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Belletristik
Die Spiegel-Bestsellerliste vom Juli 2014 in der Rezension

Im Juli geht es in vielen Romanen der Spiegel-Bestsellerliste um Freiheit: die Freiheit des Einzelnen im Überwachungsstaat oder die mangelnde Freiheit des modernen Menschen in seiner Gier nach Geld und Liebe. Denis Scheck rezensiert.

Von Denis Scheck |
    Mehrere Bücher liegen auf drei Stapeln nebeneinander.
    Mehrere Bücherstapel (picture-alliance / dpa / Romain Fellens)
    Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?
    Dieses Gehirn fragt sich, warum es in all den Jahren nicht ein einziger amerikanischer Geheimdienst anzuwerben versuchte. Steckt dahinter eine Geringschätzung meiner Person oder der Literatur insgesamt? Eigentlich kann es darauf eigentlich nur eine Antwort geben.
    "You will know my name is the Lord when I lay my vengeance upon thee."
    (Zitat aus Pulp Fiction)
    Der Literaturkritiker Denis Scheck
    Der Literaturkritiker Denis Scheck (picture alliance / dpa)
    In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Romane der Deutschen rekordverdächtige 5678 Gramm auf die Waage: zusammen 5462 Seiten.
    Platz 10: Veronica Roth: "Die Bestimmung - Letzte Entscheidung" (Deutsch von Petra Koob-Pawis und Michaela Link, CBJ Verlag, 511 Seiten, 17,99 Euro)
    In einem Chicago der fernen Zukunft tobt ein Bürgerkrieg. Für Leser, die die ersten beiden Bände dieser dystopischen Science-Fiction-Trilogie nach dem Rezept von "Die Tribute von Panem" nicht kennen, liest sich dieser Abschlussband wie reines Dada: Wem Altruan, Ken, Ferox, Candor und Fraktionslose nichts sagen, dem bleibt nur das Staunen über die sterile Plastikprosa der Autorin.
    Platz 9: Karen Rose: "Todesschuss" (Deutsch von Kerstin Winter, Knaur Verlag, 768 Seiten, 19,99 Euro)
    Eine Polizistin hat vor acht Jahren Mann und Kind verloren und geht seither wie auf rohen Eiern durch die Ruinen ihres Lebens. Statt "Guten Tag!" lautet der Standardgruß auf den Seiten dieses öden Romans:
    "Hilft die Therapie?"
    Für Kurzweil sorgt allenfalls die unfreiwillige Komik der grotesken Edelmutsgymnastik der Heldin und ihres Umfelds.
    Platz 8: Simon Beckett: "Der Hof" (Deutsch von Juliane Pahnke, Wunderlich, 464 S., 19.95 Euro)
    Ein gutes Buch kann unseren Gedanken im Idealfall in ungeahnte Umlaufbahnen und von dort zu den Sternen katapultieren. Dieser klischeebeladene Krimi über einen Inzestfall in der französischen Provinz versetzt dem Bewusstsein des Lesers einen genau umgekehrten Impuls und stürzt es in Niveautiefen, wo ihm wie einem Grubenpony des Geistes kein Licht mehr scheint.
    Platz 7: John Williams: "Stoner" Deutsch von Bernhard Robben, dtv, 352 Seiten, 19,90 Euro)
    Von der Wiege bis zur Bahre begleiten wir in diesem Roman einen Collegeprofessor, der durch ein Shakespeare-Sonett der Liebe seines Lebens begegnet: der englischen Sprache. Obwohl in diesem Leben im Grunde alles schief läuft, wird niemand diesen Roman mit dem Gefühl zuklappen, dass Stoner vergebens gelitten hat.
    Platz 6: Donna Tartt: "Der Distelfink" (Deutsch von Rainer Schmidt und Kristian Lutze, Goldmann Verlag, 1023 Seiten, 24,99 Euro)
    Der sicherste Tipp für einen gelungenen Urlaub ist diese Geschichte über einen amerikanischen Jungen, der nach einem Terroranschlag in den Besitz eines Gemäldes kommt, des titelgebenden Distelfinks des Niederländers Carel Fabritius. Wie der Vogel auf dem Bild, der durch eine fast unsichtbare goldene Kette an seine Sitzstange gefesselt ist, erzählt Donna Tartt in ihrem virtuosen Entwicklungsroman von der Gier nach Anerkennung, Geld und Liebe, die dem Leben des modernen Menschen die Freiheit nimmt.
    Platz 5: Frank Schätzing: "Breaking News" (Kiepenheuer & Witsch, 976. Seiten, 26,99 Euro)
    Ein packender Agententhriller, der den Nahostkonflikt als mehrere Generationen umspannende Familiengeschichte erzählt. Neben der wohlrecherchierten Wissensmasse beeindruckt dieser Roman durch die Souveränität der Stoffbewältigung, die einem weniger gewitzten Erzähler zu bloßem Schulfunk geraten wäre.
    Platz 4: Jonas Jonasson: "Die Analphabetin, die rechnen konnte" (Deutsch von Wibke Kuhn, Carl's Books, 448 Seiten, 19.99 Euro)
    Wie aus einem schwarzen Mädchen aus Soweto, die als Latrinenreinigerin Kübel voll Scheiße schleppen muss, eine Angehörige der schwedischen Oberschicht wird, erzählt Jonas Jonasson in seinem zweiten Roman nach "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand". Langweilig ist dieses moderne Märchen nie - glaubwürdig allerdings auch nicht.
    Platz 3: Marc Elsberg: ZERO: Sie wissen was Du tust, (Blanvalet, 480 Seiten, 19,99 Euro)
    Ein zwar grob gestrickter, immerhin aber kurzweiliger Big-Data-Thriller, der von den Gefahren erzählt, die in der Googlewelt lauern für alle, die Freiheit gegen Komfort, Anonymität gegen vermeintliche Sicherheit eintauschen.
    Platz 2: Jan Weiler: "Das Pubertier" (Kindler, 128 Seiten, 12 Euro)
    Ein launig aus der Vaterperspektive erzähltes Büchlein über das Erreichen der Geschlechtsreife einer Tochter und der damit einhergehenden Bewusstseinstrübungen, Verhaltensänderungen und Balzrituale.
    Platz 1 der aktuellen SPIEGEL- Bestsellerliste Belletristik:
    Donna Leon: Das goldene Ei. (Deutsch von Werner Schmitz, 312 Seiten, Diogenes, 22,90 Euro)
    Woran liegt es, dass dieser wunderbar entspannt erzählte Serienkrimi über einen taubstummen Toten ohne Papiere so gute Laune macht? Zum einem sind die Brunettis natürlich längst zu einer Ersatzfamilie für ihre Stammleser geworden. Zum anderen besticht Leon aber auch durch feine Randbeobachtungen, die feuilletonistische Leichtigkeit in ihre Bücher bringen.
    "Seit Neuestem geben sogar Kriminelle der Finanzkrise die Schuld",
    lässt Donna Leon in ihrem wunderbar entspannt erzählten neuen Brunetti-Roman über einen taubstummen Toten ohne Papiere den Commissario sinnieren.
    "Der Euro verliert an Wert; die Löhne bleiben unverändert. Was bleibt mir da anderes übrig, als die Bank auszurauben? Brunetti fragte sich, was man als Nächstes auf die Finanzkrise schieben würde. Schlechten Geschmack?"