Dienstag, 19. März 2024

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Belarus-Expertin über Strategie des Regimes
„Keine Bereitschaft, die friedliche Protestbewegung zu akzeptieren“

Nachdem das Regime in Belarus zuerst mit massivem Druck gegen die Proteste gegen das Ergebnis der Präsidentschaftswahl vorgegangen war, sieht die Politikwissenschaftlerin Olga Dryndova jetzt einen Strategiewechsel. Es würden nun gezielt Aktivisten und Journalisten ins Visier genommen, sagte Dryndova im Dlf.

Olga Dryndova im Gespräch mit Silvia Engels | 28.08.2020
Polizisten verhaften in Minsk einen Demonstranten der die Hand zum Victory-Gruß erhebt
Laut der Belarus-Expertin Olga Dryndova geht die Staatsmacht in Belarus gezielt gegen Aktivisten und Journalisten vor. (dpa / picture alliance / Sputnik)
Angesichts der anhaltenden Proteste sagte der russische Präsident Wladimir Putin der belarussischen Regierung militärische Unterstützung zu, sollte sich die Lage für Staatschef Alexander Lukaschenko weiter zuspitzen. In einem Interview mit dem russischen Staatsfernsehen hatte Putin gestern erklärt, dass Russland bereit sei, gegebenenfalls im Nachbarland zu intervenieren.
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Das belarussische Regime ging zuletzt gegen die Protestierenden nicht mehr in der Breite vor, wie zu Beginn. Die aus Belarus stammende Politikwissenschaftlerin und stellvertretende Vorsitzende der Deutsch-Belarussischen Gesellschaft Olga Dryndova sieht jetzt vor allem ein gezieltes Vorgehen gegen Journalisten, Aktivisten und Mitglieder des neugewählten Koordinierungsrates.

Das Interview in voller Länge:
Silvia Engels: Es gab abends und in der Nacht wohl wieder einige Verhaftungen, Menschenrechtsorganisationen sprechen von 200 Menschen in Belarus, und zwar gezielt gegen Oppositionelle und Menschen, die diesem Lager nahestehen. Was hören Sie von dort?
Olga Dryndova: Genau. Das ist tatsächlich auch die Information, die ich habe. Ich muss auch sagen: Das was wir gestern gesehen haben, ist auch eher eine Tendenz der letzten Woche. Der Staat hat ja nach den Wahlen erst mal eine Pause genommen und nicht wirklich gewusst, was mit den Menschen tun, die massenhaft auf den Straßen sind.
Seit einer Woche beobachten wir schon eine klare Tendenz, und zwar gezielte Repressionen, also nicht so breite, die wir drei Tage nach den Wahlen gesehen haben, sondern tatsächlich gezielt gegen Aktivisten, gegen Journalisten, auch gegen diejenigen, die diese Streiks bei den staatlichen Unternehmen initiiert haben oder versucht haben zu initiieren, und auch gegen Mitglieder des neugewählten Koordinierungsrates.
Das ist auf jeden Fall ein klares Zeichen dafür, dass der Präsident auf keinen Fall bereit sei für einen Dialog, und eigentlich nimmt er diesen neuen Koordinierungsrat nicht wahr, nicht als legitim wahr. Daher ist die Frage, mit wem man da überhaupt diesen Dialog weiterführen oder initiieren kann, wenn die Menschen, die sich da gebildet haben – da gibt es inzwischen schon über 1000 Mitglieder in diesem Koordinierungsrat -, tatsächlich nicht als legitim gesehen werden. Es wurde sogar ein Strafverfahren initiiert dagegen.
Es sieht jetzt alles sehr ernsthaft aus und der Staat zeigt auf keinen Fall Bereitschaft, diese friedliche Protestbewegung zu akzeptieren und wahrzunehmen, dass die Mehrheit in der Gesellschaft tatsächlich gegen den Präsidenten ist.
"Aussagen von Putin ein bisschen widersprüchlich"
Engels: Eine Erhöhung des Drucks erneut gegen die Oppositionsbewegung. Hängt das Ihrer Einschätzung nach auch damit zusammen, dass gestern Präsident Putin in Russland angekündigt hat, dass russische Polizeikräfte für den Einsatz in Belarus zur Not bereitstünden? Fühlt sich dadurch das Regime in Minsk gestärkt?
Dryndova: Ja, das wurde tatsächlich gestern gesagt. Putin hat tatsächlich gestern bestätigt, dass es eine Vereinbarung geben sollte, dass die Polizeikräfte aus Belarus auch möglicherweise in Belarus eingesetzt werden könnten – allerdings nur, wenn sich die Situation verschlechtert. Und wir verstehen nicht wirklich, wir wissen nicht, was das genau bedeutet, dieses Wort "verschlechtert".
Das ist natürlich auch problematisch, weil Belarus ein unabhängiger Staat ist, und so eine militärische Kooperation wäre ja noch in Ordnung im Falle einer externen Bedrohung für Belarus, einer externen Aggression. Da gibt es tatsächlich auch Vereinbarungen. Aber wenn es um innenpolitische Probleme, Proteste in Belarus geht, dann ist das natürlich problematisch.
Ja, ich glaube schon, das könnte damit zu tun haben. Allerdings waren die Aussagen von Putin auch ein bisschen widersprüchlich, weil er gleichzeitig betont hat, dass die Meinung der Menschen auf den Straßen respektiert werden sollte, und dass alles, was in Belarus passiert, im Einklang mit der Verfassung passieren soll und nicht verfassungswidrig sein muss. Das wäre eigentlich auch verfassungswidrig, der Einsatz von Polizeikräften aus Russland.
Ich glaube, was hier Russland versucht ist, tatsächlich etwas Druck auszuüben, auch den Protestierenden zu zeigen, dass so eine Hilfe aus Russland möglich wäre. Für mich bleibt es allerdings fraglich, ob sie es tatsächlich tun würden, weil ja der belarussische Präsident im eigenen Land nicht mehr als legitim gesehen wird von der Mehrheit der Gesellschaft, und es kann auch für Russland langfristig problematisch werden, den Präsidenten so lange, noch fünf Jahre zu unterstützen.
Ich würde sagen, das ist eine Kombination aus Drohungen und vielleicht auch doch Versuchen, zu einem Dialog zu kommen, weil Russland hat ja schon mehrmals dazu aufgerufen, dass der Staat und die Gesellschaft einen Dialog initiieren sollten, möglicherweise auch eine Verfassungsreform. Es ist allerdings wie gesagt noch nicht klar, mit wem dieser Dialog stattfindet, weil das einzige Organ, das überhaupt versucht, in Dialog zu kommen, ist der Koordinierungsrat, und der wird nicht als legitim gesehen. Das ist jetzt das Hauptproblem der Opposition.
Keine klassische Opposition in Belarus
Engels: Das Lager der Opposition und der Koordinierungsrat ist ja eigentlich auch recht gemischt zusammengesetzt. Die Vertreter dort eint der Wunsch nach einem Abgang von Präsident Lukaschenko und Neuwahlen. Mehrfach wurde deutlich gemacht, das richte sich weder gegen Russland, noch sei man zu stark auf die EU ausgerichtet. Aber welche verschiedenen Interessenlagen verbergen sich eigentlich hinter diesem gemeinsamen übergeordneten Ziel? Wie muss man sich die Landschaft der belarussischen Opposition vorstellen?
Dryndova: Ja, das ist auch eine sehr gute Frage. Die Opposition in diesem klassischen Sinne, das heißt organisierte Parteiopposition, gibt es in Belarus zwar. Allerdings haben die jetzt keine Rolle oder so gut wie keine Rolle in diesen Wahlen gespielt.
Das heißt, wenn wir Opposition sagen, dann geht es darum, dass wir einmal Frau Tichanowskaja in Litauen haben, die angeblich die Wahlen auch gewonnen hat. Das konnte man jetzt aber nicht tatsächlich nachweisen. Das heißt, sie ist eher in den Köpfen der Belarussen eine Volkspräsidentin, aber nicht mehr, und sie versucht, tatsächlich auch aus Litauen das Ganze zu koordinieren. Sie hat allerdings keine politische Erfahrung.
In Belarus haben wir diese tausend plus Menschen als Mitglieder des Koordinationsrates, die versuchen, friedlich in Dialog mit dem Staat irgendwie zu kommen, und das ist bis jetzt auch nicht passiert. Und das war es eigentlich.
Es sind tatsächlich ganz viele auch Grassroots-Initiativen, die auch nicht so viel politische Erfahrung haben, was bis jetzt eher ein Vorteil war, weil der Staat nicht wusste, wie man damit umgehen sollte. Die Gesellschaft hat sich selbst organisiert auf unterschiedlichen Ebenen und tatsächlich auch ohne ein politisches Zentrum. Das ist eher eine positive Tendenz.
Die Menschen haben es ganz schnell gelernt. Das kann natürlich langfristig auch negativ werden, weil wenn man schon über die friedliche Machtübergabe spricht, dann braucht man dafür auf jeden Fall eine Person, einen Leader, und das ist genau das, was jetzt fehlt. Was sie versuchen ist, immer noch in diesem legitimen, legalen Rahmen zu bleiben und auf keinen Fall zu Protesten aufzurufen. Das machen sie nicht.
Engels: Aber da müssen wir leider einen Punkt setzen, einfach zeitlich bedingt, weil uns jetzt die Nachrichten drohen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.