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Befreiungsschlag am Schwielowsee

Beck geht durch den Hinterausgang, Franz Münterfering startet ein plötzliches Comeback, Frank-Walter Steinmeier soll Kanzler werden. Keine Frage, die SPD hat heute auf geradezu dramatische Weise Parteigeschichte geschrieben.

Mit Beiträgen von Peter Kapern, Frank Capellan und Wolfgang Labuhn | 07.09.2008
    Der Name des kleinen Städtchens Werder am Schwielowsee wird künftig in den Parteianalen wohl neben anderen Ortsmarken stehen, neben Godesberg beispielsweise, wo sich die Partei von ihren linkssozialistischen Zielen verabschiedet hat, neben Mannheim, wo im Verlauf eines Parteitages der Vorsitzende Rudolf Scharping von Oskar Lafontaine weggeputscht wurde.

    Nun also Werder, wo eigentlich nur Eckpunkte für ein Wahlkampfprogramm beschlossen werden sollten. Am Ende dieses Tages hat der alte Vorsitzende die Brocken hingeworfen, der neue ist benannt und der Kanzlerkandidat gekürt worden. Wir wollen analysieren, was dort geschehen ist in Beiträgen und im Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Gerd Langguth, der uns aus Bonn zugeschaltet ist. Guten Abend, Herr Langguth!

    Gerd Langguth: Ja, guten Abend nach Köln!

    Kapern: Herr Langguth, der Titel unserer Sendung lautet "Befreiungsschlag am Schwielowsee". Von was hat sich die SPD heute befreit und was zu tun hat sie nun die Freiheit?

    Langguth: Ob sie sich jetzt wirklich voll von ihrer schwierigen Situation befreit hat, bezweifele ich. Aber es ist natürlich jetzt erst mal der Versuch, aus dieser Misere der letzten Monate zu kommen. Beck war sichtbar überfordert. Es war auch kein gutes Mannschaftsspiel, dass die SPD insgesamt geleistet hatte. Und ich denke, dass jetzt, die nächsten Monate, eine gewisse Beruhig eintreten wird. Aber wir werden auch sehen, dass es schwer ist, wenn eine Partei aus zwei Spitzenleuten besteht, aus einem Kanzlerkandidaten und aus einem Parteivorsitzenden, das wird auch immer zu Friktionen führen müssen.

    Kapern: 385 Tage vor der Bundestagswahl versucht die SPD nun den Neuanfang. Angesichts des Niedergangs in den Umfragewerten und angesichts der anhaltenden Flügelkämpfe ein plausibles Unterfangen. Mit dem bisherigen Vorsitzenden Kurt Beck war das wohl kaum möglich. Zwei Jahre und vier Monate hatte er an der Spitze der Partei gestanden, sah sich einer massiven Medienkritik ausgesetzt und musste in den letzen Tagen vor der heutigen Klausursitzung auch noch mit ansehen, wie ihm durch Durchstechereien aus der Partei selbst noch die Möglichkeit genommen wurde, gesichtswahrend Frank-Walter Steinmeier zum Kanzlerkandidaten zu küren. Kein Wunder, dass er seinen Rücktritt heute mit einer aus der Partei gegen ihn lancierte Kampagne begründete. Frank-Walter Steinmeier, kurz vor halb fünf heute Nachmittag:

    Frank-Walter Steinmeier: "Der Tag ist heute anders verlaufen, als wir geplant hatten. Ein schwieriger Tag für uns alle. Kurt Beck hat in der heutigen Sitzung erklärt, dass er für das Amt des Parteivorsitzenden nicht mehr zur Verfügung steht. Wir waren alle überrascht und schockiert zugleich. Wir alle haben großen Respekt vor seiner Leistung und vor allem schulden wir ihm alle großen Dank."

    Dem konnte die in Werder versammelte Parteispitze zu diesem Zeitpunkt allerdings schon gar nicht mehr persönlich übermitteln. Denn Kurt Beck hatte das Treffen bereits nach wenigen Minuten mit hochrotem Kopf durch den Hinterausgang verlassen. Wolfgang Labuhn über ein Parteitreffen zwischen Chaos und Auflösungserscheinungen.

    Ein schön gelegenes Wellness-Hotel am idyllischen Schwielowsee bei Werder an der Havel sollte den Rahmen bilden für die harmonische Verständigung der SPD-Führung auf inhaltliche Leitlinien für den nächsten Bundestagswahlkampf. Doch dann kam alles anders. An der Hotelzufahrt trommelten am Morgen zwar nur die Gewerkschaft Verdi und die Linkspartei für einen Mindestlohn in Deutschland, doch Voodoo-Trommeln verheißen eben selten Gutes. Schon vorher war klar, dass dies keine normale Klausursitzung werden würde. Das Eckpunktepapier für den Wahlkampf war schon durchgesickert und am Abend hatte dann auch noch die Nachricht Wellen geschlagen, dass die Frage der Kanzlerkandidatur geklärt sei und Parteichef Beck Außenminister Steinmeier den Vortritt lasse. Keiner von beiden war bis elf Uhr am Schwielowsee gesichtet worden, als die Klausursitzung der Parteiführung eigentlich beginnen sollte. Deren Teilnehmer kamen in schweren Limousinen, einer auch auf einem schweren Motorrad und nur der markante Schnäuzer unter dem Helmvisier verriet das Eintreffen von Fraktionschef Struck. Nur wenige Teilnehmer der Klausursitzung äußerten sich gegenüber den zahlreich eingetroffenen Medienvertretern. Die wenigen aber begrüßten die vermeintliche Ernennung Steinmeiers zum Kanzlerkandidaten sowie Claas Hübner, Mitglied des Fraktionsvorstandes.

    "Es ist ein guter Tag für die SPD heute, es ist auch ein guter Tag auch für Deutschland. Wir haben Klarheit gewonnen. Wir haben einen guten Kanzlerkandidaten gefunden, der in seiner Person auch schon das Programm mit beinhaltet. Insofern bin ich sehr froh darüber, dass wir heute die Entscheidung treffen können."
    Und noch frohgemuter Verkehrsminister Tiefensee.

    "Jetzt geht es los, das ist eine gute Entscheidung. Geschlossen starten wir die Aufholjagd."

    Journalist: "Bleibt Herr Beck Parteichef?"

    Tiefensee: "Klar."
    Zwei Stunden später war nichts mehr klar bei der SPD. Erst kurz nach eins traf Parteichef Beck ein, der dem Vernehmen nach mit seinen Stellvertretern in einem Privathaus in der Nähe des Klausurhotels konferiert hatte. Er mied den Haupteingang zum Konferenzzentrum, verließ den Ort schon zehn Minuten später wieder mit hochrotem Kopf und ohne ein Wort zu sagen. Unterdessen war im Garten des Konferenzzentrums eine improvisierte Pressekonferenz vorbereitet worden, mit dem Schwielowsee im Hintergrund und gelegentlich sogar etwas Sonnenschein. Es sollte der einzige Lichtblick für die SPD an diesem traumatischen Tag werden. Denn Kurt Beck trete als Parteichef zurück, hieß es dann aus Mainz. Und während die Pressekonferenz Stunde um Stunde weiter auf sich warten ließ, überschlugen sich die Meldungen, brodelte die Gerüchteküche. Steinmeier werde Interimsparteichef, hieß es. Dann, Franz Müntefering kehre an die Parteispitze zurück. Und schließlich trat dann doch jemand ans Mikrofon.

    "Es freut mich wirklich sehr, dass ich das Mikro checken darf. Es ist noch kein Grund, dass Sie sich jetzt hier versammeln, denn ich weiß auch nicht, wer da jetzt gleich rauskommt, ob da jemand rauskommt, ob heute überhaupt noch jemand rauskommt."
    Und dann dauerte es bis 16:20 Uhr, bis doch jemand herauskam. Der stellvertretende Parteivorsitzende Steinmeier und SPD-Generalsekretär Heil bestätigten alle Gerüchte. Altgediente Korrespondenten wie Nico Fried von der "Süddeutschen Zeitung" konnten sich nicht erinnern, jemals etwas Ähnliches erlebt zu haben.

    "Dass es in so einer dramatischen Kombination ist, dass der Tag beginnt damit, dass man den Kanzlerkandidaten ausrufen will und der Tag möglicherweise, so wie es aussieht, endet, dass man keinen Parteivorsitzenden oder zumindest einen neuen hat, das ist allerdings eine Krönung."
    Und Dieter Wonka von der "Leipziger Volkszeitung" versuchte sich auch schon an einer ersten Erklärung für das, was heute passiert ist.

    "Eigentlich blieb ihm nichts anderes übrig, aber einer wie Beck lässt sich nicht in die Tonne treten."

    Ein Beitrag von Wolfgang Labuhn war das vom Schwielowsee. Prof. Langguth, woran ist Kurt Beck gescheitert?

    Langguth: Ich denke, dass Kurt Beck nie die Berliner Szene richtig verstanden hat. Nach meiner Überzeugung hätte Kurt Beck, wenn er Parteivorsitzender ist und das effektiv ausführen wollte, hätte er in die Bundespolitik gemusst. Er hätte nach meiner Überzeugung, als Müntefering zurückgetreten ist als Vizekanzler, hätte er in die Bundesregierung eintreten müssen, allerdings unter Zurücklassung eines schönen Amtes als Ministerpräsident. Dann hätte er kraftvoll Bundespolitiker werden können. Und von Mainz aus kann man eine solche komplizierte Partei wie die SPD nicht leiten. Sie müssen sehen nur ein einziges geschichtliches Datum, seit dem Rücktritt von Willy Brandt wird jetzt demnächst der zehnte Parteivorsitzende innerhalb von 20 Jahren nominiert. Das zeigt, wie brandgefährlich es ist, eine solche Aufgabe in der SPD zu übernehmen und das konnte man nicht quasi als Nebenjob machen.

    Zwei alte Bekannte sollen nun für die SPD retten, was zu retten ist. Er setze auf Sieg, sagte Frank-Walter Steinmeier am Nachmittag, kurz nachdem er offiziell als Kanzlerkandidat benannt worden war und auch Franz Müntefering, der ja bereits einmal vom März 2004 bis November 2005 die SPD angeführt hat, wird seinen Wiedereinzug ins Willy-Brandt-Haus wohl kaum mit Kleinmut garnieren. Frank Capellan über die beiden neuen alten Hoffnungsträger.

    Nein, gerissen hat sich der gebürtige Ostwestfale nicht um diese Aufgabe. Frank-Walter Steinmeier ist eher ein Typ, der hinter den Kulissen Strippen zieht, ein Mann der ruhigen Worte, ganz Diplomat. So kennen ihn drei Viertel der Deutschen, seit er im November 2005 als Außenminister ins Kabinett von Angela Merkel geholt wurde. Wie die Kanzlerin profitierte auch Frank-Walter Steinmeier vom Glanz der Weltbühne, der via Fernsehen in die heimischen Wohnzimmer transportiert wird. Die parteipolitischen Grenzen allerdings verschwimmen da bei vielen Bürgern schon mal ein bisschen, wenn sie auf Merkel und Steinmeier schauen.

    Bürgerin 1: "Unser Bundesaußenminister, oder wie heißt der Herr Steinmeier?"

    Bürgerin 2: "Ich wähle natürlich die SPD, ist doch logisch. Ich bin ja auch sehr angetan von unserer Frau Merkel. Die ist doch SPD?"

    Gegen diese Beliebigkeit wird der 52-jährige Merkel-Herausforderer in den kommenden Monaten ankämpfen und zugleich als Vizekanzler die Arbeit in der Großen Koalition zu Ende bringen müssen. Steinmeier ist kein Wahlkämpfer. Auch deshalb dürfte er nun erleichtert sein, wenn der alte Fahrensmann Franz Müntefering an die Parteispitze zurückkehrt.

    Eindrucksvoll meldet sich der Ex-Vorsitzende und Ex-Vizekanzler nach dem Tod seiner Frau erst am vergangenen Mittwoch im bayerischen Wahlkampf zurück.

    Müntefering: "Heißes Herz und klare Kante. Das riecht, meine Damen und Herren, sehr nach Schweiß und nach Anstrengung. Aber ich sage Ihnen, ich sage euch, das ist besser, heißes Herz und klare Kante als Hose voll."
    Dass Steinmeier sich den Sauerländer an seine Seite zurückwünschte, um dem Wahlkampf gegen Angela Merkel zu koordinieren, das war schon lange bekannt. Das aber war für Kurt Beck offenbar des Guten zu viel. Das Verhältnis zwischen ihm und Müntefering ist äußerst angespannt, seit der frühere Arbeitsminister im Herbst vergangenen Jahres die Verlängerung des Arbeitslosengeldes-I-Bezuges schlucken musste. Bezeichnend die knappe und kühle Reaktion des Pfälzers, als er auf die Rückkehr Münteferings angesprochen wird.

    "Herzlich willkommen."

    In den Augen von Franz Müntefering, aber auch von Frank-Walter Steinmeier war die Korrektur beim Arbeitslosengeld der erste große Sündenfall auf dem Weg einer vorsichtigen Distanzierung von der Reformpolitik Gerhard Schröders. Müntefering muckte damals auf, Steinmeier dagegen folgt mit geballter Faust in der Tasche seinem Vorsitzenden. Bedingungslose Loyalität zeichnet den Stellvertreter lange Zeit aus.

    "Wir haben einen Parteivorsitzenden, der heißt Kurt Beck und ich wünsche mir, dass er Kanzlerkandidat wird."
    Es macht den Anschein, als hoffte der Vizekanzler lange Zeit, der Kelch Kanzlerkandidatur möge an ihm vorübergehen. So chaotisch der heutige Tag für die Partei auch verlief, das neue Duo Steinmeier/Müntefering wird einen Neuanfang versuchen müssen.
    Das Schröder-Lachen ist sein Markenzeichen. Wie einst der Macher aus Hannover soll nun Frank-Walter Steinmeier die gebeutelte SPD wieder voranbringen. Wenn sich der Weltreisende in die Niederungen der Provinz begibt, dann umgibt ihn wie damals bei Gerhard Schröder immer wieder dieses Kumpelhafte.

    Bürgerin 3: "Und das war nett, dass wir uns immer hier getroffen haben."

    Steinmeier: "Ja, dass sie extra gekommen sind."

    Bürgerin 3: "Ja sicher, eben."

    Seit 1975 ist Frank-Walter Steinmeier in der SPD als Sohn eines Tischlers und einer Fabrikarbeiterin wächst er in einem kleinem Dorf mit 1100 Einwohnern auf. Frank-Walter Steinmeier, ein Mann aus einfachen Verhältnissen, dem es aber dennoch gelingt, erfolgreich ein Jurastudium zu absolvieren. Genau das hat ihn damals zur Sozialdemokratie geführt.

    "Ich gehöre zu jener Generation, die ihren Weg machen konnten, weil es eine sozialdemokratische Bildungsoffensive in den späten 60er-Jahren gab. Und hätte es sie nicht gegeben, hätte es kein Schülerbafög und keine Studienförderung, dann säße ich nicht hier."

    Aber Steinmeier fehlt der oft beschworene sozialdemokratische Stallgeruch. Er ist keiner, der sich hochgearbeitet hat. Genau das aber bringt Franz Müntefering nun wieder ein.

    Sozialdemokrat aus Leidenschaft, ein Heilsbringer gewissermaßen, den sich so viele an die Spitze zurückgewünscht hatten. Alle wichtigen SPD-Ämter hat er bekleidet. Unvergessen, wie er reagierte, als er 2004 erstmals Parteichef wurde.

    "Das ist das schönste Amt neben Papst, Vorsitzender der SPD zu sein."

    Jetzt soll er gemeinsam mit Frank-Walter Steinmeier die SPD in die Bundestagswahl führen. Zwei Reformer aus dem Schröder-Lager an der Spitze der Sozialdemokratie, die sich unter Kurt Beck doch gerade erst daran gemacht hatte, die Härten der Schröder-Reformen abzumildern. Wird das zum Aufstand der Linken führen?

    Müntefering: "Ich sage nicht, dass alles, was wir gemacht haben, gut ist und ich sage nicht, dass man das weiter vorantreiben muss. Aber ich sage, dass wir uns nicht genieren dürfen dafür, dass wir gute Sachen gemacht haben."
    Letzten Mittwoch schlug Müntefering schon mal versöhnlichere Töne an. Ein Signal an die Linken, die erst in der vergangenen Woche nach einer neuen Umverteilungspolitik riefen und wie sich die Sozialdemokraten gegenüber der Linkspartei positionieren, das dürfte wohl zur spannendsten Frage werden.

    Steinmeier: "Das Selbstbewusstsein, dass die hessische Sozialdemokratie hier vorlebt, wirkt."
    Damals im Wahlkampf lobte Steinmeier seine Parteifreunde in Hessen noch, heute könnte Andrea Ypsilanti für ihn zum unkalkulierbaren Risiko werden. Müntefering und Steinmeier werden einiges zu tun haben, um den Laden SPD zusammenzuhalten. Der Kanzlerkandidat jedenfalls hat selbstbewusst erklärt, dass er sich das durchaus zutraut.

    "Vertrauen Sie darauf, dass ich mich schon ein wenig auskenne in dieser Partei."

    Frank Capellan war das aus unserem Hauptstadtstudio in Berlin. Der Bonner Politikwissenschaftler Gerd Langguth ist uns zugeschaltet. Herr Langguth, schauen wir zunächst auf den Kanzlerkandidaten. Eine miserablere Präsentation des SPD-Mannes für den wichtigsten Posten im Lande ist ja wohl kaum denkbar. Geht Frank-Walter Steinmeier schon beschädigt ins Rennen um das Kanzleramt?

    Langguth: Auf keinen Fall geht er in einer Weise ins Rennen, das jetzt alle hurra schreien und weil die Gesamtumstände des Rücktritts von Beck natürlich nachwirken. Und es wird sich übrigens auch die Frage stellen, nachdem ja jetzt zwei Schröderianer quasi an die Spitze der Partei treten, der eine als Kanzlerkandidat und der andere eben als Parteivorsitzende. Was eigentlich mit dem linken Flügel der SPD wird, ob beispielsweise der Generalsekretär Heil überhaupt bleiben kann oder ob das nicht ein Zugeständnis an die Linke gemacht wird, dass er beispielsweise durch Frau Nahles oder wen auch immer ersetzt wird. Auf jeden Fall wird es noch manche Diskussion in der SPD geben, weil ja das austariert werden muss. Die Tatsache, dass da alte Schröderianer jetzt wieder die Führung neu übernehmen, muss ja irgendwelche Auswirkungen auch auf den linken Flügel haben, um diesen da zu integrieren.

    Kapern: Welchen Umgang mit der Agenda 2010 muss denn Franz Müntefering jetzt üben, um den linken Flügel nicht gleich wieder gegen sich aufzubringen?

    Langguth: Ja, das ist eine ganz spannende Frage. Aber zunächst mal glaube ich, dass er doch eher noch ein Garant für das Zusammenhalten der Großen Koalition ist als andere. Und ich glaube, dass Müntefering schon das Grundproblem erkannt hat, dass die SPD bisher nicht wusste, ist sie eigentlich Opposition in der Regierung oder ist sie Regierungspartei. Und da, denke ich, wird er mehr für den Zusammenhalt sorgen müssen, aber es ist so, Müntefering ist ja nun nicht als jemand bekannt, der ja immer alle Positionen für sein ganzes Leben durchgehalten hat. Er hat ja immer schon auch im Sinne seiner Partei relativ schnell politische Wenden vollzogen. Das kann auch in dieser Frage sein. Aber noch einmal. Da die Große Koalition sehr stark mit ihm als Person verknüpft ist, denke ich, wird er doch auch versuchen müssen, die Große Koalition mit zusammenzuhalten. Denn diejenige Partei, die als Erste den Ausstieg von der Großen Koalition vornehme, die würde nach meiner Überzeugung vom Wähler bestraft werden.

    Kapern: Der Umgang mit der Agenda 2010, das ist ja nur eine der Kernaufgaben, mit denen Franz Müntefering jetzt konfrontiert ist. Eine andere ist ja der unmittelbare Umgang mit der Partei Die Linke. Andrea Ypsilanti hat heute bereits gesagt, dass sie am Zeitplan für die Übernahme der Regierungsgeschäfte in Hessen festhält. Klarer Fall, der Kurs Richtung Rot-Rot-Grün soll fortgesetzt werden. Kann Müntefering das ohne Ansehensverlust geschehen lassen?

    Langguth: Ja, das wird in der Tat das nächste Problem sein, wenn Ypsilanti zum Schluss dann auch noch mithilfe eben der Linken tatsächlich Ministerpräsidentin in Hessen wird. Dann wird die drängende Frage sein, ob man nicht auch mit einem Wortbruch dann im nächsten Jahr zu rechnen hat, trotz Steinmeier und trotz Müntefering, zumal man auch sehen muss, im ganzen Lichte der Diskussion steht ja im Hintergrund, stehen ja bereits zum Beispiel jemand wie Wowereit und andere. Es gibt ja auch auf Bundesebene durchaus Persönlichkeiten, die für einen Kurswechsel wären, selbst wenn natürlich Steinmeier überzeugend, aus meiner Sicht überzeugend, sich gegen eine Koalition oder Quasi-Koalition mit der Linken ausgesprochen hat. Aber das darf man nicht vergessen, er hat sich ja bisher in seiner eigenen Partei nicht durchsetzen können. Und der Kanzlerkandidat, der auch in einer anderen Frage, nämlich in der Frage, soll die SPD Horst Köhler unterstützen als Bundespräsidentenkandidat oder mit einer eigenen Kandidatin kommen, der sich dort auch nicht durchsetzen konnte. Der wird ja kaum als ein kraftvoller Kandidat wirklich ins Rennen gehen können, jedenfalls ist das meine Überzeugung.

    Kapern: Kurze Frage zum Schluss noch, Herr Prof. Langguth. Kann oder muss Franz Müntefering nun alles unternehmen, um Andrea Ypsilanti zu stoppen?

    Langguth: Er müsste es nach meiner Überzeugung, aber er wird es nicht können, weil es ja, das Diktum, gilt, dass die Landesverbände selber ihre Entscheidungen zu treffen haben und Frau Ypsilanti ist so wild entschlossen, da müsste schon fast ein Wunder geschehen, wenn sie da noch zu stoppen wäre.

    385 Tage sind es noch bis zur Bundestagswahl. Bis dahin wird uns die SPD noch manches Mal beschäftigen. Gleich morgen wieder, da trifft sich in Berlin der SPD-Parteivorstand, um einen Termin festzulegen für einen Sonderparteitag, auf dem Franz Müntefering an die Parteispitze gewählt werden soll. Die SPD, so viel steht fest, wird weiter für Gesprächsstoff sorgen.