen, sondern ich muss unten ansetzen, ich muss dafür sorgen, dass ein paschtunischer Bauer, ein paschtunischer Tagelöhner in Pakistan oder in Afghanistan nicht mehr gezwungen ist, seinen Sohn auf eine Koranschule zu schicken, weil er eine säkulare Alternative hat. Das ist unser Vorschlag seit Jahren: baut neben jede Koranschule eine säkulare Schule hin, die ebenfalls kostenlos ist wie die Koranschulen, wo die Kinder ebenfalls kostenlos verpflegt werden, wo die Kinder ebenfalls kostenlos eingekleidet werden, dann wird das Problem Taliban in fünf Jahren erledigt sein. Militärisch wird das nicht funktionieren, militärisch wird es immer mehr in einer Eskalationsstufe enden.

    Barenberg: Wechseln wir über die Grenze auf die afghanische Seite. Wie sehr bedroht das Erstarken der Taliban die Bemühungen der internationalen Truppen dort, für einigermaßen Stabilität zu sorgen?

    Erös: Die Frage ist Huhn oder Ei, wer bedroht was. Wer sorgt dafür, dass die Taliban, die militärische Taliban-Komponente immer stärker wird? Wer sorgt dort dafür? Sind das die Taliban aus eigener Kraft heraus, oder ist es das Versagen, das Verhalten des Westens? Gerade bei uns in Süd-Afghanistan bewegt sich relativ wenig in den Entwicklungen. Dort haben wir jede Woche zum Teil dramatische Kollateralschäden, also diese fehlgeleiteten Bomben, die dann Zivilisten treffen. Dort haben die Einheimischen oft das Gefühl, die amerikanischen Truppen, die kanadischen und holländischen Truppen und vor allem die englischen Truppen auch im Süden sind Kolonialmächte, sind Besatzungsmächte, und damit steigt die Ablehnung, steigt auch der Hass auf sie. Das wiederum ist Wasser auf die Mühlen der Taliban.
    Die Taliban sind in Afghanistan nicht nur aus eigener Kraft so stark geworden, sondern auch durch das Fehlverhalten einmal im militärischen Bereich des Westens, aber auch durch das dramatische Fehlverhalten des Westens im Bereich des zivilen Wiederaufbaus. Da gab es kein Konzept und schon gar keines oder keine Konzepte, die mit denen von anderen Ländern, die andere Vorstellungen hatten, kompatibel waren.
    Der zweite Fehler war: wir haben die Nachbarländer nicht einbezogen. Wir haben den mächtigen westlichen Nachbarn Iran - das ist ein Land mit 80 Millionen Einwohnern auf einem hohen Zivilisationsgrad, ein Land, deren Bewohner die gleiche Sprache sprechen wie in Afghanistan - einfach ausgeklinkt durch die Administration Bush, weil Iran ein feindliches Land war, deshalb durften die da unten nicht mal mitspielen. Da sind so viele strategische Fehler gemacht worden, die man jetzt nach acht Jahren gar nicht mehr richtig kompensieren kann. Die Karre ist jetzt in vielen Bereichen so tief mit beiden Achsen im Dreck, dass man überlegen muss, ob man die Karre nicht stehen lässt und sich mit einer völlig neuen Karre auf den Weg macht.

    Barenberg: Das hieße, das ist ein Plädoyer für den Abzug der internationalen Truppen, also auch für den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan?

    Erös: Abziehen? - Natürlich müssen wir irgendwann mal abziehen. Die Frage ist nicht, ob wir abziehen, sondern wann wir abziehen. Wir können ja nicht 100 Jahre dort bleiben. Also abziehen müssen wir auf alle Fälle. Die Frage ist, unter welchen Voraussetzungen ziehen wir ab, und das kann man eigentlich ziemlich leicht formulieren, nämlich dann, wenn Afghanistan, die Afghanen in der Lage sind, ihre Sicherheit, die äußere Sicherheit - also der Landesgrenzen - und die innere Sicherheit - also Polizei -, selber zu tragen. An Personal fehlt es nicht. Wann das der Fall sein wird hängt davon ab, wie intensiv wir ausbilden. Afghanistan hat Millionen junger Männer, körperlich und geistig intakt, die alle keinen Job haben. Wenn man denen den Beruf des Polizisten, den Beruf des Soldaten, den Beruf des Grenzpolizisten schmackhaft gemacht hätte, indem man ihn gut bezahlt, indem man eine gute Berufsperspektive anbildet, dann hätten wir das in sechs, sieben Jahren klären können.

    Barenberg: Lässt sich denn das Ruder jetzt noch rumwerfen?

    Erös: Die Frage ist, unter welchen Voraussetzungen wir im Stande sind, dort jetzt - wie soll ich sagen? - aufzugeben oder dort abzuziehen.

    Barenberg: Was müsste als erstes geschehen, wenn Sie das Wort hätten?

    Erös: Das kommt darauf an, was wir wollen. Wir müssen das Ziel definieren. Das machen Politiker nicht.

    Barenberg: Der erste Schritt wäre also, das Ziel neu zu definieren. Was wäre ein realistisches Ziel, was wir in Afghanistan noch erreichen können und wovon wir uns verabschieden müssen?

    Erös: Dieses Ziel müssen zunächst die Afghanen definieren. Ich sehe keinen Anlass, warum wir uns im Westen oder in Europa anmaßen sollten, den Afghanen ein Ziel zu definieren, wie ihr Land aussehen soll. Da müssen wir jetzt wiederum die Afghanen zu Wort kommen lassen, die bisher kaum zu Wort gekommen sind in Afghanistan; das ist nämlich die Bevölkerung. In Afghanistan ist der normale Bürger an seinen Eliten, an seinen politischen und wirtschaftlichen Eliten nicht sehr nah dran. Die fünf Prozent Eliten, die das Land letztlich führen, das ist eine Sache, und die Masse der Bevölkerung lebt von der Hand in den Mund. Wir können uns das bei uns gar nicht vorstellen. Die Eliten des Landes, die leben so wohlhabend und so souverän und so zivilisiert wie wir. Der Rest lebt zivilisatorisch im frühen Mittelalter. Aber dieser "Rest", diese 90 Prozent, die bestimmen, ob das Land in diese oder jene Richtung sich entwickelt. Mit denen müssen wir also sprechen, mit denen müssen wir arbeiten.

    Barenberg: Werden die zu Wort kommen, wenn im Spätsommer in Afghanistan gewählt wird?

    Erös: Eine Zentralregierung, wie wir sie bisher in Afghanistan vorgesehen haben, mit dem Präsidenten in Kabul und so weiter und Ministerien, die dann im Land fürs ganze Land verbindliche Gesetze machen, das war von Anfang an schon falsch, darauf zu setzen. Afghanistan oder die Afghanen sind ein zutiefst, um mal einen modernen Begriff zu gebrauchen, föderal denkender Staat oder Gebilde - auch mit unterschiedlichen Sprachen. Das ist ja nicht so wie Deutschland, wo kleine Unterschiede bestehen zwischen hessischem Dialekt und bayrischem. Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat und innerhalb dieser Völker gibt es dann auch wiederum Stammesunterschiede, und das haben wir fast nicht berücksichtigt. Wir haben auf eine zentrale Regierung gesetzt mit einem Präsidenten und mit Ministerien und so weiter. Das wird in Afghanistan die nächsten 100 Jahre nicht funktionieren. Wir müssen unseren Wiederaufbau in Afghanistan in fast allen Bereichen massiv dezentralisieren, in die Dörfer rausgehen, in die Distrikte gehen und uns nicht auf Kabul, auf die sehr verwestlichten, sehr in unserem Sinne - natürlich ist das sehr angenehm für uns - denkenden und handelnden Politiker stützen, sondern zu den einfachen Bauern, zu den einfachen Bürgermeistern gehen, die ganz andere Sorgen haben. Denen geht es ums tägliche physische Überleben, denen geht es darum, können unsere Frauen, wenn sie krank sind, innerhalb von 24 Stunden einen Arzt erreichen. Das sind alles Probleme, die haben die Eliten nicht. Auf die müssen wir hören und deren Probleme müssen wir uns anhören und dann mit ihnen gemeinsam zusammensitzen, was ich jeden Tag tue in Afghanistan, und das kann die große Politik genauso machen.

    Barenberg: Reinhard Erös, der ehemalige Bundeswehrarzt und Gründer der Kinderhilfe Afghanistan.