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Belagerung von Aleppo
"Europa verhält sich, als ob es auf eine Naturkatastrophe schaut"

Sadiqu Al-Mousllie, Mitglied des Syrischen Nationalrats, warnt vor einer humanitären Katastrophe in Aleppo. Die Weltgemeinschaft müsse sich darauf vorbereiten, die Zivilbevölkerung in der belagerten Stadt mit Hilfsgütern zu versorgen, sagte Al-Mousllie im DLF.

Sadiqu Al-Mousllie im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker |
    Der syrische Oppositionsvertreter Sadiqu Al-Mousllie
    Der syrische Oppositionsvertreter Sadiqu Al-Mousllie (dpa / picture-alliance / Stefan Jaitner)
    Al-Mousllie warf den Europäern vor, den syrischen Bürgerkrieg wie eine Naturkatastrophe zu behandeln. Er fordert mehr Druck auf Moskau, damit die Bombardierungen aus der Luft gestoppt werden. Zudem müsse die Weltgemeinschaft auf Russland und den Iran einwirken, damit beide Seiten Assad nicht mehr unterstützen. Die Opposition und die Bevölkerung lehnten eine Zukunft mit dem syrischen Staatspräsidenten ab, sagte Al-Mousllie: "Assad ist eine unerwünschte Person und gehört vor ein internationales Gericht." Man müsse den Syrern zudem die Möglichkeit geben, sich selbst zu organisieren. Die Ereignisse in Syrien seien erst durch die Zurückhaltung der Weltgemeinschaft ermöglicht worden.

    Das Interview in voller Länge:
    Ann-Kathrin Büüsker: Im eingekesselten Aleppo haben die Menschen gestern Autoreifen aufgeschichtet und angezündet, um so eine Art Schutz gegen die angreifenden Kampfflugzeuge zu installieren. Dichte Rauchschwaden lagen über der Stadt. Rund 250.000 Menschen sollen sozusagen zwischen den Fronten stehen – den syrischen Truppen, die die Stadt mit russischer Hilfe eingekreist haben und angreifen, und den Rebellen, die versuchen, die Belagerung zu durchbrechen. Täglich gibt es Berichte über zivile Opfer, die Lebensmittel werden knapp und Hilfsorganisationen warnen vor einer humanitären Katastrophe. Am Telefon ist nun Sadiqu Al-Mousllie, Sprecher des syrischen Nationalrates, der in Deutschland lebt. Guten Morgen, Herr Al-Mousllie!
    Sadiqu Al-Mousllie: Guten Morgen, Frau Büüsker!
    Büüsker: Beide Seiten des Konflikts kämpfen ja seit Monaten erbittert um Aleppo, viel ist von der Stadt gar nicht mehr übrig. Können Sie uns erklären, warum Aleppo strategisch so wichtig ist?
    Al-Mousllie: Aleppo ist die zweitgrößte Stadt Syriens und ist mehr oder weniger die Hauptstadt des Nordens, könnte man sagen, und damit natürlich auch die Verbindung zum Norden und auch eine große Versorgung für dieses Gebiet darstellt durch den Norden, durch die syrisch-türkische Grenze. Aleppo an sich, die Bevölkerung in Aleppo hat sich aufgelehnt gegen das Regime, und das hat dem Regime überhaupt nicht gut gefallen. Deswegen hat es sofort begonnen, dann in Aleppo zu bombardieren. Für das Regime ist Aleppo strategisch die wichtigste Stadt nach Damaskus.
    Büüsker: Aleppo wird seit Monaten bombardiert, jetzt hören wir, dass noch rund 250.000 Menschen dort eingeschlossen sind – warum sind diese Menschen noch dort, warum sind die nicht geflohen?
    Al-Mousllie: Ja, man hört ja Berichte über die Flüchtlinge und wo sie ausharren müssen und wo sie bleiben müssen mit ihren Kindern und ihren Frauen, und man sagt jetzt mittlerweile in Syrien, warum soll ich überhaupt rausgehen, wohin auch noch, und dann sagt man, ich versuche dann einfach, da zu überleben irgendwie in Aleppo. Also viele Leute sagen, es lohnt sich nicht mehr, aus Syrien rauszugehen. Gerade in solchen großen Städten wie in Aleppo gibt es immer noch Fluchtmöglichkeiten innerhalb der Städte beziehungsweise auch den Vororten, und die findet man meistens bei der Opposition oder in verschiedenen Orten auch, wo es etwas ruhiger ist.
    "Ich habe auch den Aufschrei der Weltgemeinschaft vermisst"
    Büüsker: Was passiert, wenn Aleppo fällt?
    Al-Mousllie: Aleppo ist, wie gesagt, die Hauptstadt des Nordens, auch sehr wichtig für die Opposition. Aleppo wird in diesem Fall … wurde vor drei Wochen komplett belagert durch Regimetruppen – da muss ich hier auch sagen, da habe ich auch den Aufschrei der Weltgemeinschaft hier vermisst, wie für andere Städte vor einigen Monaten, wie zum Beispiel in Ain al-Arab oder Kobane, da hat sich die ganze Welt bewegt, um diese Stadt auch zu befreien. Hier von dem Terroristen Assad und seiner Allianz, die er auch mit den russischen Truppen abgeschlossen hat und geschlossen hat gegen die Zivilbevölkerung, da sagt leider niemand was. Und das ist schon sehr enttäuschend für die Opposition und auch für die syrische Bevölkerung. Wir wollen natürlich auch, dass diese Belagerung aufgehoben wird. Deswegen hat sich auch die militärische Opposition auf dem Boden vereint, viele Brigaden und viele kämpfende Gruppierungen haben sich zusammengetan, und deswegen sieht man auch diesen Erfolg bei der Angriffsinitiative vom Süden und auch vom Osten.
    Büüsker: Welche Rolle spielen bei diesen Kämpfen die Islamisten?
    Al-Mousllie: Es gibt unterschiedliche Gruppierungen in Syrien. Das Wort Islamisten an sich, natürlich wird damit auch Daish und Isis bezeichnet, und die militärische Opposition lehnt diese Bezeichnung auch ab, weil die dann sagen, gerade auch was wir gehört haben vor zwei Tagen jetzt, gerade als diese Initiative angefangen hat, hat ISIS Daish, auch die Opposition im Rücken angegriffen. Das heißt, bis jetzt haben Daish und ISIS, besser gesagt, die ganze Zeit im Sinne und zugunsten des Regimes gearbeitet. Es gibt einige Gruppierungen, die auch natürlich in solchen Fällen den Islam als eine Religion für sich sehen, die dann auch denen diese Unterstützung und Halt gibt, aber sind nicht alle Gruppierungen diese Richtung. Und trotzdem, selbst wenn es diese Richtung geben würde, finde ich es auch legitim, wenn die Welt und die Weltgemeinschaft den Menschen in Syrien und auch den Kämpfern in Syrien im Stich lässt, dann bleibt denen einfach nur Gott.
    "Es droht wirklich eine humanitäre Katastrophe in Aleppo"
    Büüsker: Lassen Sie uns noch mal auf die Zivilbevölkerung schauen. Was brauchen die Menschen die Aleppo jetzt?
    Al-Mousllie: In Aleppo brauchen wir auf jeden Fall die humanitäre Versorgung. Die Weltgemeinschaft könnte mindestens sich darauf vorbereiten, dass wenn die Kämpfe etwas ruhiger werden, dass man auch die Zivilbevölkerung in Aleppo schnell versorgen kann. So, wie es jetzt aussieht, die Angriffe vom Westen und vom Süden Aleppos der Opposition haben auch Erfolg. Den Berichten nach kann man auch sagen, dass das auch nicht mehr lange dauert, und dann wäre die Belagerung auch aufgehoben. Die brauchen natürlich auch Hilfsmittel, also Nahrungsmittel und auch Medikamente, denn es droht wirklich eine humanitäre Katastrophe in Aleppo.
    Büüsker: Das waren jetzt die humanitären Aspekte dieses Konflikts, lassen Sie uns noch kurz auf die politischen Aspekte gucken. Es soll wieder Friedensgespräche in Genf geben – können die überhaupt stattfinden, wenn Assads Vertreter weiterhin am Tisch sitzen?
    Al-Mousllie: Wir haben gesehen in den letzten Runden, dass das Ganze immer wieder torpediert wurde an der Frage, was käme dann danach, und dass die Russen und die Iraner sich so stur gestellt haben, dass sie unbedingt Assad dabeihaben wollten. Die Opposition und die syrische Bevölkerung sagen, mit Assad gibt es keine Zukunft in Syrien, Assad ist eine unerwünschte Person, egal ob jetzt auch politisch oder sozial agierend in Syrien. Das ist ein Mörder, er gehört vor ein internationales Gericht. Die Russen haben mit ihrer Intervention letzten Jahres die Sache komplizierter gemacht. Es gibt Leute natürlich und Politiker, die das auch bejahen und befürworten, aber man sieht ja, dass die Russen mit ihrer Initiative und mit ihren Angriffen auf die syrische Bevölkerung das Ganze komplizierter gemacht haben. Vor zwei Tagen, nach dem Abschuss des russischen Hubschraubers, hatten wir auch einen Angriff mit einem Chlorgas – man sagt, dass das ein russischer Angriff war, es wird jetzt gerade derzeit noch untersucht, ob das wirklich der Fall ist. Gestern gab es auch eine Erklärung von der amerikanischen Regierung. Ich denke, die Russen spielen eine große Rolle, die Iraner sind auch sehr wichtig in dieser Region, man müsste Druck ausüben, dass sie auch auf Assad verzichten und dass man auf jeden Fall die Bombardierungen aus der Luft stoppt. Dann könnte man vielleicht auch noch politisch einen Erfolg haben.
    "Was jetzt in Syrien passiert, ist durch unsere Zurückhaltung als Weltgemeinschaft entstanden"
    Büüsker: Herr Al-Mousllie, wenn es nicht mit Assad geht, was wäre dann die Alternative?
    Al-Mousllie: Wissen Sie, in Syrien gibt es 23 Millionen Menschen Bevölkerung, das ist bis jetzt gewesen – wir haben jetzt fünf Millionen Flüchtlinge außerhalb. Dann muss man auch den Syrern die Möglichkeit geben, dass sie sich selbst auch organisieren. Man kann nicht sagen, Assad ist nicht da, es gibt keinen Syrer, der überhaupt eine Alternative darstellt, also lassen die die Leute einfach sich gegenseitig bekämpfen und töten, und wir vor allem lassen sie Assad mit seinen Unterstützern, der alles von denen bekommt – die syrische Opposition und die syrische Bevölkerung bekommt gar nichts. Wir verhalten uns in Europa zurzeit wirklich, als ob wir eine Naturkatastrophe eigentlich überschauen, als ob es ein Erdbeben oder ein Tsunami ist, aber dabei ist das, was jetzt in Syrien passiert, durch unsere Zurückhaltung als Weltgemeinschaft entstanden und weil wir es auch so weit kommen ließen. Wir sollten agieren, wir sollten einfach Druck ausüben, noch mehr Druck ausüben, dass man auf Assad auch verzichtet. Und wenn das nicht …
    Büüsker: Herr Al-Mousllie, wir müssen leider langsam mit unserem Gespräch zum Ende kommen, weil wir noch einen zweiten Gesprächspartner in der Leitung haben. Sadiqu Al-Mousllie, Sprecher des syrischen Nationalrates und damit eine Stimme der Opposition, Herr Al-Mousllie, vielen Dank für das Gespräch heute Morgen hier im Deutschlandfunk!
    Al-Mousllie: Bitte schön, Frau Büüsker!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.