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Behindern die Benes-Dekrete den EU-Beitritt Tschechiens

Probst: In den deutsch-tschechischen Beziehungen sorgen wieder einmal die sogenannten Benes-Dekrete als gesetzliche Grundlage für die Enteignung beziehungsweise Vertreibung von Angehörigen der deutschen oder ungarischen Minderheit aus der damaligen Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg für Verstimmung. Auf dem traditionellen Pfingsttreffen der Sudetendeutschen Landsmannschaft in Nürnberg hatte Bayerns Ministerpräsident und Unionskanzlerkandidat Edmund Stoiber die Benes-Dekrete als Hindernis für den Beitritt Tschechiens zur EU bezeichnet. Am Telefon ist Günter Verheugen, in der EU-Kommission zuständig für die Erweiterungsfragen. Guten Tag, Herr Verheugen.

    Verheugen: Guten Tag.

    Probst: Ist das so, könnten die Benes-Dekrete zum Hindernis für die Aufnahme Tschechiens werden?

    Verheugen: Nicht zu einem rechtlichen Hindernis. Aber wenn ich das alles bewerte, was an diesem Wochenende vor sich gegangen ist, dann ist ein politisches Problem entstanden, das man wohl ernst nehmen muss.

    Probst: Primär auf bilateraler Ebene oder sehen Sie das auch mit Blick auf Brüssel, also die EU?

    Verheugen: Es ist eindeutig ein bilaterales Problem, aber da wir für die Erweiterung ja die Zustimmung jedes einzelnen Mitgliedslandes brauchen und im Falle der tschechischen Republik natürlich auch und dort auch ein Referendum, hat es schon auch mit meiner Arbeit etwas zu tun. Deshalb habe ich sehr sorgfältig beobachtet, was sowohl in der tschechischen Republik als auch in Deutschland über Pfingsten gesagt worden ist. Und ich muss sehr deutlich sagen, das erleichtert unsere Bemühungen nicht.

    Probst: Das ist ein Appell an beide Seiten. Wozu konkret?

    Verheugen: Es ist ein Appell, diese ungeheuer sensible und schwierige Frage nicht zu einem Wahlkampfthema zu machen. Ich weiß, dass der Appell spät kommt, er kommt auch nicht zum ersten mal und im Grunde ist das Kind ja schon in den Brunnen gefallen. Aber beide müssen sich bewusst sein, die Deutschen und die Tschechen, dass sie schon mal viel weiter gewesen sind. Die deutsch-tschechische Erklärung von 1997 beantwortet eigentlich alle Fragen und die Kommission ihrerseits bemüht sich intensiv darum, zusammen mit den Tschechen festzustellen, ob es im Zusammenhang mit Benes-Dekreten und anderen Gesetzen irgendetwas gibt, was heute noch rechtliche Wirkungen haben könnte und deshalb im Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht steht. Ich habe mit der tschechischen Regierung verabredet, dass wir diese Prüfung gemeinsam durchführen und wenn wir irgendetwas finden, dann muss das geändert werden. Ich muss aber deutlich sagen: die Benes-Dekrete als solche spielen dabei keine große Rolle, weil klar ist, dass die handvoll Dekrete, die sich mit der Enteignung und dem Entzug der Staatsbürgerschaft beschäftigen ja keine rechtlichen Wirkungen mehr entfalten können. Sie sind eine Sache aus der Vergangenheit. Das ist abgeschlossen. Und wenn man jetzt ihre Aufhebung verlangt, verlangt man einen symbolischen Akt. Und man muss sich sehr fragen, ob ein solcher symbolischer Akt als Voraussetzung für einen Beitritt zur Europäischen Union unbedingt notwenig ist.

    Probst: Wenn Sie sagen, beide Seiten sollten das nicht zum Wahlkampfthema machen, dann könnte man ja auch schlussfolgern, nach dem 22. September wird das Thema wieder an Priorität in Deutschland verlieren, oder?

    Verheugen: Davon bin ich einigermaßen überzeugt. Ich glaube auch nicht, dass irgendein verantwortlicher Politiker in Deutschland wirklich so weit gehen wird zu sagen, er schafft hier Beitrittsbedingungen. Aber wir haben hier jetzt ein politisches Klima zwischen zwei Nachbarländern in Europa, das unerfreulich ist - auch für das Erweiterungsprojekt. Und im Grunde geht es doch darum, dass wir durch diese Erweiterung auch einen Zustand in Europa erreichen wollen, der es uns erlaubt, unbelastet von den Problemen der Vergangenheit und der Zukunft zusammenleben zu können.

    Probst: Es sind ja nicht nur die deutsch-tschechischen Beziehungen, die da angesprochen sind, Herr Verheugen. Es hat auch Kritik aus Ungarn gegeben in der Vertreibungsfrage und unter dem Stichwort Temelin auch aus Österreich. Wie ist es denn überhaupt mit der nationalen Ebene, hat die da Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen, um eine Kehrtwendung in der Fragehaltung zu erzwingen?

    Verheugen: Was die ungarische Intervention angeht, die vor einigen Monaten durch den noch amtierenden Ministerpräsidenten Orban überraschenderweise durchgeführt worden ist, so halte ich die für erledigt. Das bezieht sich im übrigen auch nicht auf die Tschechen sondern auf die Slowakei. Die Ungarn sind ja nicht aus der heutigen tschechischen Republik vertrieben worden sondern aus der heutigen Slowakei. Ich glaube, diese beiden Länder werden nach dem Regierungswechsel in Ungarn sehr schnell in der Lage sein, diese Verstimmungen aus der Welt zu schaffen. Was Temelin angeht, so ist die Frage geregelt. Das entsprechende Kapitel in den Erweiterungsverhandlungen ist mit der Zustimmung Österreichs geschlossen worden und natürlich ist ganz normal, dass Kernkraftgegner, zu denen ich ja auch gehöre, weiterhin die Frage problematisieren. Aber aus europäischer Sicht ist es nun einmal so, dass jedes Mitgliedsland und auch jedes künftige Mitgliedsland das Recht hat, seine Energieerzeugung selber zu entscheiden und die Kernenergie ist in Europa nicht verboten. Es geht nur darum sicherzustellen dass wo sie benutzt wird die höchstmöglichen Sicherheitsstandards eingehalten werden. Das Thema halte ich eigentlich für abgehakt.

    Probst: Sie haben eben gesagt, Herr Verheugen, Sie hätten mit der Prager Regierung vereinbart, die rechtlichen Auswirkungen, so noch vorhanden, zu prüfen. Inwieweit ist denn mit bindender Wirkung abzusehen, dass dann auch das Ergebnis von der anderen Seite akzeptiert wird?

    Verheugen: Ich bin ziemlich sicher, dass die entsprechenden Anpassungen vorgenommen werden, wenn es hier noch rechtliche Probleme geben sollte. Was wir uns genau anschauen müssen ist zum Beispiel das Straffreiheitsgesetz. Das ist ja merkwürdigerweise bei Sudetendeutschentreffen nicht erwähnt worden. Das Straffreiheitsgesetz könnte ein Problem sein, aber das ist relativ leicht zu beheben. Und die andere Frage, die wir uns sehr genau anschauen ist die, ob in der heutigen tschechischen Rechts- und Verwaltungspraxis in Bezug auf die Rückerstattung von Vermögen diskriminierende Elemente enthalten sind, die mit dem Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar sind. Ich habe aber die klare Zusage der Tschechen, dass wenn in ihrer heutigen Rechts- und Verwaltungspraxis und ihrem heutigen Rechtssystem etwas ist, was dem Gemeinschaftsrecht widerspricht, dass das entsprechend den Beitrittsbedingungen korrigiert wird. Ich glaube, alle Beteiligten sollten jetzt einmal stiller und konsequenter Diplomatie die Möglichkeit lassen, diese Frage zu lösen. Die starken öffentlichen Worte, die auf beiden Seiten gebraucht werden helfen ja nicht. Ich muss auch deutlich sagen ich bin auch sehr sehr unglücklich über Äußerungen auf der tschechischen Seite, die an diesem Wochenende gefallen sind. Sie können heute im Jahre 2002 wirklich nicht mehr sagen, dass die Vertreibung von Millionen von Menschen etwas richtiges war. Das hat man damals für richtig gehalten.

    Probst: Quelle des Friedens hat der stellvertretende Ministerpräsident Spidla gesagt.

    Verheugen: Das war damals die Auffassung und sie dient ja auch, darauf hingewiesen zu werden, dass die politische und rechtliche Grundlage für die Vertreibung nicht irgendwelche Benes-Dekrete sind, wie fälschlich auch wieder in Nürnberg behauptet worden ist, sondern die politische und rechtliche Grundlage dafür war das Potsdamer Abkommen zwischen den Siegermächten. Es gibt kein einziges Dekret, das sich direkt mit dieser Vertreibung befasst sondern die Benes-Dekrete, die hier interessant sind in dem Zusammenhang, befassen sich mit Enteignung und mit Entzug der Staatsbürgerschaft und ich habe dazu schon gesagt: es ist eindeutig, dass diese Benes-Dekrete in ihrer Bedeutung erloschen sind.

    Probst: Günter Verheugen, Mitglied der EU-Kommission war das im Deutschlandfunk, danke.