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Christopher Isherwood: "Begegnung am Fluss"
Rücksichtslos frei

Zwei feindliche Brüder, die sich innig lieben: "Begegnung am Fluss" von Christopher Isherwood ist ein kraftvoll emanzipatorischer Roman über eine zerrissene Familie, Sinnsuche im mönchischen Verzicht und sexuelle Freiheit.

Von Dirk Fuhrig | 14.11.2022
Christopher Isherwood: "Begegnung am Fluss"
Zu sehen sind der Autor und das Buchcover
Christopher Isherwood, gestorben im Jahr 1986 in Kalifornien, war ein Autor der sexuellen Befreiung (Buchcover: Verlag Hoffmann & Campe / Foto: imago / United Archives International)
„Lieber Patrick…“
Oliver schreibt an seinen Bruder. Er hat eine Entscheidung getroffen, die sein Leben verändern wird:
„Mutter hat noch immer den Eindruck (…), dass ich mich hier in Kalkutta aufhalte, um für das Rote Kreuz zu arbeiten, wie bis vor einem Jahr in Deutschland. Aber dem ist nicht so. Ich befinde mich in einem hinduistischen Kloster ein paar Meilen außerhalb der
Stadt, am Ufer des Ganges. Will sagen, ich bin hier als Mönch.“
Patrick setzt sich sofort ins Flugzeug, um seinen Bruder vom endgültigen Ablegen der Gelübde abzuhalten. Von Los Angeles reist er über Hongkong nach Indien. Der Roman spielt zwischen verschiedenen Kontinenten und Städten. Aufgewachsen in England, ist Patrick Filmproduzent in Kalifornien. Oliver hat lange in München gelebt. Doch nun will er sich der Welt entziehen. Er glaubt, den richtigen Weg gefunden zu haben:

 Sinnsuche in mönchischer Einsamkeit

„Ich habe einen Mann gekannt, der gesagt hat, er wisse, dass es Gott gibt. Nachdem ich fünf Jahre lang mit ihm zusammengelebt und ihn aus nächster Nähe beobachtet habe – beobachtet habe, wie er lebte –, kann ich sagen, dass ich (die meiste Zeit) glaube: Er wusste es wirklich. (…) Dieser Mann hat mich zu seinem Jünger auserwählt. (…) Solange er bei mir ist, wovor soll ich mich da fürchten?“

 Während Oliver also sein Heil in mönchischer Enthaltsamkeit sucht, lebt sein Bruder Patrick als Freigeist, der sich an seiner Sexualität
erfreut. Er hat Familie und - einen Liebhaber. Dem er einen Brief schreibt:

„Vielleicht hast Du nicht gemerkt, wie einige der anderen Passagiere die Stirn runzelten, als Du mich, ohne zu zögern, auf den Mund geküsst hast. Deswegen habe ich Wert darauf gelegt, Deinen Kuss mit derselben Begeisterung zu erwidern. Aber ich kann mir vorstellen, dass die meisten Leute, die uns dabei beobachteten, annahmen, Du seist mein jüngerer Bruder und wir seien Ausländer, die einander Lebewohl sagen wie irgendwelche Südeuropäer.“
Patrick ist eine schillernde Persönlichkeit: Erfolgreich als Verleger und Filmproduzent, mit seiner Frau Penelope offenkundig in bester Übereinkunft darüber, dass (bi-)sexuelle Eskapaden kein Problem für die Beziehung sind. Gleichzeitig ist er emotional rücksichtslos: Erst macht er dem jungen Mann, der in ihn verliebt ist, allerlei Versprechungen, dann serviert er ihn eiskalt ab.

 Weltläufiger Gegenpol

Der sportliche, attraktive Patrick repräsentiert den weltläufigen, weltzugewandten Gegenpol zu Oliver, der von westlichem Karrieredenken genug hat und sich dem Gebot der Enthaltsamkeit  unterwerfen will. Da die Brüder einmal in dieselbe Frau verliebt waren, verbindet sie noch ein untergründiger Hass. Gleichzeitig fühlen sich beide aber auch körperlich voneinaner angezogen.

 „Als ich meine Freud-Phase hatte“, so denkt der Ich-Erzähler Oliver nach, „habe ich mich immer gefragt, ob ich nicht sogar in ihn verliebt sei, und nicht nur auf platonische Weise. Inzwischen bin ich mir ziemlich sicher, dass dem nicht so ist, zumindest nicht mehr. (…) Hin und wieder habe ich den Verdacht, dass Patrick es ahnt – wenn er gewissermaßen mit mir flirtet. Aber ich fürchte, die Wahrheit ist weit weniger aufregend. Patricks Flirterei ist nur eine nervöse Angewohnheit, die er sich zugelegt hat und die er bei Menschen jeden Alters und beiderlei Geschlechts an den Tag legt.“

Zwei Seelen des Autors

Vielleicht ist es ein bisschen zuviel, dass der Autor in das komplizierte Verhältnis zwischen den antagonistischen Brüdern auch noch eine inzestuöse Ebene einführt. Jedenfalls scheint Christopher Isherwood in das Brüderpaar zwei Seiten seines eigenen Charakters gelegt zu haben: die des freizügigen, am Abenteuer interessierten Lebemannes - wie auch die des introvertierten Zweiflers. Im englischen Original wurde der Roman 1967 veröffentlicht. Interesse an fernöstlichem Denken hatten schon die Beatniks kultiviert, und im Zuge der Hippie-Bewegung pilgerten sogar die Beatles nach Indien. Auch Isherwood hat sich in seinen Texten aus jener Zeit mit hinduistischem Denken auseinandergesetzt.
„Begegnung am Fluss“ atmet ein Gefühl von Unabhängigkeit, Aufbruch, Libertinage. Ähnlich wie in seinem erfolgreich verfilmtem Roman „A Single Man“ stellt Isherwood das Leben als homo- oder bisexueller Mann hier nicht als Problem dar, sondern als freie Entscheidung, als selbstverständlich und lustvoll.
Der ständig im Flieger sitzende Patrick ist in der Welt zu Hause wie andere in ihrem Stadtviertel – und so ist ein erfrischend kosmopolitisches Buch entstanden, in dem man den unkonventionellen Geist wiederfindet, der Isherwoods Werk insgesamt prägt.
Christopher Isherwood: „Begegnung am Fluss“
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg
208 Seiten, 25 Euro.