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Belgien erwartet Klarheit von Dutroux-Prozess

Meurer: Selten stößt ein Gerichtsprozess auf so ein gewaltiges Medienecho wie der Prozess im belgischen Arlon gegen Marc Dutroux und gegen andere. 1300 Journalisten haben sich insgesamt akkreditiert und das liegt zum Einen natürlich an der Scheußlichkeit der Verbrechen, Mord, Kindesmissbrauch, Entführung, Vergewaltigung. Aber auch daran, dass der Prozess Klarheit bringen soll über mögliche Hintermänner, denn die Vorstellung, dass es in Belgien ein Netzwerk von Kinderschändern gibt mit Verbindung in höchste Kreise, ist für ganz Belgien ein einziger Albtraum. Zu den über 1000 Medienvertretern gehört auch der belgische Kollege Josef Lehnen von der deutschsprachigen Zeitung Grenzecho. Guten Morgen, Herr Lehnen.

Moderator: Friedbert Meurer |
    Lehnen: Guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Wie haben Sie denn gestern den ersten Prozesstag erlebt?

    Lehnen: Der erste Prozesstag, der begann für mich mit dem Gang vom Bahnhof zum Pressezentrum und das war sehr glatt, es war Glatteis. Da habe ich mir gedacht, pass auf, dieser Prozess, da musst du aufpassen, dass du nicht irgendwie ausrutschst und hinfällst. Man muss sich also schon sehr gut vorbereiten auf den Prozess.

    Meurer: Meinen Sie das auch im übertragenen Sinne, dass man ausrutschen kann?

    Lehnen: Genau. Weil, wenn man da nicht vorbereitet ist und die Akte nicht so gut kennt, dann muss man schon aufpassen. Vor allem, was Sie eben ansprachen, gibt es Hintermänner, gibt es keine Hintermänner? Das Beste ist, man lässt den Prozess jetzt auf sich zukommen als wäre alles neu und verfolgt ihn dann Tag für Tag. Dann wird man sehen, ob es Hinweise gibt auf diese Hintermänner oder nicht. Belgien ist ja gespalten, die Einen, die sagen, es gibt Hintermänner, die Anderen sagen, der Dutroux, der hat allein gehandelt mit seiner kleinen Bande, wobei noch die Frage ist, ob Nihoul dazugerechnet werden kann?

    Meurer: Ist das für Sie möglich, Herr Lehnen, zu sagen, dass ist jetzt alles neu für mich, ich blende aus, was ich in den letzten acht Jahren erfahren habe?

    Lehnen: Man muss es versuchen. Man muss eben versuchen, so als käme man von einem anderen Planeten und schaut sich dann an, was da in Arlon, man muss auf Arlon einzoomen und dann sagen, ich schau mir das mal an und denke darüber nach. Vielleicht kann man dann doch eine Lösung finden für die Fragen.

    Meurer: Sie haben die Verhandlungen gestern beobachtet über Monitor, in den Gerichtssaal kommen ja nur die allerwenigsten. Was haben Sie da mitbekommen können an Atmosphäre, die im Gerichtssaal herrscht?

    Lehnen: Das Überraschende war, dass die Atmosphäre sehr entspannt war, weil gestern wurden ja all die Geschworenen ausgelost. Das waren 180 Kandidaten, 90 effektive Mitglieder und 90 Ersatzmitglieder und daraus musste dann die Geschworenenbank zusammengestellt werden. Dann wurden natürlich die Kandidaten auch, nicht verhört, aber sie mussten sagen, wollt ihr überhaupt in die Jury rein oder nicht. Dann mussten sie das begründen und da kamen die unwahrscheinlichsten Gründe vor und die Atmosphäre war dann eigentlich sehr entspannt, weil viele Antworten so komisch waren.

    Meurer: Nun ist gestern ja aufgefallen und vielfach auch berichtet worden, dass der Hauptangeklagte Marc Dutroux während des ersten Prozesstages geschlafen hat. Man sah ihn auf einer Zeichnung, wie er den Kopf auf den Tisch gelegt hat. Wie haben Sie diese Szenen erlebt?

    Lehnen: Die Monitore, auf denen wir das verfolgen, die sind natürlich recht klein, aber man konnte schon sehen, dass irgendetwas nicht stimmt. Es war eine gewisse Unruhe im Saal und dann hat ja auch der Gerichtspräsident Stéphane Goux gesagt, hören Sie mal an, hören Sie mal Angeklagter, hier wird nicht geschlafen. Das ist natürlich sehr schlecht rübergekommen, der Anwalt von Dutroux hat das ja später auch gesagt, das hätte er lieber nicht tun sollen, da zu schlafen. Das Gericht und vor allem aber dann die Opfer oder die Familien der Opfer hätte er damit doch vor den Kopf gestoßen und verletzt.

    Meurer: Denken Sie, das war eine gezielte Missachtung des Gerichts und des Prozesses?

    Lehnen: Dem Dutroux kann man alles zutrauen, das kann eine Strategie sein, das kann sein, dass er sich denkt, ich mache hier was ich will, das geht mich alles nichts an. Das war übrigens der Allgemeineindruck, den ich hatte, dass der sich sagt, das geht mich hier alles gar nichts an, was wollen die hier von mir? Aber, es gibt eine andere Begründung, es kann ja auch sein, es ist ja nun auch sein Prozess und dass in seinem Hinterkopf doch etwas arbeitet und sagt, dass er dann eben nicht gut geschlafen hat die ganze Nacht und dass dann doch einige meinen, dass es doch irgendetwas wie Reue sein könnte, das ihn am Schlaf gehindert hat und dass er einfach eingeschlafen ist.

    Meurer: Mit dabei sind ja auch die Eltern oder einige Eltern, Angehörige von Opfern. Warum, glauben Sie, tun die sich das an?

    Lehnen: Ein Teil der Eltern will ja doch wissen, ganz offiziell, was dahinter steckt, um einfach trauern zu können. Ich glaube nicht, dass die Trauerarbeit geleistet ist von den meisten. Es sind natürlich Eltern, die nicht daran teilnehmen, die Russos zum Beispiel, die Lejeune, die betrachten das alles als einen Zirkus. Aber wahrscheinlich auch nur, weil der Prozess nicht in die Richtung läuft, die sie gerne gehabt hätten. Das sind nämlich die Eltern, die glauben, dass es dahinter ein Netzwerk gibt.

    Meurer: Nur auf der anderen Seite, wenn Sie beobachten, Eltern, die sich der Zumutung aussetzen, den mutmaßlichen Mörder ihrer Kinder zu sehen, was müssen diese Eltern aushalten?

    Lehnen: Ich kann mir das eigentlich nicht sehr gut vorstellen, weil ich eben nie in der Lage gewesen bin. Aber, für die Eltern muss es doch sehr, sehr schwer sein. Auf der anderen Seite können sie der Frage auch nicht immer aus dem Wege gehen, wer ist dieser Mann, warum hat er das getan, warum passiert uns das? Und sie werden natürlich auch spüren, dass Belgien hinter ihnen steht, ganz Belgien und das, glaube ich, gibt ihnen auch Mut dazubleiben.

    Meurer: Noch kurz zum Schluss. Vor acht Jahren gab es die größte Demonstration in der Geschichte Belgiens mit 300.000 Demonstranten in Brüssel. Was bedeutet dieser Prozess heute so viele Jahre danach für ihre Landsleute?

    Lehnen: Der Prozess, davon erwarten sich die meisten Leute Klarheit. Wer ist Dutroux? Wer sind die Mitglieder seiner Bande? Und vor allem: Wie konnte das passieren, dass Kinder entführt, missbraucht wurden, getötet wurden in unserem Staat, wo alles so ruhig lief? Wir sind damals ja aufgeschreckt worden, aber mit den Jahren ist das auch wieder zurückgegangen, wir sind langsam auch wieder eingeschlafen. Dieser Prozess, der rüttelt uns jetzt wieder hoch und deswegen ist er bedeutend, dass wir jetzt wirklich wach werden und eine wirkliche Antwort auf unsere Fragen bekommen, funktioniert unser Rechtsstaat, kann so etwas noch mal passieren?

    Meurer: Der Korrespondent Josef Lehnen von der deutschsprachigen belgischen Zeitung Grenzecho. Herr Lehnen, besten Dank und auf Wiederhören.

    Lehnen: Schönen Tag noch.