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Belletristik
Ein Durcheinander und doch ein Ganzes

In ihren Büchern interessiert sich Brigitte Kronauer für die Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit und unserem Blick auf die Wirklichkeit. Auch in ihrem neuen Buch "Gewäsch und Gewimmel" geht es um verschrobene Realitäten und verschiedene Realitätspartikel.

Von Ulrich Rüdenauer | 18.12.2013
    "In der folgenden Nacht ruft sie, aus dem Schlaf hochschießend: ‚Hilfe, Hilfe! Das Geprassel, das Gewimmel!‘
    Freund: ‚Was ist los, Elsa, was meinst du denn?‘
    Elsa: ‚Ich weiß nicht. Die Leute, glaube ich.‘"
    Die Leute verfolgen die Krankengymnastin Elsa Gundlach in den Schlaf: Was sie in ihre Praxis hineintragen, schleppt sie mit nach Hause. 1000 Geschichten, Banales, Intimes und Schauerliches, massiert sie aus ihren Patienten heraus. Und was die ihr ganz und gar freimütig erzählen, treibt Elsa dann im heimischen Bett um. Eva Wilkens oder Luise Wäns, der Schriftsteller Pratz oder Frau Fendel, dazu noch eine Horde weiterer Menschen mit Haltungsschäden und Rückenleiden – eine repräsentative Auswahl munterer Zeitgenossen, die einem auch in der Fußgängerzone begegnen könnten, trifft man in Brigitte Kronauers neuem Roman "Gewäsch und Gewimmel".
    "Das Vorbeiströmen vieler Menschen, die man nicht kennt, manche fallen einem eben auf, das ist so mit einer der Ausgangspunkte auch für den Romantitel für mich gewesen, und ich habe das Gefühl, dass dieses 'Gewäsch und Gewimmel' – das Gewäsch sind eben die Satzfragmente, die man aufnimmt –, dass das sich noch auf viele weitere Bereiche erstreckt, und so ist es dann auch eigentlich gemeint. Also all das, was es so an Nachrichten und Geschwätz und Familientratsch gibt, der ja auch in dem Roman eine große Rolle spielt, aber eben auch die ernsten Nachrichten, die wirklich fürchterlichen Schicksale, die man so am Rande mitkriegt und wo man nie in der Lage ist, die wirklich in sich nachzuvollziehen, weil schon wieder die nächste Neuigkeit kommt. Und das scheint mir doch ein für mich, aber ich glaube auch für unsere allgemeine Situation ganz bedeutsames Phänomen zu sein, dass man mit so vielen Sachen konfrontiert wird, also entweder Schicksalen oder eben Sprachformen, die darüber berichten, speziell in Nachrichten oder Talkshows usw., und denen man nie – empfindungsmäßig – nachkommen kann. Dann kommt schon wieder das Nächste."
    Angriff der Gegenwart auf unsere übrige Zeit
    Der Angriff der Gegenwart auf unsere übrige Zeit – die alltägliche Wirklichkeit mit all ihren Anforderungen okkupiert und drangsaliert uns, verschüttet auch Erinnerungen und Gedanken. Fortwährend müssen wir kommunizieren. Brigitte Kronauer hat einmal von der "Nervosität zwischen den Menschen" gesprochen. Die ist hier spürbar. Flüchtig sind die Begegnungen, flatterhaft die Gespräche, rasant und kurz die Erlebnisse. Hat man sich mit der Verwirrung des einen beschäftigt, gerät man schon in die Irrung des nächsten. Wie in einem Regenbogenblatt – mehr vielleicht sogar wie bei einer News Line im Internet – poppen Nachrichten und Geschichten wild durcheinander auf, besagen alles und nichts und verbinden sich untergründig doch zu einem großen, die Welt zusammenhaltenden Gemurmel.
    "Jeden Morgen, sagt sich die Krankentherapeutin Elsa, "masert, mustert, zerstückelt mich die verfluchte Zeitung"
    "Jeden Morgen, sagt sich die Krankentherapeutin Elsa, masert, mustert, zerstückelt mich die verfluchte Zeitung und will für den Resttag mich und meine Patienten erledigen. Und doch lasse ich es geschehen mit mir, weil ich ja weiß: Gleich fährt, unerschütterlich wie die Schlagzeilen, der kastenbrotförmige Bus am Haus entlang, auf und ab und hin und her, und ich springe, wie jeden Morgen, leicht in die Höhe, damit der Reißverschluss der Hose, aufs Neue schneeweiß, besser zugeht, und fasse, Punkt Viertel nach acht, Mut. Bin auf der Hut und fasse Mut, fass Courage für die Massage."
    Auch dem Leser sei das angeraten. Mut zu fassen, sich in das Gewimmel und Getaumel zu stürzen. Alle Medien massieren uns gründlich durch, schrieb der Kulturtheoretiker Marshall McLuhan. Brigitte Kronauers Roman tut das ohne Zweifel in einer kunstvollen Sprache. Dabei stellt sich ein interessanter Effekt ein, der auch an komplexen Gemeinwesen beobachtbar ist: Da gibt es lauter einzelne Systeme, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, auch in unterschiedlichen Sprachen kommunizieren, dann aber doch im Zusammenspiel ein Ganzes ergeben. Konstituiert sich diese Totalität immer aus einzelnen Geschichten, Erinnerungen, Episoden, Gefühlen? Lässt sich überhaupt eine Summe erzielen, gar mit einem richtigen Ergebnis?
    "Ich glaube auf jeden Fall, dass wir sehr stark das Bedürfnis haben, ein Ganzes daraus zu machen, es noch in irgendeiner Weise in eine Ordnung oder sagen wir, in einen Horizont oder - bombastisch gesprochen - in eine Art Weltbild einzufügen."
    Das Weltbild, das von Brigitte Kronauer entworfen wird, ist ein Gemisch aus Kontingenz und Konsistenz. Den Geistlichen Dillburg lässt sie einmal die Poetologie ihres Romans, vielleicht sogar ihres Werks formulieren:
    "‘Manchmal glaube ich‘, beginnt er vorsichtig‚ dass wir selbst und mit uns alles, was sich unterhalb der Unendlichkeit befindet, Anekdoten sind, Anekdoten um einen göttlichen Funken herum. Wir kristallisieren uns um ihn herum in Geschichten und Episoden, versuchen Sie bitte einmal, die Überlegung nachzuvollziehen. Frau Fendel, liebe Freundin, auch wenn das Episodische oft diesen Splitter des Ewigen völlig zu wuchert. Ganz zerstören lässt er sich nicht. Er ist es, der die Lebensszenen letzten Endes bemerkenswert macht, und wir, wir müssen entdecken, daß sie von ihm zeugen."
    Die Form von Brigitte Kronauers "Gewäsch und Gewimmel" entspricht genau diesem Kristallisationsprozess, nur dass ein göttlicher Funke, der transzendente Sinn in diesem Weltbild durch einen poetischen ersetzt ist: Das Erzählen selbst wird zur leuchtenden Ewigkeit. Der Roman besteht dabei aus kleinen Absätzen im ersten und dritten Teil, Geschichten und Rätseln und Kuriositäten, in denen die Figuren uns in rascher Folge präsentiert werden wie auf einer Drehbühne.
    Das Erzählen selbst wird zur leuchtenden Ewigkeit
    Der zweite Teil, die schwere Achse des Buches oder die Mitte des Triptychons, liefert eine 200-seitige Liebes- und Huldigungsgeschichte. Erzählt aus der Perspektive von Luise Wäns geht es da um einen Sonnenkönig namens Hans, der einen Naturpark anlegen will und so viel Bewunderung auf sich zieht, dass er einen Hofstaat um sich schart. Die schon etwas ältere Frau Wäns liebt diesen Hans, ihre Tochter Sabine gewinnt ihn als Ehemann. Hans wiederum ist vernarrt in ein junges Indianermädchen mit Namen Anada. Keiner bekommt, was er möchte; in seiner Komplexität ist dieser Liebesreigen das Gegenbild zu den vermischten Betrachtungen in Teil eins und drei des Romans. Warum diese Luise Wäns aus dem Durcheinander herausgehoben wird?
    "Es ist so, dass ich aus diesem großen Gewimmel eine Person, ein Individuum gewissermaßen versuche, in ihr Recht zu setzen und sie mit all ihren Gefühlen, auch eben Empfindungen, mit kleinen Regungen, Empfindungen in der Landschaft oder eben in den Liebesverhältnissen, diesen ganz kleinen Zuckungen, die aber alle zu einer Person gehören, wirklich ausführlich darzustellen. Das steht im Grunde stellvertretend für all die Individuen, die nur so in den anderen Teilen gestreift werden."
    Die handlungsreiche Luise-Wäns-Episode
    Die Luise-Wäns-Episode ist handlungsreich; eine Geschichte, die alle Grenzen, zumal jene des engen Naturschutzgebietes, zu sprengen scheint. Ihre Besonderheit ist das Unbestimmte: Man weiß, was da geschieht, aber es gibt eine leichte Verschiebung hin zum Geträumten. Unser Realitätssinn wird befriedigt und zugleich auf die Probe gestellt.
    "Für mich zeichnet ja das Älterwerden von Leuten aus, und sie ist ja durchaus eine ältere Frau, dass sie unkonventioneller werden, zumindest ist das eine schöne Version oder Vision, die man vom Alter haben kann. Und daher: Diese Verrückungen, die Aufschwünge oder Abstürze, die sie so erlebt, vor allen Dingen natürlich in der Natur, aber eben auch in Konfrontation mit Menschen oder ihren Liebesgefühlen, die ich sehr ernst nehme, das sind nicht nur Fantastereien oder sind überhaupt keine Fantastereien, dass das wirklich ausgesprochen wird und dass sie sich nicht scheut, gerade in der Natur, ins Fantastische, ins Märchenhafte, man könnte auch sagen ins Kindliche, im schönen Sinne Kindliche zurückzufallen."
    Die Natur ist das Gegenteil des Gewimmels. Ein wilder, zugleich abgegrenzter Ort, an dem die Fantasien erst ihre Wirkung entfalten können. Die Natur erweitert das Ich.
    "Sie lässt zu, was auch eine Reihe von Leuten davon abhält, in die Natur zu gehen, sie lässt zu, dass man einsam ist, dass man mit sich selber meinetwegen konfrontiert wird, wobei mich das weniger interessiert. Ich finde einfach, in der Begegnung mit dieser ganz anderen Welt, die die Natur darstellt, findet man im Grunde genommen einen Ausgleich. Das geht mir selbst im Übrigen auch so."
    Zugleich kann auch die Natur, dringt man tiefer in sie ein, zu einem Gewimmel und Gewühl werden. Die Natur ist nicht ungefährlich.
    "Nicht harmlos, aber sprachlos, für unsere Ohren sprachlos, und das macht sie natürlich dann schon zu einer sehr angenehmen Sache, finde ich, dass sie die Klappe hält."
    Es wird viel gestorben, teilweise auch auf brutale Weise
    Die Natur als stumme Kehrseite des Sozialen, als Spiegel auch für die Sehnsucht des Individuums, aus dem Käfig seiner Rolle auszubrechen und vielleicht erst ein Selbst zu sein. Kronauer erzählt das, indem sie die Realität aufsplittert in ihre Einzelteile und immer wieder zusammenfügt, ohne Ecken und Kanten abzuschleifen. Dabei entsteht ein dichtes Geflecht an Motiven – Natur und Liebe, Verlangen und Resignation. Im Grunde aber, wenn sich das Gewimmel nach und nach im Leserkopf ein wenig ordnet, merkt man: Es geht um letzte Dinge. Es wird viel gestorben, teilweise auch auf brutale Weise, Schriftsteller Pratz haucht sein Leben aus, Frau Fendel fällt einem Gewaltverbrechen zum Opfer. Unsere Sensationslust an der Trivialität des medial verwerteten Todes wird hier allerdings zur Farce. Das Triviale ist zugleich immer tragisch, das Tragische trivial. Der Tod verbindet.
    "Es ist aber auch nicht überraschend für mich - auch das ist jetzt eine Banalität, wenn man es so sagt –, aber das Leben definiert sich nun tatsächlich durch den Tod. Manche Leute haben ja so diesen Slogan, der Tod ist ein Skandal – man kann aber genauso gut sagen, der Tod gibt dem Leben seine Würde."
    "Nichts war erklärbar ohne das Wirken und Vibrieren der Gestorbenen, die als feinste Partikel alles durchdrangen in verwandelter, unleugbarer Anwesenheit. Es traf ihn wie ein Blitz, Dolch, Pistolenschuß, packte ihn als rasendes Glück."
    "Diese ständige Gefährdung macht das Leben umso kostbarer und ist das große Fragezeichen. Und ich glaube, das ist gar nicht unbedingt eine Generationenfrage. Das kommt darauf an, wo und wie früh einem der Tod wirklich vehement begegnet. Ich war so 19 Jahre alt, da starb ein Vetter von mir durch einen schrecklichen Unfall, und eigentlich seitdem ist er in meinem Leben als irgendetwas Fürchterliches, was plötzlich absolut Stopp sagt und auch alle Dinge infrage stellt. Das ist ja das, was ein Sterbender dann, oder in der Todesangst, auch wenn er nicht stirbt, erlebt: Ob man jetzt selber weg ist, man hat ja wahrscheinlich eher das Gefühl, die Welt geht weg. Das ist schon ein sehr wichtiger Faktor im Leben, würde ich sagen."
    Hausgott Jean Paul
    Jean Paul, einer der Hausgötter von Brigitte Kronauer, nannte sein Spätwerk einen "Papierdrachen". Das Werk begriff er als ein Sammelsurium von Texten, die man immer wieder neu kombinieren kann, die niemals fertig sind: erschriebene Unendlichkeit oder Unsterblichkeit. Das wurde zu seinem Hauptprojekt – mit einem immer weiter ausfransenden, eigentlich unabschließbaren Text gegen den Tod anzuschreiben. Brigitte Kronauers Bücher – und gerade auch ihr neuer Roman "Gewäsch und Gewimmel" – scheinen in diesem Sinne ebenfalls unabgeschlossen und miteinander verknüpft. In jeder Zeile sind sie anschlussfähig an die Fantasie und Empathie des Lesers; dabei setzen sie die Wirklichkeit und das Sprechen über die Wirklichkeit in ein fast zum Reißen gespanntes Verhältnis.
    Wirklichkeit und das Sprechen über die Wirklichkeit in einem fast zum Reißen gespannten Verhältnis
    "Ja, ich glaube, was ich eben schon andeutete, dass mich eine ganz bestimmte Sache interessiert, nämlich: wie wir mit der Wirklichkeit, wenn wir uns mit Sprache über sie verständigen, umgehen. Bzw. was aus der Wirklichkeit wird und wie sie als sprachliches Muster dann auf unser Erleben zurückwirkt. Und das ist für mich immer wieder das schlagende Motiv gewesen, mich also selber dann dieser Wirklichkeit schreibend anzunähern. Ich beobachte es aber eben auch bei anderen Leuten, die gar nichts mit Schriftstellerei zu tun haben, und ich glaube, diese Vorstellung, die in verschiedenen Formen und ich hoffe, in jeweils schlagenden Formen darzustellen, das ist das, was die Bücher alle miteinander verbindet. Und jetzt könnte ich auch wieder sagen: mein erstes Buch mit diesem letzten Buch. Das wäre für mich ganz leicht, da immer wieder ... Manchmal erschreckt es mich fast, das zu sehen. Aber das ist der fortlaufende Gedanke."
    Brigitte Kronauer: "Gewäsch und Gewimmel", Klett-Cotta, Stuttgart 2013, 612 Seiten. 26,95 Euro.