Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Befriedung
"Libyen hat alles, um einen Neustart zu schaffen"

Ein türkischer Einmarsch wäre die erste offizielle ausländische Truppenpräsenz im Bürgerkriegsland Libyen - inoffiziell seien dort viele Länder aktiv, sagt der Journalist Mirco Keilberth, der das Land bereist hat. Er meint, die Zeit für eine friedliche Lösung in Libyen sei noch nicht abgelaufen.

Mirco Keilberth im Gespräch mit Andreas Noll | 04.01.2020
Ein Kämpfer der international anerkannten Regierung schaut mit einem Fernglas durch ein Einschussloch in einer Hauswand
Ein Kämpfer der international anerkannten Regierung (picture alliance / dpa / Amru Salahuddien)
Andreas Noll: Nicht nur im Nahen Osten eskaliert derzeit der Kampf um Macht und Einfluss - auch in Nordafrika. Das türkische Parlament hat in dieser Woche die Entsendung von Soldaten nach Libyen gebilligt. Staatspräsident Erdogan will dort der international anerkannten Regierung zu Hilfe eilen. Premierminister Fayez al-Sarradj kämpft mit Rebellenführer Haftar um die Macht im Land. Haftar, der den Osten Libyens kontrolliert und u.a. von Russland unterstützt wird, hatte zum Jahresende einen "finalen Angriff auf Tripolis" angekündigt.
Mirco Keilberth hat als Journalist auf beiden Seiten der Front in Libyen recherchiert. Ihn erreichen wird gerade in Tunis. Herr Keilberth, Beobachter sprechen von einem "failed state". Wie haben Sie die Lage in Libyen erlebt?
Mirco Keilberth: Ich bin durch alle drei Landesteile gereist, Libyen besteht ja aus drei Provinzen, dem Fessan, Tripolitanien und Kyrenaika - dort, wo Feldmarschall Haftar regiert. In Bengasi ist der Krieg seit 2017 vorbei, dort hat Haftar diesen Häuserkampf gegen die Milizen gewonnen. Die Kommandeure der Milizen sind jetzt nach Tripolis marschiert, und deswegen hat er im April begonnen, die Hauptstadt vom Süden her zu belagern, und er möchte diese Kommandeure, Terroristen, wie er sie nennt, von den Hauptstadtinstitutionen vertreiben.
"Der Premier beherrscht eigentlich nur Stadtteile von Tripolis"
Libyen ist ein sehr zentralistisch organisiertes Land, das heißt alle wichtigen Ministerien und die Ölagentur NOC, durch die das gesamte Einkommen Libyens generiert wird, befinden sich dort. Und so kann man sagen, im Osten ist so eine Art Polizeistaat-Mentalität eingekehrt, Haftar regiert dort, hat aber auch für Ruhe gesorgt, die Bürger sind darüber gar nicht so unglücklich. Und seit April ist dieser Krieg um die Hauptstadt mit 150.000 Flüchtlingen mittlerweile ein sehr merkwürdiger Zustand von Normalität. Man ist in Staus, man fährt eigentlich ganz normal durch eine Stadt, die funktioniert. Und nach ein paar Kilometern in den Süden befindet man sich in einem Kriegsgebiet, über dem Drohnen summen, man hört dieses Geräusch der Drohnen die ganze Zeit. Und im Süden, in der Fessan-Provinz, gibt es gar keine Konflikte, aber dort kommen weiterhin viele Migranten aus der Sahara an und warten eigentlich darauf, dass dieser Konflikt vorbei ist.
Noll: Welche Rolle spielt die international anerkannte Regierung in Tripolis bei diesem Kampf um die Hauptstadt?
Keilberth: Die Regierung Sarraj wurde ja eigentlich eingerichtet auf einer Friedenskonferenz im marokkanischen Skhirat, um den Kampf gegen den Islamischen Staat führen zu können. Damals haben ja vor allem die Amerikaner mit Hilfe von libyschen Milizen den Islamischen Staat vertrieben. Seitdem hat man aber diese Regierung Sarraj auch aus Europa kaum noch unterstützt. Der Premier beherrscht eigentlich nur Stadtteile von Tripolis, ist international anerkannt, aber hat eben bis jetzt auch von den europäischen Partnern kaum Hilfe bekommen und hat deswegen sich jetzt an die Türkei gewendet. Die Türkei könnte auch die Rolle einnehmen, die Regierung gegen die eigenen Milizen unterstützen zu müssen, denn die handeln eigentlich aus Eigennutz zum größten Teil.
Erste offizielle ausländische Militärpräsenz in Libyen
Noll: Sie haben die europäischen Staaten genannt. In diesem Bürgerkrieg spielen auch ausländische Mächte eine Rolle, EU-Staaten, Russland, arabische Länder und jetzt auch die Türkei beteiligen sich mehr oder weniger offen an dem Ringen um Einfluss und Macht in dem rohstoffreichen Land. Wie macht sich diese ausländische Präsenz bemerkbar?
Keilberth: Beide Seiten versuchen, die Präsenz von ausländischen Söldnern vor der eigenen Bevölkerung, aber auch vor ausländischen Diplomaten zu verbergen. Es gilt weiterhin ein Waffenembargo, insofern müssen beide Seiten damit rechnen, irgendwann zu einem Zeitpunkt dafür belangt zu werden, dass sie Waffen aus dem Ausland erhalten. Im Falle der Sarraj-Regierung ist das Katar und die Türkei, und Feldmarschall Haftar wird unterstützt von Ägypten, Russland und zum Teil auch Frankreich. Man kann keine Söldner auf den Straßen sehen, man hört aber immer wieder auch von Kontakten, dass es Spezialisten gibt, die die Drohnen bedienen, beide Seiten setzen verstärkt – wie gesagt – Drohnen ein.
Jetzt kommt natürlich mit der türkischen Armee zum ersten Mal eine offizielle Armee in das Land, deswegen ist das ein Paradigmenwechsel, wenn es denn geschieht. Beweise gibt es bisher nur für die Präsenz von Söldnern auf Seiten der Syrer, die auch in den letzten Tagen gekommen sind, syrische Freiwillige, die angeworben wurden, um die Hauptstadt gegen Haftar zu verteidigen.
"Eigentlich hat Libyen alles, was es für einen Neustart braucht"
Noll: Die deutsche Bundesregierung wirbt seit geraumer Zeit für eine friedliche Lösung des Konfliktes, es ist immer wieder die Rede von einem Libyengipfel. Welche Rolle spielt das zur Zeit?
Keilberth: Die Zivilbevölkerung, die sich aus dem Konflikt ja zum größten Teil raushält, man darf nicht vergessen, dass die meisten Menschen nach dem Sturz von Gaddafi eigentlich ganz normal in ihr Leben zurückgekehrt sind und weder mit Milizen noch mit Haftars Militär viel zu tun haben wollen. Deutschland wird im Allgemeinen als neutral gesehen, nicht wie Italien ehemalige Kolonialmacht oder wie Frankreich auf Seiten Haftars aktiv.
Aber ich würde sagen, die Zeit ist noch nicht abgelaufen. Eigentlich hat Libyen ja auch alles, was es braucht, um einen Neustart zu schaffen, genug Geld, relativ geringe Bevölkerungszahl mit fünf Millionen und einem riesigen Gebiet. Insofern, ich glaube, es wird eine Berlin-Konferenz geben, und die einzige Chance wird wahrscheinlich sein, die Verbrechen und den Waffenschmuggel als Druckmittel zu nutzen gegen alle Seiten, um mindestens einen Waffenstillstand zu erreichen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.