Remme: Das ist schlechtes Handwerk.
Raffelhüschen: Das ist schlechtes Handwerk, zumal wir, sagen wir mal, nicht unbedingt so einen Nachbesserungsbedarf gehabt hätten, wenn wir unsere Schwankungsreserve nicht aus anderen finanziellen Nöten in den letzten fünf bis sechs Jahren auf das Niveau von 80 Prozent einer Monatsausgabe heruntergefahren hätten.
Remme: Ist die Schwankungsreserve das, was jetzt erneut reduziert werden soll?
Raffelhüschen: Das ist genau wieder der Schritt sozusagen in die falsche Richtung, denn wenn wir von 80 auf 50 gehen, vergessen wir, dass wir eigentlich nur kurzfristig auf 80 hätten gehen wollen, und wenn wir heute über die 19,5 oder 19,3 diskutieren, vergessen wir, dass wir die Ökosteuer zahlen, und die Zahlung der Ökosteuer hätte uns eigentlich auf 18,7 anstatt 19,5 bringen müssen.
Remme: Herr Raffelhüschen, Sie sind Wissenschaftler und müssen keine Rücksicht auf Klientel oder Landtagswahlen nehmen. Erscheint Ihnen das, was heute im Bundestag in Sachen Rentenbeitrag beschlossen wird, dennoch als halbwegs sinnvoll?
Raffelhüschen: Nun, wir hatten ja die zwei Instrumente schon betrachtet und ganz offensichtlich ist weder die Beitragserhöhung noch die Verminderung der Schwankungsreserve sinnvoll. Noch weniger sinnvoll allerdings und ganz, ganz schlecht ist im Grunde genommen die Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze, denn hier schließt man kurzfristig ein kleines Defizit, und in der mittleren Frist, das heißt nach wenigen Jahren schon, hat man riesengroße Defizite aus den Ansprüchen, die aufgrund der höheren Beitragsbemessungsgrenze nunmehr entstehen.
Remme: Wie erklären Sie sich diese Politik?
Raffelhüschen: Nun, im Grunde genommen ist es eine Politik der hektischen Einnahmeproblemklärung, und das ist eine Politik, die jetzt gemacht werden muss, weil man einfach monatelang oder vielleicht auch jahrelang die Zeichen der Zeit nicht gesehen hat. Langfristig gesehen ist das immer noch so ein leichter Wind, denn die Orkane, die da für die Rentenversicherung kommen und vor allen Dingen für die anderen umlagefinanzierten Systeme, die sind noch gar nicht da und die werden wirklich Orkane.
Remme: Die Beiträge sind jetzt schon zu hoch. Alle klagen. Bert Rürup, der Vorsitzender der neuen Reformkommission für die Sozialsysteme sagt: Die Erhöhung des Zugangsalters ist die einzige Stellschraube, mit der das korrigiert werden kann. Stimmt das so?
Raffelhüschen: Das ist die Hauptstellschraube, mit der wir jetzt weiter operieren werden, und das ist völlig richtig. Es ist vielleicht nicht ganz klar, ob wir nun wirklich auf zwei Jahre oder vielleicht auf zweieinhalb hochgehen müssen. Ganz klar ist: Wir wollen von dem Rentenzugangsalter 59 heute hoch auf, sagen wir mal, 62, und dazu ist es wichtig, dass wir das gesetzliche Zugangsalter von 65, wo heute noch 3 Prozent - nicht mehr - der Bevölkerung arbeiten auf vielleicht 67 hoch setzen. Es kann sein, dass wir es schneller hoch setzen müssen. Es kann sein, dass wir es noch höher setzen müssen. Es kann aber auch sein, dass wir stattdessen vielleicht auch höhere Abschläge bei vorgezogenem Ruhestand diskutieren. Das sind aber alles dieselben Mechanismen.
Remme: Das ist vor allen Dingen alles extrem kompliziert und verwirrend, zumal wir jetzt über zwei verschiedene Zugangsaltersstufen geredet haben, nämlich einmal die tatsächliche und einmal die gesetzliche. Warum überhaupt diese Lücke?
Raffelhüschen: Nun, die Lücke entsteht schlichtweg dadurch, dass wir sagen, wir wollen nicht einen fixierten Rentenzugang. Der Rentenzugang ist 65 und darauf beziehen wir im Grunde genommen 100 Prozent des Leistungserhalts. Wenn man früher geht, bekommt man Abschläge. Das sind die 3,6 Prozent pro Jahr. Wenn man dies jetzt nicht auf 65, sondern auf 67 bezieht, dann würden zwei zusätzliche Jahre mit 3,6 Prozent Abschlag entstehen, und das heißt, dass die Leute sich gut überlegen, ob sie den Abschlag in Höhe dann von zwei mal 3,6, also 7,2 Prozent hinnehmen oder ob sie vielleicht noch ein oder zwei Jahre länger arbeiten.
Remme: Ist das dann eigentlich nichts anderes als eine Rentensenkung?
Raffelhüschen: Im Grunde genommen ist die Erhöhung des Rentenzugangsalters und die Rentensenkung wissenschaftlich gesehen dasselbe. Aber die Freiwilligkeit der Entscheidung steckt da dahinter. Die Leute werden dann selber schon zu entscheiden wissen, ob sie weiterhin früher in Rente gehen oder ob sie dann als eine Art Antwort auf diese Abschläge entsprechend länger arbeiten.
Remme: Bert Rürup mahnt grundsätzliche Reformen an, keine Einzelmaßnahmen. Ulla Schmidt und Olaf Scholz sagen, das ist nicht nötig. Vielleicht noch Einzelmaßnahmen, aber die große Reform liegt hinter uns. Was sagen Sie?
Raffelhüschen: Die große Reform in der Rentenversicherung haben wir zur Hälfte bewältigt, und die ganz großen Strukturreformen haben wir nicht in der Rente. Da können wir uns wahrscheinlich noch auf Dinge einigen, die die Nachhaltigkeit herstellen. Die ganz großen Probleme haben wir in der Gesundheit und in der Pflege.
Remme: Auf Dinge einstellen, die die Nachhaltigkeit herstellen - was heißt das?
Raffelhüschen: Das heißt, dass wir unseren Kindern ein System hinterlassen, das sie einigermaßen vernünftig zu tragen in der Lage sind.
Remme: Muss diese Reform, die also dann noch vor uns liegt, zum Beispiel die Kinderzahl, die Erziehungs- und Betreuungsleistung der Eltern stärker berücksichtigen?
Raffelhüschen: Das ist etwas, was wir flankierend machen müssen. Wir müssen flankierend die familienpolitischen Leistungen, sagen wir mal, hinüberretten, denn alle anderen Leistungen des Staates werden in der Zukunft gekappt. Ob wir die familienpolitischen Komponenten zu stark in die Renten- oder in die Gesundheitsdebatte werfen sollten, da warne ich vor, weil das schlichtweg eine Überforderung des Systems ist. Rentensysteme sollen Renten sichern und nicht Familienpolitik betreiben.
Remme: Herr Raffelhüschen, wir haben in dieser Woche einen Streit zwischen der SPD und den Grünen erlebt, unterschiedliche Vorstellungen, wer hier Lasten zu tragen hat. Hätte die Beteiligung der Rentner an dem jetzigen Notplan nicht allein schon den politischen Vorteil gehabt, dass man die Lasten eben auf mehr Schultern verteilt hätte?
Raffelhüschen: Das ist unter allen Umständen zu machen, und wir werden das auch sehen. Es geht nämlich in der Diskussion der Rentenreform nicht nur um die entsprechende Erhöhung des Rentenzugangsalters. Das belastet ja die älteren Erwerbstätigen. Wir müssen gleichzeitig diskutieren, wo wir die jüngeren Erwerbstätigen mit in die Entlastung der zukünftigen Generationen einbeziehen und welches Maß die älteren noch zu geben haben. Das Maß der jetzigen Rentnergeneration, das die zu der Entlastung der zukünftigen Generation beizutragen haben, wird etwas geringer ausfallen als das der anderen, weil sie durch die Riester-Reform auch verminderte Rentensteigerungen in den Jahren 2002 bis 2008 hinnehmen müssen.
Remme: Na, jetzt werden die Beitragszahler auf die Ökosteuer verweisen.
Raffelhüschen: Das ist völlig richtig und das verweisen sie zurecht. Das heißt auf gut Deutsch: Wir müssen noch eine Bringschuld, auch der Alten, mitfordern. Ich bin mir auch sicher, dass die alten Generationen dort mitmachen werden, und zwar schlichtweg deshalb, weil sich diese Generationen schlichtweg noch solidarischer verhalten als die geburtenstarken Jahrgänge, denn letztere sind ja nicht nur langfristig das Problem, sondern auch die Ursache. Sie haben ja nicht die Kinder in die Welt gesetzt, die zur Aufrechterhaltung des Systems eigentlich notwendig wären.
Remme: Man kann nicht gegen die Wirtschaft regieren, hieß es mal vor wenigen Jahren von Seiten des Kanzlers. Wird es bald heißen: Politik gegen Rentner ist chancenlos?
Raffelhüschen: Das gilt eigentlich spiegelverkehrt auch für die anderen Flanke. Wir haben gesehen, dass es eigentlich gar nicht mal so sehr die Grünen waren, sondern sehr junge Abgeordnete, die sich gewehrt haben. Vielleicht ist eine Politik gegen die jungen Erwerbstätigen auch auf Dauer nicht machbar.
Remme: Aber das ist doch politisch gesehen eine Minderheit?
Raffelhüschen: Es ist aber die Minderheit, die das Sozialprodukt erstellt, und deshalb denke ich mir, dass wir dort auch nicht gegen diesen Wind in den nächsten 20 Jahren regieren können.
Remme: Das war der Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen von der Universität Freiburg.
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