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Belgien
Wunden schließen nach den Anschlägen

Die Musiker der Brüsseler Philharmonie spielen die Europa-Hymne, die Polizei führt Razzien durch und im Militärkrankenhaus werden immer noch Verletzte operiert: Am Karfreitag hat Belgien versucht, die Folgen der Terroranschläge von Brüssel zu bewältigen.

Von Thielko Grieß | 26.03.2016
    Teilnehmer einer Schweigeminute in Brüssel legen am Karfreitag nach den Terroranschlägen Blumen und Kerzen nieder
    Gedenken und Trauer: Brüssel am Karfreitag nach den Terroranschlägen (picture alliance / dpa / Victorya Ivanova)
    Sie hätten die belgische Nationalhymne spielen können. Oder eine flämische oder eine wallonische Melodie. Aber das tun sie nicht, die Musiker der Brüsseler Philharmonie. Mit ihren Instrumenten stehen sie auf den breiten Steintreppen der Börse. Hinter ihnen mächtige Säulen.
    Beethovens Neunte, die Hymne Europas. "Freude schöner Götterfunken." Unter freiem Himmel für Hunderte Zuhörer. Trauerzuhörer, viele auf dem Platz vor der Börse in der Innenstadt tragen schwarz. Dagegen heben sich die weißen Zettel ab, die verteilt worden sind. Der Text Friedrich Schillers in vielen Sprachen: Deutsch, Flämisch, Französisch, auch Russisch, Türkisch und Arabisch.
    "… wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum! Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt."
    Durch die Wolken kommt sogar die Sonne, gelegentlich. Brüssel am Karfreitag-Nachmittag. Gerade läuft parallel, wenige Kilometer nordöstlich im Stadtteil Schaerbeek, wieder eine neue Razzia, die soundsovielte. Die Polizei schießt einem Verdächtigen ins Bein.
    Und noch ein wenig weiter außerhalb liegt das Militärkrankenhaus. Die Schicht Dominique Misselyns dauert noch einige Stunden. Der Arzt macht eine Pause und klickt auf die Kaffeekantate Johann Sebastian Bachs, die ihm gefällt und die er auf Youtube gefunden hat.
    "Es war ein Gefühl wie im Krieg"
    Misselyn ist ein schlanker 50-Jähriger mit hellen, wachen, blauen Augen. Er ist in den vergangenen Jahren mehrfach als Militärarzt in Afghanistan gewesen und hat dort NATO-Soldaten und Afghanen nach Attentaten behandelt.
    "A few years ago, I went to Afghanistan, I went to the war. But now the war is coming to my country. It's very disturbing."
    Jetzt ist der Krieg in Belgien angekommen, sagt der Traumatologe – der Facharzt für Verletzungen. Die Verletzungen in Afghanistan gleichen denen der Attentatsopfer in Brüssel:
    "Viele kleine Teile dringen in alle möglichen Körperteile ein. Die müssen raus aus dem Körper, weil sie zu schweren Blutungen führen."
    Er und seine Kollegen haben in den vergangenen Tagen aus vielen Patienten Schrauben, Nägel und Metallteile herausoperiert. Er klickt und auf dem Bildschirm vor ihm erscheinen Fotos der Fremdkörper.
    "You see? I don’t know what it is."
    Am Dienstagvormittag kamen binnen kurzer Zeit rund einhundert Verletzte im Militärkrankenhaus an. Dann, sagt er, hat er Entscheidungen getroffen wie sonst in Afghanistan:
    "Es war sehr schwierig mit so vielen Verletzten. Und viele Kollegen hatten solche Verbrennungen und Verletzungen noch nie gesehen. Aber wir haben gehandelt, es war ein Gefühl wie im Krieg. Das ist sehr anders als klassische Chirurgie. Wenn die Teile so tief im Körper sitzen, müssen sie den Bauch öffnen. Und notfalls auch den Brustkorb. Und dann müssen sie alle Organe durchschauen. Vergessen Sie kein einziges! Dabei hatten wir für eine Computertomografie keine Zeit."
    "Kompetenzen in Sachen Sicherheit sind auf alle Ebenen aufgeteilt"
    Misselyn muss gleich wieder operieren. In den nächsten Tagen wird es darum gehen, Wunden zu schließen, gebrochene Knochen zu richten. Manches wieder zu richten, gilt für das ganze Land, meint der Sicherheitsfachmann Thomas Renard vom Königlichen Institut für Internationale Beziehungen:
    "Seit mehr als 20 Jahren hat jede Regierung unter Beteiligung fast aller Parteien die Mittel für Polizei und Geheimdienste gekürzt. Deshalb ist nun auch jeder für die Situation verantwortlich."
    Die zwei wesentlichen belgischen Geheimdienste hätten rund 1.000 Beschäftigte. Die müssten etwa dieselbe Zahl von Islamisten beobachten – und das seien nur die, die man kenne. Diese Gleichung könne nicht aufgehen. Und dazu kommt:
    "In Belgien haben wir, was wir eine institutionelle Lasagne nennen. Kompetenzen in Sachen Sicherheit sind auf alle Ebenen aufgeteilt."
    Aber gänzlich unfähig seien die Apparate auch nicht, es habe schon Fahndungserfolge gegeben. Am späten Abend schreibt der Arzt, der noch immer im Krankenhaus ist, eine E-Mail. In deren Betreffzeile steht ein leicht verändertes Zitat Friedrich Nietzsches: "Was uns nicht umbringt, macht uns stärker." Darunter hat er drei Wörter notiert: "Vielen Dank für…". Und dann hat er ein Foto angehängt. Es zeigt das Brandenburger Tor. Angestrahlt in schwarz-gelb-rot.