
Ein Zebra ist an sich schon ein merkwürdiges Tier, schwarz und weiß zugleich und dann auch noch gestreift. Aber ein Zebra mitten in einer vom Bürgerkrieg gezeichneten Stadt, das seelenruhig herumstreift, unbeeindruckt von Geschützdonner und Granatbeschuss – das ist so merkwürdig, dass es eigentlich etwas zu bedeuten haben müsste.
In Vladimir Vertlibs neuem Roman taucht das Zebra in der Art eines Dingsymbols plötzlich und dann immer wieder auf und soll mit Sicherheit etwas bedeuten. Aber was das sein könnte, bleibt bis zum Schluss ein Rätsel, wie so vieles in diesem Buch. Zum Beispiel, was Vertlib, dem österreichischen Autor mit russisch-jüdischen Wurzeln, eigentlich vorschwebte mit seinem achten Roman „Zebra im Krieg“, dessen vollständiger Titel einen „Roman nach einer wahren Begebenheit“ verspricht.
Man hat Social Media
Immerhin eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Bei der Hauptfigur handelt es sich um einen komisch-tragischen Helden, sprich, einen, der sich selbst, wie man in Österreich sagt, in die Scheißgassn reitet, und zwar gleich zweimal. Paul Sarianidis, so heißt dieser bedauernswerte Mittdreißiger, lebt mit Ehefrau, Mutter und vorpubertärer Tochter in einer namenlosen Stadt, die man sich irgendwo an der östlichen Adria vorstellen kann.
Es gibt Burgberg, Altstadt und Lungomare, Straßenbahnen und Kanäle, gründerzeitliche und sozialistische Repräsentationsarchitektur, Kirchen, Moscheen und ein ehemaliges Judenviertel, nun bevölkert von denen, die sich hier, am Rand von Mitteleuropa, ein besseres Leben oder überhaupt ein Überleben erhoffen. Offenkundig liegt die Corona-Krise hinter den Bewohnern dieser Stadt, dafür haben sie jetzt die Militäraktionen nationalistisch gesinnter Aufständischer. Und sie haben Social Media:
„Als der Hass so groß wurde, dass er nicht mehr zu ertragen war, schauten die Menschen von ihren Bildschirmen und Displays auf und erkannten in den Gesichtern ihrer Nachbarn, Bekannten und der guten Freunde von einst denselben Hass und dieselbe Angst, die sie selbst empfanden. Das ertrugen sie nicht. Sie wurden taub und blind, und das Morden begann.“
Das Internet als Minenfeld
Für Paul erweist sich das Internet als Minenfeld, als die Aufständischen die Stadt erobern. Zu Beginn des Romans hat die Leserschaft den kriegsbedingt arbeitslosen Flugzeugingenieur als liebevollen und einfühlsamen Vater kennengelernt, jetzt entpuppt er sich nachträglich als Kommentarspalten-Troll. Und mit einem seiner Hass-Postings hat er den Falschen bedacht, nämlich den Anführer der Rebellen. Der lässt den verdatterten Paul abholen, demütigt ihn vor laufender Kamera und stellt das Video ins Netz.
In der Folge gerät Pauls Leben gewaltig aus der Bahn. Derweil etablieren die neuen Herrscher der Stadt ein faschistisches Regime und verfolgen die üblichen Verdächtigen: Homosexuelle, Intellektuelle, Geflüchtete und Juden. Hunger, Angst und Triumphalismus herrschen. Als ein altes jüdisches Ehepaar aus der Nachbarwohnung gezerrt wird, will Paul einmal das Richtige tun und setzt sich für die beiden ein – was am Ende dazu führt, dass er sich von den neuen Machthabern erneut vorführen lassen muss.
Aber über Nacht ist der Spuk der Revolution vorbei, die alte Herrschaft ist zurück und spielt sich als Befreier auf, wie die Rebellen es zuvor getan haben. Für Paul, den doppelt Kompromittierten, ist das keine gute Nachricht, und für das Zebra womöglich auch nicht.
„Das Fernsehen spielt Aufnahmen aus der Stadt ein. Auf einer von ihnen sieht man ein Zebra, das langsam durch die Stadt spaziert und sich vom allgemeinen Trubel überhaupt nicht beeindrucken lässt. Ein alkoholisiert wirkender Soldat zielt mit einem Revolver auf das Tier und drückt ab. Die Kamera schwenkt weg. Man sieht nicht, ob er sein Ziel getroffen hat oder nicht.“
„Das Fernsehen spielt Aufnahmen aus der Stadt ein. Auf einer von ihnen sieht man ein Zebra, das langsam durch die Stadt spaziert und sich vom allgemeinen Trubel überhaupt nicht beeindrucken lässt. Ein alkoholisiert wirkender Soldat zielt mit einem Revolver auf das Tier und drückt ab. Die Kamera schwenkt weg. Man sieht nicht, ob er sein Ziel getroffen hat oder nicht.“
Die Realität als Theater der Grausamkeit
Auch, was schließlich mit Paul passiert, erfahren die Leser nicht. Dieses Mal könnte ihm Schlimmeres blühen als traurige Internet-Berühmtheit. Er erwartet es mit innerer Gefasstheit. Die verdankt er Versen, in denen er sein Schicksal spiegelt: von Osip Mandelstam, Selma Meerbaum-Eisinger und anderen Opfern totalitärer Verfolgung.
Die existenziell-elegische Note wird hart gebrochen durch die groteske Komik im Zusammenprall des Einzelnen mit dem Apparat, durch sprachlich nicht immer überzeugende kommentierende Passagen und die zuweilen gewollt humorigen Kabbeleien in Pauls Familie. Dabei geht es Vertlib um Großes – um Wahrheit und Lüge, um Masse, Macht und Moral, um die Conditio humana im Theater der Grausamkeit, zu dem unser Zeitalter geworden ist.
Die existenziell-elegische Note wird hart gebrochen durch die groteske Komik im Zusammenprall des Einzelnen mit dem Apparat, durch sprachlich nicht immer überzeugende kommentierende Passagen und die zuweilen gewollt humorigen Kabbeleien in Pauls Familie. Dabei geht es Vertlib um Großes – um Wahrheit und Lüge, um Masse, Macht und Moral, um die Conditio humana im Theater der Grausamkeit, zu dem unser Zeitalter geworden ist.
Es geht um die Graubereiche, die im Leben so viel wahrscheinlicher sind als Schwarz und Weiß. Doch wie dem Zebra im Krieg, dem entkommenen Zootier, sein Gehege fehlt, fehlt es dem Sujet dieses Buchs, dem digitalen wie dem analogen Totalitarismus, an der angemessenen Form. Es scheint, als habe Vertlib sich nicht entscheiden können oder wollen zwischen Parabel und Satire, Zeitkritik und Entwicklungsroman. Ein merkwürdiges Wesen, dieses Buch.
Vladimir Vertlib: "Zebra im Krieg. Roman nach einer wahren Begebenheit"
Residenz Verlag, Salzburg.
288 Seiten, 24 Euro.
Residenz Verlag, Salzburg.
288 Seiten, 24 Euro.