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Behinderte in der politischen Arena

Über 100 Staaten haben die im Dezember 2006 von der Mitgliederversammlung der Vereinten Nationen mit großer Mehrheit beschlossene Konvention zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte behinderter Menschen bislang unterzeichnet. Sie trat im Mai 2008 in Kraft, nachdem 20 UNO-Mitgliedsstaaten sie ratifiziert hatten. Seit März 2009 hat das Abkommen auch in Deutschland Gesetzeskraft. Damit müssen – was eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist – alle Menschen- und Bürgerrechte völkerrechtlich verbindlich auch für Menschen mit Behinderungen gelten.

Von Keyvan Dahesch |
    Parlamente, Regierungen und Unternehmen sollen alle gesellschaftlichen und beruflichen Nachteile der Menschen mit Behinderungen beseitigen. Verlangt wird in der Konvention auch die angemessene Vertretung der gehandicapten Menschen in Regional- und Landesparlamenten. Die Verwirklichung dieses Postulats wollen die gehandicapten Mitglieder der politischen Parteien in Europa bald erreichen. In Deutschland können sie auf allseits bewunderte Leistungen der wenigen Frauen und Männer in der Kommunal-, Landes- und Bundespolitik verweisen.

    Da ist zum Beispiel der seit einem Autounfall querschnittsgelähmte Karl-Wilhelm Schmidt, CDU-Stadtverordneter aus dem nordhessischen Wolfhagen, wo er von sei¬nen Fraktionskollegen die 48 Stufen in den Plenarsaal hinaufgetragen wer¬den muss. Weitere vier Jahre brauchte er als Behindertenbeauftragter, bis er alle Parlamentarier und die Stadtverwaltung zum Einbau eines Lifts in dem historischen Gebäude bewegen konnte. Heute ist Wolfhagen dank Schmidt nahezu barrierefrei.

    Oder nehmen wir einen Prominenteren – Wolfgang Schäuble, Bundesfinanzminister, ebenfalls querschnittsgelähmt seit dem Attentat eines geistig verwirrten Mannes vor genau zwanzig Jahren, immer wieder gezeichnet durch gesundheitliche Rückschläge infolge seiner schweren Verletzungen. Ihm fällt es schwerer, bundesweit als behinderungspolitischer Protagonist in Erscheinung zu treten, wofür seine weniger bekannten Leidensgenossen nicht immer volles Verständnis aufbringen.

    Die unterschiedliche Art, wie CDU-Politiker Wolfgang Schäuble und Karl-Wilhelm Schmidt, die auf tragische Weise Rollstuhlfahrer geworden sind, mit der eigenen und der Behinderung anderer Menschen umgehen, zeigt, dass die Einstellung gegenüber gehandicapten Menschen kaum etwas mit Parteipolitik zu tun hat.

    Mainz, Maintal, Erlensee und Marburg sind weitere Stationen wie jene eingangs erwähnte Kommune Wolfhagen, in denen behinderte Frauen und Männer als Mitglieder des Stadtparlaments oder Behindertenbeauftragte tätig sind.

    Die ehrenamtliche Tätigkeit der Rollstuhlfahrerin Marita Boos-Waidosch in Mainz fand sogar im Frühjahr 2005 eine internationale Würdigung durch eine UNESCO-Organisation. Unter den 48 für den ideellen Preis nominierten Gemeinden Europas erlangte die Hauptstadt von Rheinland-Pfalz den zweiten Platz unter den vorbildlichen "barrierefreien Städten".

    Durch Leistungen und Überzeugungsarbeit hat die 1953 geborene und mit zwei Jahren an Kinderlähmung erkrankte Rollstuhlnutzerin Marita Boos-Waidosch viele Schwierigkeiten im eigenen und dem Alltag anderer gehandicapter Menschen gemeistert. Trotz Fehlens einer Rollstuhlfahrer-Toilette nahm sie nach dem Handelsschulabschluss eine Stelle als Sparkassenangestellte in Cochem-Zell an der Mosel an;

    "Weil ich gern arbeiten wollte, trank ich tagsüber so wenig, dass ich nicht zur Toilette musste", "

    Sprecher:
    …erzählt sie. Und nach acht Jahren endlich erreichte sie den Einbau einer Behinderten- Toilette. Das Geld dafür zahlte das städtische Integrationsamt aus der Ausgleichsabgabe der Arbeitgeber, die nicht die vorgeschriebene Zahl an schwerbehinderten Menschen einstellen.

    Nach der Heirat mit dem nicht behinderten Volkswirt Dieter Waidosch und der Geburt ihrer Tochter gab sie den Beruf auf und zog mit der Familie für ein Jahr nach Amerika. In Washington erlebte sie erstmals eine barrierefreie Umwelt. Sie konnte ohne Hilfe mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, einkaufen und Veranstaltungen besuchen.

    Marita Boos-Waidosch ist ehrenamtliche Behindertenbeauftragte von Mainz. Darüber hinaus berief sie Ministerpräsident Beck mit Zustimmung aller Landtagsfraktionen zur Landesbehindertenbeauftragten.

    Es gibt andere Beispiele: In Marburg an der Lahn prägen seit dem 1. Weltkrieg viele blinde und anderweitig behinderte Menschen das Geschehen. So ist hier 1958 die Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung entstanden.

    1916 gründete hier der durch einen Arbeitsunfall erblindete Carl Strehl mit der deutschen Blindenstudienanstalt das weltweit erste Gymnasium für nichtsehende Menschen. Der blinde Schlagersänger und Pianist Wolfgang Sauer und der Richter am Bundesgerichtshof Hans-Eugen Schulze machten in der Blindenstudienanstalt ihr Abitur.

    Auch der kriegsblinde Vizepräsident des Bundessozialgerichtes von 1982 bis 1988, Erwin Brocke, bekam in der Blindenstudienanstalt das Rüstzeug für sein Jurastudium mit abschließender Promotion. Von 1956 bis 1961 war er Sozialgerichtsdirektor vor Ort.

    Die Stadt Marburg installierte Rampe und Aufzug, nachdem zwei Körperbehinderte zu Stadtverordneten gewählt wurden.

    ""Als ich 1997 ins Stadtparlament kam, mussten die Sitzungen meinetwegen in die hindernisfrei zugänglichen Säle des Landratsamts verlegt werden","

    sagt Pandelis Chatzievgeniou.

    Der Politologe, 1964 in Griechenland mit Glasknochen, einer Bindegewebsschwäche, geboren und in Deutschland aufgewachsen, kam 1982 nach seiner Erblindung in die Universitätsstadt, um an der Deutschen Blindenstudienanstalt das Abitur zu machen. Gemeinsam mit dem grünen Stadtverordneten Jürgen Markus warb der Sozialdemokrat Chatzievgeniou mit Erfolg für behindertengerechte Umgestaltung von Einrichtungen.

    Die Zahl hindernisfreier Kommunen könnte erheblich größer sein, gäbe es nicht das Vorurteil: "behindert = leistungsgemindert." Denn: Wie in den meisten Gesellschaftsfeldern, bei der Jobsuche und am Arbeitsplatz müssen gelähmte, gehörlose, blinde oder stark seh-, hör- oder sprachbehinderte Menschen auch in den politischen Parteien doppelt und dreifache Leistungen erbringen, damit sie eine Chance bekommen.

    Deshalb haben es auch in der Bundesrepublik nur wenige Frauen und Männer mit schweren Handicaps zu Parlamentsmandaten gebracht. Sie konnten mit eigenen Beispielen Vorurteile ausräumen und die Exekutive zum Abbau von Barrieren antreiben.

    Verhältnismäßig leicht ist es für sie, in kleineren Städten für Kommunalvertretungen nominiert zu werden. In den Landtagen und dem Bundestag sind Abgeordnete mit sichtbaren Behinderungen eine seltene Ausnahme. Nur kriegsbeschädigten Menschen gestand man in der Vergangenheit einiges zu.

    So gab es auch zwei kriegsblinde Parlamentarier in der Bundesrepublik. Von 1946 bis 1954 gehörte Dr. Konrad Gumbel für die SPD dem Hessischen Landtag an und der Marburger Jurist Hans Wissebach war von 1969 bis 1976 CDU Bundestagsabgeordneter. Konrad Gumbel sorgte dafür, dass die staatlichen Stellen neben den kriegsversehrten auch die anderen behinderten Menschen bei den erforderlichen Lebenserleichterungen nicht vergaßen.

    Drei Jahrzehnte später zog auf der SPD-Landesliste die nichtsehende Erika Fleuren in den Wiesbadener Landtag ein. Als in einer Debatte über den gemeinsamen Schulbesuch behinderter und nichtbehinderter Kinder die damaligen Oppositionsparteien CDU und FDP bezweifelten, dass Blinde mit Sehenden zusammen lernen können, ergriff Erika Fleuren das Wort und führte als Beispiel ihren eigenen Werdegang an.

    Beruflich hatte Fleuren die Ausbildung in der Verwaltung mit der Note "1" abgeschlossen und es beim Versorgungsamt bis zur Amtfrau gebracht. Auch in der Wiesbadener Stadtverordnetenversammlung konnte sie sich einen Namen machen, bis ihr zuletzt der Listenplatz 3 hinter dem Oberbürgermeister und dem Fraktionsvorsitzenden zugestanden wurde. Erika Fleuren sei nicht wegen, sondern trotz ihrer schweren Behinderung in den Landtag gewählt worden, betonte der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Armin Clauss.

    Ihr Beispiel fand bislang aber leider nur eine Nachahmung. In Mecklenburg-Vorpommern schickte 1998 Die Linkspartei, vormals PDS, Irene Müller in den Landtag, die durch eine Diabetiserkrankkung spät erblindet war. Sie kümmerte sich um landesrechtlich mögliche Regelungen zur beruflichen und gesellschaftlichen Integration gehandicapter Menschen.

    Nach vorübergehendem Ausscheiden aus dem Landtag gelang ihr 2006 ein Comeback. Für die FDP kam zudem bei dieser Wahl der 43-jährige Rollstuhlfahrer Ralf Grabow in den Landtag. Der ausgebildete Elektromonteur macht sich für die gemeinsame Erziehung von Menschen mit und ohne Behinderungen stark. Müller und Grabow kämpfen für ein barrierefreies Mecklenburg-Vorpommern als Urlaubsland für alle Menschen.

    Ein anderes parlamentarisches Beispiel ist der durch einen Unfall querschnittsgelähmte Jurist Horst Frehe, der 1987 für die Grünen in die Bremer Bürgerschaft gewählt wurde. Damals forderte er ein höhenverstellbares Rednerpult, denn von seinem Platz aus wollte er nicht sprechen. Die Verwaltung musste den Wunsch erfüllen.

    Davon profitierte auch der über zwei Meter große Senator und spätere Bürgermeister Henning Scherf. Frehe machte sich im UN-Jahr der Behinderten 1981 für den Barrierenabbau stark und warb immer wieder für das verstellbare Pult und für Rampen in öffentlichen Gebäuden, für Ampelanlagen mit akustischen Signalen und Leitstreifen für blinde Menschen zu den Unterführungen.

    Nach seiner Berufung zum Sozialrichter in der Hansestadt kämpfte er in seinen Ehrenämtern um Bürgerrechte für behinderte Menschen nach dem Vorbild der USA. Zusammen mit den Kasseler Richtern Andreas und Gunter Jürgens – beide wegen Glasknochen Rollstuhlnutzer – und der ohne Hände und Arme aufgewachsenen Juristin Theresia Degener gründete Frehe das Forum behinderter Juristinnen und Juristen.

    Ein in Anlehnung an das amerikanische Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetz behinderter Menschen von 1990 entworfenes Regelwerk brachte dem Forum nach dem Regierungswechsel 1998 viel Lob von allen Bundestagsfraktionen ein. Deshalb berief der SPD-Bundestagsabgeordnete und Behindertenbeauftragte der Regierung Schröder, Karl Hermann Haack, Horst Frehe und Andreas Jürgens in eine Arbeitsgruppe, die das parteiübergreifend beschlossene Behindertengleichstellungsgesetz vom 1. Mai 2002 erarbeitete.

    Horst Frehe wurde mit der Leitung der nationalen Koordinierungsstelle des proklamierten "Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen" betraut. Bei einem Gespräch, in dem er und der Deutsche Behindertenrat mit dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder eine Bilanz des Jahres zogen, beharrte Justizministerin Brigitte Zypries auf dem Standpunkt, in das Antidiskriminierungsgesetz nur die EU-Vorgaben Geschlecht, Rasse und Herkunft aufzunehmen.

    ""Dann werden zwar meine dunkelhäutigen Freunde nicht mehr von Türstehern der Diskotheken zurückgewiesen. Aber mich werden sie nicht hineinlassen, weil sie den Anblick eines Rollstuhlfahrers den Gästen nicht zumuten wollen, und das nicht als verbotene Diskriminierung gilt","

    erklärte Frehe. Und Kanzler Schröder widersprach seiner Justizministerin:

    ""Es leuchtet mir ein, Brigitte, da muss auch die Behinderung in das Antidiskriminierungsgesetz."

    17 Jahre nach seinem Ausscheiden als erster Abgeordneter im Rollstuhl in einem deutschen Landesparlament zog Horst Frehe 2007 für die Grünen erneut in die Bremer Bürgerschaft ein. Andreas Jürgens – wie sein Bruder nur 1,50 Meter groß - wurde bei der Landtagswahl 2003 für die Grünen in den Hessischen Landtag gewählt und ist ihr rechts- und behindertenpolitischer Sprecher.

    "Ich bin aus dem Kinderwagen gleich in den Rollstuhl umgestiegen, da müssen Sie mir hier schon die Wege ebnen","

    scherzte er beim Landtagsdirektor. Jürgens’ Tätigkeit machte Barrieren für Behinderte im hessischen Parlament deutlich: Im mehrfach umgebauten und erweiterten Landtagsgebäude mit seinen zahlreichen Ebenen und Treppen standen Rollstuhlfahrer wie er öfter vor kaum überwindbaren Hindernissen und mussten Umwege zum nächsten Fahrstuhl in Kauf nehmen. Um ihm die Arbeit zu erleichtern, wurden Umbauarbeiten im treppenreichen Gebäudekomplex vorgenommen.

    Dazu gehörten eine Rampe, um Stufen zwischen verschiedenen Gebäudeteilen zu überwinden und ein höhenverstellbares Rednerpult. Als inzwischen angesehener Rechtspolitiker schaffte Jürgens bei der Landesversammlung der Grünen für die Landtagswahl 2008 einen beachtlichen achten Listenplatz.

    Eine Induktionsanlage, die das Geschehen über Infrarotstrahlen in Kopfhörer überträgt, hatte die Landtagsverwaltung erst mit dem Einzug des contergangeschädigten schwer geh- und hörbehinderten Grünen-Nachrückers Andreas Kammerbauer 1998 im Landtag installiert. Davon profitieren heute auch die hörbehinderten Landtagsbesucher.

    ""Solche eigentlich selbstverständlichen Erleichterungen sind der Bürokratie auch für Mandatsträger mit erheblichen Handicaps noch schwer abzuringen","

    beklagte der fast erblindete Kasseler Stadtverordnete der Grünen, Ottmar Miles-Paul. Während seiner Tätigkeit als Geschäftsführer der deutschen Sektion der Interessenvertretung "Selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen in Deutschland" war es ihm trotz internationaler Unterstützung nicht gelungen, die größten Hindernisse in seiner Heimatstadt abzubauen. Deshalb engagierte er sich für die Grünen-Liste im Stadtparlament.

    Bald wurde er zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden gewählt. Nun trugen seine Bemühungen um die Beseitigung von Barrieren für Menschen mit Behinderungen Früchte. Heute sind die Dienstgebäude, Bahnen und Busse in der Nordhessenmetropole für Menschen jeden Alters mit und ohne Behinderungen problemlos zugänglich.


    ""Da hat mir vor allem die Gründerin der weltweiten Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben, Rollstuhlnutzerin Judith Heumann, sehr geholfen", betont Miles-Paul. Bei ihren Besuchen in der Bundesrepublik warb die Vizeministerin für Bildung und Rehabilitation der Regierung Bill Clintons auch in Kassel für die Vorteile der Barrierefreiheit. Nun ist der Besuch der Kultureinrichtungen wie zum Beispiel der "Documenta" für behinderte Menschen ebenfalls kein Problem mehr."

    Auf Landesebene ist in Hessen ein solcher Zustand bis heute leider noch ein Wunschtraum. Denn trotz unablässigem Bemühen der beiden Abgeordneten der früheren rot-grünen Koalition Erika Fleuren und Andreas Kammerbauer verhinderten die Ministerialbeamten im Finanz- und Sozialministerium das Hessische Behindertengleichstellungsgesetz. Es hätte die spätere viel teurere Beseitigung von Hindernissen verhindern können.

    2003 verabschiedeten CDU und FDP statt des von Andreas Jürgens erarbeiteten Entwurfs ein abgespecktes Regelwerk, das die Kommunen ausspart, obwohl sich die Hindernisse dort unmittelbar auf die Lage der Betroffenen auswirken. Weshalb betroffene Frauen und Männer viel Mühe und Überzeugungskraft aufbringen müssen, um ohne eine gesetzliche Handhabe die nötigen Erleichterungen zu veranlassen.

    Etwas einfacher ist es – wie die geschilderten Beispiele zeigen –, wenn Menschen mit Behinderungen Mitglied des Gemeindeparlaments oder des Magistrats sind. Hans-Joachim Prassel ist einer von ihnen. Er musste gleich mit zwei Baustellen fertig werden. Die Erste, der Hessische Rundfunk, bei dem er als Vorsitzender der Schwerbehindertenvertretung tätig ist, hat Prassel so gut gemanagt, dass selbst ARD-Intendanten stolz darauf hinweisen.

    Für die zweite Baustelle, die Stadt Bad Vilbel bei Frankfurt, wo er ehrenamtlicher SPD-Stadtrat ist, muss der Rollstuhlfahrer noch viel Überzeugungsarbeit aufbringen, um die Dinge voranzubringen. 1984 hatte der im Restaurantbereich des Hessischen Rundfunks arbeitende Prassel einen Badeunfall erlitten. Er wurde querschnittsgelähmt. Nach der Umschulung zum Industriekaufmann kehrte er zurück zum HR.

    Die Personalabteilung musste in dem damals für Menschen mit jeglicher Behinderung absolut ungeeigneten denkmalgeschützten Gebäude einen Arbeitsplatz schaffen. Das gelang unter größter Anstrengung nur provisorisch. Bei einer 1990 von dem HR, der ARD und der Stiftung Querschnittslähmung veranstalteten Benefiz-Radtour prominenter Persönlichkeiten aus Sport, Kunst und Politik konnten die mit Hand-Bike teilnehmenden Frauen und Männer nicht in das Gebäude hineinfahren.

    Das gab den letzten Anstoß, bei den geplanten umfassenden Umbauarbeiten den gesamten Komplex völlig barrierefrei zu gestalten. Hans-Joachim Prassel überwachte alle Schritte, damit nichts vergessen wurde. Parallel dazu überzeugte er die Verantwortlichen von der Notwendigkeit, in allen Sparten Menschen mit Behinderungen einzustellen. Damals musste der HR noch Ausgleichsabgaben an das städtische Integrationsamt zahlen, weil er kaum schwerbehinderte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigte.

    Heute weist die Rundfunkanstalt statt der gesetzlich vorgeschriebenen fünf Prozent gute sieben Prozent aller ihrer Stellen mit gehandicapten Menschen vor. Intendant Helmut Reitze, Direktoren, Personalrat und die Aufsichtsgremien weisen immer wieder auf die entscheidenden Impulse Hajo Prassels hin.

    In seinem Wohnort Bad Vilbel hat Prassel als ehrenamtlicher SPD-Stadtrat schon die mit absoluter Mehrheit regierende CDU dafür gewonnen, seine Merksätze über die Barrierefreiheit in das neue sogenannte Leitbild der Stadt aufzunehmen, das vom Stadtparlament 2007 mit großer Mehrheit beschlossen wurde.

    Die Verwaltung muss nun Vorgaben wie diese umsetzen:

    "Im gesamten Stadtgebiet ist den Anforderungen der Barrierefreiheit zu entsprechen. Barrierefreiheit bildet auch die Grundlage für alle baulichen Maßnahmen in der Stadt Bad Vilbel."

    Logische Begründung: Ein Geschäft, ein Bürgerhaus, eine Veranstaltungsstätte, eine Turnhalle oder eine Gaststätte, die nicht erreichbar sind, stellen nicht nur eine faktische Ausgrenzung dar, sondern bedeuten auch für den Inhaber oder Betreiber den Verlust von Teilen der möglichen Kundschaft.

    Eine weiteres Beispiel:
    Was dem stark sehbehinderten Stadtverordneten Ottmar Miles-Paul in Kassel gelang, versucht er seit November 2007 als Landesbehindertenbeauftragter auch in Rheinland-Pfalz zu erreichen. Währenddessen bedauern die Mitglieder des Forums Behinderter Juristinnen und Juristen, dass Wolfgang Schäuble als Bundesinnenminister auf ihre Bitte nicht reagierte, mit ihnen gemeinsam über die erforderlichen Schritte zu Erleichterungen im Alltag zu beraten.

    Was auf diesem Gebiet positiv geleistet werden könnte, zeigen Australien, Kanada und die USA. In Großbritannien und Skandinavien können behinderte Menschen auch höchste Staatsämter ausüben. In Deutschland ist es gleichfalls grundsätzlich möglich, dass gelähmte, gehörlose, blinde, stark hör- und sehbehinderte Frauen und Männer mit entsprechender Qualifikation politische Ämter auf allen Ebenen ausüben können.

    Behinderte Menschen als Parlamentarier oder Regierungsmitglieder merken rasch, wenn Beschlüsse – vielleicht ungewollt - ihre Fähigkeiten und Leistungen beeinträchtigen können.

    Ein krasses Beispiel an Ignoranz von Ministerialbeamten entdeckte der durch einen Unfall seit dem 17. Lebensjahr querschnittsgelähmte PDS-Bundestagsabgeordnete Ilja Seifert im Mai 2000. Trotz des Benachteiligungsverbots von Behinderten im Grundgesetz hatten Beamte aus dem Bundesfinanzministerium eine diametral entgegen stehende Vorschrift aus der NS-Zeit übernommen.

    Während allenthalben über die Verwirklichung dieses Benachteiligungsverbots diskutiert wurde, wies Seifert bei der dritten Lesung des 7. Steuerberateränderungsgesetzes auf die Vorschrift hin, wonach Menschen mit einem körperlichen Gebrechen trotz bestandener Prüfungen nicht Steuerberater werden dürfen.

    Dieses bis dahin niemandem aufgefallene Verbot trieb dem Behindertenbeauftragten Haack die Zornesröte ins Gesicht. Es wurde mit dem Gleichstellungsgesetz eliminiert. Um dergleichen bei der Abfassung der u.a. von Deutschland initiierten UN-Konvention "Menschenrechte behinderter Menschen" zu vermeiden, entsandte die Bundesregierung neben Karl Hermann Haack und seiner Nachfolgerin Karin Evers-Meyer als Bundesbehindertenbeauftragte auch die Rechtswissenschaftlerin Theresia Degener in den entsprechenden Ausschuss der Vereinten Nationen.

    Wegen der außergewöhnlichen Leistungen, die sie trotz der Schwere ihrer Behinderung erbringt, hat sich die promovierte Menschenrechtsexpertin weltweites Ansehen erworben. Zum Umblättern ihrer Bücher und Redemanuskripte braucht Theresia Degener die Füße. Denn die promovierte Juristin ist ohne Hände und Arme aufgewachsen.

    Am 13. Dezember 2006 hatte die Mutter zweier Söhne einen besonderen Grund zur Freude. Mit großer Mehrheit verabschiedete die UN-Mitgliederversammlung die Konvention zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte für Menschen mit Behinderung. Theresia Degener hatte als eine der Vertreterinnen der Bundesrepublik in dem Sonderausschuss der Vereinten Nationen wesentlich zu deren Entstehen beigetragen.

    ""In acht hart geführten Verhandlungen haben wir über vier Jahre die Mehrheit von der Notwendigkeit dieser Konvention überzeugen müssen","

    berichtete die Professorin. Deutschland hat als einer der ersten Staaten im März 2007 die Konvention in New York unterzeichnet. Nunmehr haben behinderte Menschen einklagbare Rechte.

    ""Die universalen Kenntnisse und das internationale Ansehen der Menschenrechtsexpertin Theresia Degener haben die Verhandlungen oft erleichtert","

    wurde hinterher betont. Die 1961 in einem Dorf in der Nähe von Münster/Westfalen geborene contergangeschädigte Theresia kämpfte von Kindesbeinen an für die Akzeptanz gehandicapter Menschen in der Gesellschaft und wehrte sich gegen Prothesen und Aussonderung. Volksschule und Gymnasium besuchte sie mit nicht behinderten Kindern in ihrem Geburtsdorf und in Münster, wo sie 1980 mit der Durchschnittsnote von 1,6 das Abitur ablegte.

    Anschließend begann sie an der Universität in Frankfurt mit dem Jurastudium, das sie 1986 abschloss. Danach setzte sie es an der Universität Berkeley in Kalifornien fort und machte dort 1988 ihren Master of Laws. Das war ihre kleine Doktorarbeit in amerikanischem Recht; die große schrieb sie vier Jahre später. Mit einer Dissertation über "Das Recht der ambulanten Pflege in der Bundesrepublik" erwarb sie 1992 den Doktortitel.

    Als 1981 im UNO-"Weltjahr der Behinderten" Politiker und Verbandsfunktionäre sich mit Reden über behinderte Menschen zu profilieren versuchten, initiierte Degener mit anderen Frauen und Männern ein "Krüppeltribunal". Bei der Veranstaltung zum offiziellen Beginn in Dortmund ketteten sie sich an die Bühne und protestierten, dass über sie und nicht mit ihnen gesprochen wurde.

    ""Wir wollten selbst unsere Probleme und Lösungsvorschläge vortragen!","

    betont sie. 22 Jahre später im "Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen" 2003 durften sie dann das gesamte Geschehen selbst gestalten. Der Bremer Sozialrichter und Rollstuhlfahrer Horst Frehe, damals als Student im Krüppeltribunal, leitete die nationale Koordinationsstelle des proklamierten Jahres in Bonn.

    Theresia Degener referierte bei etlichen Veranstaltungen über ihre Forschungen zur Lage behinderter Menschen in der Welt. Zwischen dem ihnen gewidmeten Weltjahr und dem Europajahr erkämpften behinderte Menschen in der Bundesrepublik die Aufnahme eines Benachteiligungsverbots in Artikel 3 Grundgesetz, einheitliche Sozialleistungen im Sozialgesetzbuch IX, Bundes- und Landesgleichstellungsgesetze.

    Die blinde Erika Fleuren, die nach neunjähriger Abgeordnetenarbeit 2003 nicht mehr für den Hessischen Landtag kandidierte, ließ sich wegen ihres Ansehens in Wiesbaden auf Wunsch der SPD bei der Kommunalwahl 2006 auf Platz 45 der Stadtverordnetenliste aufstellen. Mit dem nun auch bei den Kommunalwahlen in Hessen praktizierten Verfahren des Kumulierens und Panaschierens, des Vorholens und Streichens von Kandidaten, wurde Fleuren von den Wählerinnen und Wählern auf Platz 23 der Liste vorgezogen und schaffte damit gerade noch den Sprung ins Stadtparlament.

    Und Andreas Jürgens? Nach der vorzeitigen Auflösung des Landtags nominierten die hessischen Grünen den Rollstuhlfahrer mit großer Mehrheit für Platz 8 ihrer Landesliste für die Wahl 2009.

    Theresia Degener, Horst Frehe, die Brüder Andreas und Gunter Jürgens sowie Ottmar Miles-Paul gelten als angesehene Kritiker, wenn Bürokraten die hart erkämpften Erleichterungen für behinderte Menschen zu umgehen versuchen. Mit ihrem unermüdlichen Engagement haben die gehandicapten Politikerinnen und Politiker erheblich zur Aufnahme des Merkmals "Behinderung" in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz vom August 2006 beigetragen.

    Zu diesem Diskriminierungsverbot im Privatrecht leistete Theresia Degener, die die deutsche Sektion der weltweiten Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben und das Forum Behinderter Juristinnen und Juristen mit gründete, zielführende Beiträge. Ihre Argumente vermochte kaum jemand zu widerlegen. Im Sommer 1999 und 2005 forschte und lehrte sie für jeweils ein Jahr über die Rechte behinderter Menschen in der Welt an der Universität Berkeley in Kalifornien und der University of the Western Cape in Kapstadt.

    Dabei hatte sie Fakten gesammelt. In der Bundesrepublik möchte sie das Studium des Themas "Mensch und Behinderung" ebenfalls etablieren. In der 14. Legislaturperiode des Bundestages war sie als Expertin Mitglied der Enquetekommission Recht und Ethik der modernen Medizin. Heute ist sie Professorin für Staats-, Verwaltungs- und Organisationsrecht an der evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum tätig. Das Verhandlungsergebnis im UNO-Ausschuss fasst sie so zusammen:

    "Mit der neuen Menschenrechtskonvention wurde der Universalismus der Menschenrechte eingelöst, indem auch behinderte Menschen nun gleichberechtigt geschützt werden."

    Für ihre Leistungen wurde Theresia Degener am 4. Oktober 2005 von Bundespräsident Horst Köhler in Berlin das Bundesverdienstkreuz überreicht. Die Urkunde nahm sie mit den Füßen entgegen.