Als IT-Forensikerin ist die Polizistin Valerie Stetter seit Längerem mit einem Fall beschäftigt, in dem es um Leiharbeitsfirmen geht. Diese bringen osteuropäische Arbeitskräfte nach Deutschland und lassen sie in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen darben. Valerie kümmert sich um die "blank offenliegenden Bytes", entschlüsselt Festplatten und stellt gelöschte SMS wieder her, um so Einblicke zu gewinnen in das System aus Schleusern, verdeckten Auszahlungen und fingierten Dokumenten.
"Blank offenliegende Bytes"
"Ich hab wohl", sagt sie ihrem Gegenüber bei einem Date, "so gut wie alles gesehen, was sich Menschen freiwillig und unfreiwillig gegenseitig antun". Ihr neuer Fall wird sie im Laufe der Ermittlungen tatsächlich an ihre professionellen und privaten Grenzen bringen:
"Valerie holt sich einen Kaffee, dann taucht sie ab. Jetzt spielt nichts mehr eine Rolle, keine Dates, keine Termine, nicht ihr Bruder, keine gescheiterten Pläne, nichts, was sie grübeln lässt. Jetzt sind es nur noch sie, die beiden Bildschirme vor ihr, das Gerät und die Daten."
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In Benedikt Feitens drittem Roman „Leiden Centraal“ werden neben Valeries Perspektive noch jene von Adrian de Jong und Cristina Mitu geschaltet. Er ist einer der Hintermänner der Leiharbeitsfirma, der darum bemüht ist, seine illegalen Aktivitäten zu vertuschen.
Sie wiederum hat sich bei Adrian und seinen Handlangern hochgearbeitet, nicht aus karrieristischen, sondern aus familiären Gründen: Cristinas Schwester Loredana wurde über das Schleuser-Netzwerk von Rumänien nach Deutschland gebracht und ist seither nicht mehr aufzufinden. Mal tritt Cristina als die zielstrebige Mitarbeiterin auf, die ihren geheimen Plan verfolgt, mal ist sie die verzweifelte Schwester, die SMS an eine längst abgeschaltete Nummer von Loredana schickt:
"Weißt du noch, wie schön das in Lugoj bei unseren Verwandten war? Tomate, Aubergine, Petersilie, Nüsse und Kirschen, alles frisch aus dem Garten. Überall durften wir alleine draußen spielen, sogar im Fluss schwimmen. Wie schön das war."
Es sind Szenen wie diese, die aus Feitens Roman mehr machen als den doch eher handelsüblichen Krimi, der er mitunter ist, inklusive Mord, Explosion, Gerichtsverhandlung und dem unvermeidlichen Polizisten-Duo, das sich nur so mäßig mag.
Erzwungene Intimität
Die Erinnerungen, geschickt als SMS ins Daten-Nirwana oder wie in Valeries Fall nacherlebt als fremde Intimität im Rahmen der Ermittlungen – sie sind es, die die drei Hauptfiguren abseits der Gute-jagen-Böse-Logik scharf und verletzlich hervortreten lassen. Im Zuge ihrer Recherchen verschafft sich Valerie, der der Fall mehr und mehr zusetzt, auch Zugang zu Adrians Laptop:
"Sie versteht, dass er gerade dieses Motiv so oft aufgerufen hat. Aber warum ist es dann ganz hinten in den Ordnern versteckt? Weil er es eigentlich vor sich selbst verborgen halten will, es aber nicht übers Herz bringt, es zu löschen? Stattdessen klickt er sich immer wieder durch dieselben Ordner, Privat/Bilder/Familie/2012/IMG_1045.jpg."
"Leiden Centraal" ist anzumerken, dass sein Autor sich ausgiebig mit dem IT-Thema und digitalen Ermittlungsmethoden beschäftigt hat. Die detailreiche Technik-Sprache ist entgegen der ersten Annahme, dass hier eine Expertise stilistisch über Gebühr strapaziert wird, ein Motor der Lektüre. Als Leser gewinnt man einen Eindruck davon, welche Informationen in Datensets stecken, wie sich diese als Machtinstrument nutzen lassen und wie der Code für Menschen wie Valerie zu einer Art Lebenselixier wird:
"Ein Bereich mit eindeutigen Regeln, als Ausgangspunkt für alles andere, ohne Missverständnisse, ohne Unsicherheiten. »extract sms(sms_raw_foles)«, gibt sie den Befehl ein. Ihr Programm spielt die Nachrichten aus, sauber geordnet nach Zeit, Inhalt und Telefonnummer des Absenders. Die Ordnung strahlt aus, in die Welt, in ihren Körper, in ihren Atem, in ihren Puls."
"Was will sie retten?", fragt sich Cristina am Ende ihrer Odyssee, auf der es sie wie Adrian de Jong und Valerie Stetter ins niederländische Leiden verschlagen hat. Sie gibt sich selbst eine eher vage Antwort: "Irgendwas wie Gerechtigkeit. Irgendwas wie Würde."
Menschenverachtung als Wirtschaftsmodell
In "Leiden Centraal" mögen die Motivationen hinter den Entscheidungen der Figuren nicht immer stichhaltig sein – halt "irgendwas" mit Rache, "irgendwas" mit Selbstvergewisserung und Befreiungsschlägen. Aber dem Autor gelingt es, einen rasanten Roman über Menschenverachtung und asoziale Wirtschaftsmodelle zu schreiben, in dem die "blank offenliegenden Bytes" eine der Hauptrollen spielen. Sie stellen einen magischen Raum dar, in dem sich die Figuren wie in einem grimmschen Märchenwald verirren, immerzu auf der Suche nach dem Wertvollen, nach Zugangsschlüsseln für Kryptowährungen, Spuren verschollener Schwestern oder Kindheitserinnerungen, die einem eine Welt vorgaukeln, die es so nie gegeben hat.
Benedikt Feiten: "Leiden Centraal"
Voland & Quist, Berlin.
320 Seiten, 24 Euro.
Voland & Quist, Berlin.
320 Seiten, 24 Euro.