Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Ben Lerner: "22:04"
Die Macht der Vorstellung spielt die Hauptrolle

Der Held von Ben Lerners Roman "22:04" ist ein Brooklyner Schriftsteller namens Ben, der nach seinem gefeierten Erstling auf größere Erfolge hoffen darf. Er durchlebt circa 30 Episoden, in denen er förmlich den Beweis führt, wieviel Fiktion und Fälschung in der Wirklichkeit steckt.

Von Brigitte Neumann | 01.04.2016
    Der US-Schriftsteller Ben Lerner; Aufnahme vom Januar 2013
    Der US-Schriftsteller Ben Lerner: "Dichter, so schien es mir, waren die heimlichen Gesetzgeber der Welt." (picture alliance / dpa)
    Ben Lerners zweiten Roman "22:04" gilt als anstrengend oder raffiniert, je nach Standpunkt, jedenfalls als postmoderne Literatur. Sein erster Roman "Abschied von Atocha" erschien 2011, bekam enthusiastische Kritiken und wurde zum Buch des Jahres im New Yorker, im Guardian und im New York Magazine. Der Schriftsteller Geoff Dyer schrieb in der New York Times, es sei im Literaturbetrieb aufgeschlagen wie ein Komet aus Zukunft. Ben Lerner hat als Dichter begonnen und mit 52 Sonetten unter dem Titel "The Lichtenberg figures" auf sich aufmerksam gemacht. Im vergangenen Jahr ist dem 37-Jährigen aus Kansas das sogenannte Genie-Stipendium der MacArthur-Stiftung zugesprochen worden. Er schreibt aktuell an einem Buch über den Hass auf Lyrik. Jetzt ist mit "22:04" Ben Lerners zweiter Roman auf Deutsch erschienen.
    Deutsche Literatur sei ideell, reich an Gedankenschönheit. "Darin begegnet der Dichter dem Philosophen", schrieb Botho Strauß. Genau diese Eigenschaft der deutschen Literatur gilt vielen aber auch als ihr Makel – stark an Ideen, aber schwach im Erzählen. Als die wahren Meister des Erzählens gelten die Engländer und Amerikaner.
    Diese Unterschiede der Erzählkulturen werden zunehmend außer Kraft gesetzt. Das, nach Strauß, genuin Deutsche an der Literatur wird nun auch von zeitgenössischen amerikanischen Schriftstellern geschätzt. Schon Richard Powers bezeichnet all seine Romane über naturwissenschaftliche Neuerungen als Bildungsromane in bester deutscher Tradition. Ben Marcus hat in seinem Roman Flammenalphabet die Idee durchgespielt, wie es auf der Welt aussähe, wenn Sprechen zu einer tödlichen Krankheit würde.
    Und nun kommt Ben Lerner. Dessen zweiter Roman "22:04" zeigt einen Helden, ebenfalls ein Schriftsteller mit dem Namen Ben Lerner, der kaum Gewissheiten über die Wirklichkeit besitzt. Weder über die seines eigenen Ichs noch über die Wirklichkeit außerhalb von ihm. Was ihn aber nicht weiter stört. Die Ungewissheit öffnet schließlich Freiräume für die Vorstellung.
    Lerner: "Dichter, so schien es mir, waren die heimlichen Gesetzgeber der Welt."
    Es beginnt mit dem Titel "22:04". Das ist die Uhrzeit, zu der im erklärten Lieblingsfilm des Autors "Zurück in die Zukunft" der Blitz in die Rathausuhr einschlägt. Er befördert den Helden in die Gegenwart. Eine Gegenwart, die er durch seine Zeitreisen allerdings gehörig durcheinandergebracht hat.
    Zeitreisen in beweglicher Ich-Perspektive
    Von Zeitreisen, und zwar solchen in der Vorstellung seiner Figuren, handelt der ganze Roman Ben Lerners. Der Protagonist, der aus der – hier: beweglichen - Ich-Perspektive erzählt, durchlebt circa 30 Episoden, in denen er förmlich den Beweis führt, wieviel Fiktion, wieviel Fälschung in der Wirklichkeit steckt. Etwa wenn er sich mit seiner Agentin trifft und einen sechsstelligen Betrag für einen Roman kassiert, von dem er gar nicht vorhat, ihn je zu schreiben; oder wenn er einer Frau zuhört, die ihm erzählt, sie habe ihrem Mann vorgemacht, unheilbar an Krebs erkrankt zu sein, um endlich von ihm geliebt zu werden; wenn er von sich als einem an einem Hirntumor Erkrankten schreibt, der Dinge riechen, fühlen und sehen kann, die es nicht gibt. Und schließlich, wenn er sich an das erste Mal erinnert, als er verliebt war. Er lernte die Frau auf einer Soirée bei einem New Yorker Verlegerpaar kennen.
    Lerner: "Ich hatte ein überwältigendes Gefühl davon, welche Möglichkeiten und welche Fülle die Welt barg, die massereichen, leuchtenden Himmelskörper brannten ohne Ironie über mir, die Straßenlaternen hatten Gloriolen, und ich konnte die hellen, krustigen Hochlande des Mondes, das ferne Gesprenkel der Systeme ausmachen; mein Verstand und mein Körper glichen einer verglimmenden Kohle, die Erde war unveränderlich schön."
    Doch er sieht die Frau nie mehr wieder. Sie hatte ihn angeschwindelt, hatte gesagt, sie sei die Tochter des Verlegerehepaares Natali und Bernhard, hatte sogar ein Bild im Flur als ihre Kinderzeichnung ausgegeben. Wie sich allerdings herausstellt: Natalie und Bernhard haben keine Tochter. Die Zeichnung im Flur stammte von einem Dada-Künstler. Frauen machen so etwas manchmal im Übermut, dass sie verliebten Männern einen Bären aufbinden und sich freuen, wenn der Coup gelingt. Ist nicht schön, aber das war Bens erste Begegnung mit der Illusion von Liebe.
    Der Roman beginnt mit der Ankündigung eines Zyklons, der sich New York nähert. Er wird nicht eintreffen, aber allein die Vorstellung dieser Gefahr verändert die Wahrnehmung der Wirklichkeit.
    "Es war dunkel, die Luft erregt von banger Ahnung und noch etwas anderem, etwas wie dem Gefühl eines Schneetages in der Kindheit, wenn sich die Zeit von den Institutionen freigemacht hatte, wenn der Schnee wie eine Technik zur Überwindung der Zeit oder die überwundene Zeit selbst anmutete, die vom Himmel fiel, jedes glitzernde Eisteilchen ein vom Alltag zurückgeschenkter Augenblick."
    Szenen im "Masturbatorium" einer Privatklinik
    Die Macht der Vorstellung, sie spielt immer wieder die Hauptrolle in diesem Roman. Auch in Bens wichtigster und langjähriger Beziehung zu Alex. Ihre Geschichte durchzieht die ganze Handlung, auch wenn Alex in einem zweiten Teil des Romans "22:04" eine leicht veränderte Vita und einen anderen Namen erhält: Lisa. Soll wohl deutlich machen: Man kann auch immer in anderen Worten von etwas erzählen und siehe da, es fühlt sich gleich auch anders an. Bens Beziehung zu Alex ist erklärt platonisch, trotzdem möchte Alex ein Kind von ihm. Es soll durch künstliche Befruchtung entstehen. Die komischsten Stellen des Romans spielen in einem von Ben so genannten "Masturbatorium", einer Privatklinik, in deren Hygienekabinen er für jeden der zig Befruchtungsversuche immer wieder frischen Samen produzieren muss. Samen, auch dies eine kleine Fälschung, der nachher gereinigt und optimiert wird. Ben, der gar nicht sicher ist, ob er überhaupt Vater werden will, stellt sich bei Gelegenheit vor, wie dieses, also irgendwie auch sein Kind, ihn vielleicht später mal fragen wird: "Warum habt ihr beide nicht einfach miteinander geschlafen? Weil das bizarr gewesen wäre." Eine andere Antwort fällt ihm nicht ein.
    Es ist tatsächlich schwer vorstellbar, dass in der feinnervigen, hypochondrischen, komplizierten und stets möglichst entscheidungsfreien Welt der Romanfigur Ben Lerner so etwas Grundstürzendes passieren könnte wie die Gründung einer Familie, ein Ereignis, dass für die Zukunft alle Weichen stellt.
    Ben Lerners Roman "22:04" ist stilistisch hybrid: hier elegant, dort komisch, manchmal schwer vor technischem Fachjargon, immer aber, als hätte der Autor die feinsten Realitätsseziermaschinen angesetzt. Es ist ein Weltwahrnehmungsroman in Panoramaperspektive, der viele hundert Trug- und Möglichkeits-Bilder zusammenführt. Andere Bilder haben wir kaum. Denn außer dem Körper, der die einzige unausweichliche Realität schafft, ist alles Fiktion, so die Ben Lerners Roman zugrundeliegende Idee. Ansonsten ist das Leben ein geistiger Zustand. Deshalb kommt es darauf an, was wir uns darüber erzählen. Und wir haben, zeigt Ben Lerner, da eine gewisse Wahl.
    Ben Lerner: 22:04
    Roman
    Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl
    Rowohlt, Reinbek 2016, 314 Seiten, 19,95 Euro