Donnerstag, 02. Mai 2024

Archiv


"Befehl, auf Menschen wie auf Hasen zu schießen"

1976 erreichten die diplomatischen Beziehungen zwischen DDR und Bundesrepublik einen Tiefpunkt. Der ARD-Korrespondent in Ost-Berlin, Lothar Loewe, beschrieb diesen schonungslos - und wurde dafür ausgewiesen.

Von Jacqueline Boysen | 28.08.2010
    "Dem Korrespondenten der BRD-Fernsehanstalt ARD Lothar Loewe wurde am 22. 12. 1976 wegen gröbster Diffamierung des Volkes und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik die Akkreditierung entzogen,"

    meldete das DDR-Fernsehen am 22. Dezember 1976 in typischem Duktus, während die westdeutsche Tagesschau nach Ablauf der 48 Stunden währenden Frist über das Schicksal ihres Ost-Berlin Korrespondenten zu berichten wusste:

    "Der ARD-Korrespondent in Ost-Berlin Lothar Loewe hat heute die DDR verlassen. Er folgte damit der ultimativen Ausweisungsanordnung des Ost-Berliner Außenministeriums."

    Kühl wie die Stimme des Tagesschausprechers war das Klima zwischen beiden deutschen Staaten im Dezember 1976. Die neuen ostpolitischen Bemühungen, der Wandel durch Annäherung, das große Ziel Willy Brandts und Egon Bahrs, schienen gescheitert, die deutsch-deutschen Beziehungen erreichten nach der Enttarnung des Spions Günther Guillaume, nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns, nach vielen über die Westmedien offengelegten Menschenrechtsverletzungen in der DDR einen Tiefpunkt. Diesen hatte auch der ARD-Mann in Ost-Berlin beschrieben, in der Tagesschau und mit Worten, die in die Geschichte eingingen.

    "Die Menschen in der DDR verspüren die politische Kursverschärfung ganz deutlich. Die Zahl der Verhaftungen aus politischen Gründen nimmt im ganzen Land zu. Ausreiseanträge von DDR-Bürgern werden immer häufiger in drohender Form abgelehnt. Hier in der DDR weiß jedes Kind, dass die Grenztruppen den strikten Befehl haben, auf Menschen wie auf Hasen zu schießen."

    So drastisch der Vergleich, so drakonisch die Strafe: Die Beschreibung des Grenzregimes bot der DDR-Führung Anlass, den aus West-Berlin stammenden Reporter endlich loswerden zu können. Loewe hatte in seinen Berichten gegenüber den Verwerfungen im Sozialismus keine Milde walten lassen – und er gab DDR-Bürgern eine Stimme:

    "Die zentrale Frage ist nicht die Ausreise, sondern die Reisefrage. Die Menschen, gleichgültig in welchem Alter sie sind, ob sie der Partei angehören oder nicht, möchten in den Westen oder in die Bundesrepublik reisen können. Das ist das Wichtigste ungelöste Problem in der DDR."

    Oft genug führte der freiheitsliebende Journalist die Staatspartei vor – auch gegenüber dem Generalsekretär der SED ließ er Respekt vermissen. Auf der Leipziger Messe sah sich Erich Honecker spontan mit einer höchst unwillkommenen Frage konfrontiert

    "Leipziger Messe, Loewe: "Sehen Sie die Möglichkeit, dass doch eine Situation geschaffen wird, in der Schüsse an der Grenze nicht mehr vorkommen und Menschen nicht mehr zu schaden kommen?" Honecker: "Wissen Sie, ich möchte nicht über die Schüsse sprechen, denn in der Bundesrepublik fallen soviel Schüsse ... ." "

    Dass er selbst an seiner Ausweisung Schuld hatte, wurde dem stets neugierigen, temperamentvollen Fernsehreporter immer wieder vorgeworfen. Tatsächlich war Loewe am Tage seines live-Berichts nervös: Seine Frau war am Nachmittag in einen dubiosen Unfall verwickelt worden – eine unverhohlene Drohgebärde der Staatssicherheit. Er selbst war mehrfach verwarnt worden, auch hatte die DDR-Führung der ARD diskret Loewes Ablösung schmackhaft machen wollen. Die Sender stellten sich hinter ihren erfahrenen Moskau- und Washington-Berichterstatter – ein Maß an Zustimmung, das ihm später, als glückloser Intendant des Senders Freies Berlin verwehrt wurde. Sein deutsch-deutsches Engagement konnte Loewe nach dem Fall der Mauer noch einmal aufnehmen: Als Beauftragter für den Deutschlandsender Kultur war Lothar Loewe am Aufbau des nationalen Hörfunks im wiedervereinigten Deutschland beteiligt.