Liminski: Herr Kraus, der Morgengruß, der Gruß überhaupt, ist offenbar nicht mehr so selbstverständlich, ebenso das "Danke" und "Bitte", und überhaupt: Die Umgangsformen, genauer der Mangel an solchen Formen bei deutschen Schülern in Bus und Bahn treiben regelmäßig älteren Mitbürgern die Zornesröte ins Gesicht. Gibt es ein Benimmdefizit deutscher Schüler und Jugendlicher?
Kraus: Sie sagen es ja zu Recht. Es ist auf allen Marktplätzen, in den Straßen, in den U-Bahnen beobachtbar, dass kein Gespür mehr dafür da ist, was sich gehört und was sich nicht gehört. Wobei ich allerdings nicht den Stab über die Jugend, die Kinder generell brechen möchte. Nach meinem Eindruck ist es ein größer werdender Teil, der hier nicht mehr weiß, was sich gehört. Ich denke, es gibt ein Stadt-Land-Gefälle. Auf dem Land ist das alles noch ein bisschen besser ausgeprägt und harmloser. Es geht um eine Größenordnung von um die 20 Prozent, dass die Achtjährigen und die Zwölfjährigen reguläre mitteleuropäische Umgangsformen nicht mehr kennen.
Liminski: Das Erziehungsdefizit ist also da. Wer soll das denn nun beheben? Die Schule, die Eltern, die Politik, die Gesellschaft oder alle zusammen? Ist das eine Gemeinschaftsaufgabe?
Kraus: Natürlich ist das eine Gemeinschaftsaufgabe. Allerdings mit eindeutiger Prioritätensetzung. Wir sollten nicht immer nur alle möglichen Freiheitsrechte des Grundgesetzes hier bemühen, sondern wir sollten in dem Zusammenhang auch mal den Grundgesetzartikel 6 bemühen, wo ja ausdrücklich in Absatz 2 drinsteht: "Pflege der Kinder und Erziehung sind das natürliche Recht der Eltern." Da hört üblicherweise bei den meisten Leuten das Zitieren auf, aber der Satz geht ja weiter: "und das zuförderst ihnen obliegende Pflicht". Es sind natürlich in erster Linie die Elternhäuser gefragt, und das nicht, weil das Grundgesetz es uns vorgibt, sondern weil die Pädagogik, die Tiefenpsychologie auch sagt: Die Prägungen, die in den ersten sechs oder meinetwegen ersten zehn Lebensjahren nicht stattfinden, können später nicht nachgeholt werden. Was bestimmte Umgangsformen betrifft, die Bereitschaft "danke" zu sagen, die Bereitschaft, auf Aggressivität zu verzichten, bestimmte Medienkonsumweisen und so weiter, das muss zu Hause geprägt werden, oder in diesem Bereich findet Erziehung kaum noch statt. Das Gemeinwesen insgesamt, gar der Staat oder die Schule allein sind hier hoffnungslos verloren, wenn man das ihnen alleine aufbürdet.
Liminski: Wenn nun aber die Eltern, Herr Kraus, ihrem Erziehungsauftrag nicht nachkommen - manchmal sind sie ja auch schlicht überfordert -, sollte man sie dann nicht darin unterstützen, etwa durch mehr Beratung? Viele Eltern nehmen solche Angebote ja auch wahr. Die Familien- und Erziehungsberatungsstellen sind überlaufen. In Frankreich gibt es in manchen Rathäusern ja sogar eigene Anlaufstellen für dringende Fälle.
Kraus: Das ist natürlich richtig. Wir müssen erstens die Bereitschaft der Eltern wieder wecken. Da gehört es dazu, dass die Meinungsführer in unserer Gesellschaft - von den Showstars über Politiker bis hin zu Sportlern - immer wieder sagen, wie wichtig Erziehung und wie wichtig die Prägung in den ersten zehn Jahren ist. Die Bereitschaft ist zunächst einmal wichtig. Ansonsten haben wir ja in der damaligen Elternschaft vor dreißig Jahren, aber auch mit Spuren in der heutigen Elternschaft, die gewaltige Verunsicherung, was die Erziehung betrifft. Da hat natürlich die 68er Bewegung ihre Spuren hinterlassen, wo Erziehung als Herrschaftsausübung diskreditiert wurde. Davon müssen wir wieder weg. Dann können wir darüber reden, wie wir Eltern das beibringen. Ich bin nicht unbedingt ein Freund des Faches Erziehungslehre in allen Schulen, weil das wieder relativ theoretisch und aufgesetzt bleibt. Ich könnte mir aber vorstellen, dass so etwas in den Kommunen über die Jugendämter verstärkt angeboten wird. Ich würde mir aber vor allem auch vorstellen, dass vielleicht die Schulen selbst für ein bisschen mehr Elternarbeit werben. Es ist allerdings leider im Moment die Praxis, dass an weiterführenden Schulen in dem Moment, wo die Kinder mal in der fünften, sechsten Klasse waren, Sie natürlich am Abend die Eltern kaum noch reinkriegen. Das wäre aber eine Chance. Wir brauchen dann eine Erziehungspartnerschaft zwischen Schule und Elternhaus. Da muss die Schule die Eltern fragen, was die Eltern besser können, und die Eltern müssen akzeptieren, was die Schule besser kann. Es ist also eine Mentalitätsfrage. Dann muss natürlich bei solchen Veranstaltungen, bei solchen Abenden oder meinetwegen auch Gesprächsrunden - nicht bloß Vortragsveranstaltungen -, die Bedeutung des Erzieherischen rübergebracht und Mut gemacht werden, dieses unbequeme Geschäft auf sich zu nehmen. Was ich allerdings nicht möchte ist, dass wir das Erziehungsgeschehen immer noch mehr verstaatlichen, dass wir immer noch mehr nach dem Staat rufen.
Liminski: Pestalozzi hat mal die Summe seines Erziehungswissens gezogen und sie in drei großen "Z" zusammengefasst: Zeit, Zuwendung, Zärtlichkeit, sagte er. Was fehlt denn den jungen Kindern und Jugendlichen heute am meisten?
Kraus: Ich würde zu den drei "Z" noch ein "V" mit hinzunehmen, nämlich das Vorbild der Eltern. Das würde ich sogar an die erste Stelle setzen. Wenn Eltern in bestimmten Bereichen, was Arbeitsverhalten, was Medienkonsum, was sonstigen Konsum betrifft, kein gutes Vorbild sind, werden sie keine Kinder haben, die sich entsprechend verhalten. Was die drei "Z" von Pestalozzi betrifft, würde ich eindeutig eine Rangreihe sehen und sagen, der Faktor Zeit ist das Entscheidende. Natürlich: Zärtlichkeit und Zuwendung, aber das hat alles damit zu tun. Wenn keine Zeit da ist, wenn sich die Eltern die Zeit nicht nehmen, läuft natürlich auch in puncto Zärtlichkeit und Zuwendung nichts. Es ist ja heute eine paradoxe Situation: Wir haben pro Elternpaar immer weniger Kinder. Wir haben gleichzeitig in der Erwachsenenwelt, also bei den Eltern, immer kürzere Arbeitszeiten. Die Zeit, die man also für die immer geringere Kinderzahl aufwendet, wird immer kürzer. Das meine ich mit der paradoxen Situation. Die Eltern müssen selbst, so sie das tun, mal von ihrem Selbstverwirklichungstrip ein bisschen herunterkommen und sich wirklich für Familie und für gemeinsame Unternehmungen Zeit nehmen. Das hat in den letzten Jahren enorm gelitten.
Liminski: Herr Kraus, hinter dem neuen Knigge-Fach, das in Bremen und Saarbrücken eingeführt werden soll, verbirgt sich eigentlich auch eine Debatte über den Begriff "Erziehung" und damit auch über seine Definition. "Erziehung ist Beschenkung mit Menschlichkeit", schreibt Johannes Paul II. Das ist eine schöne, aber auch relativ abstrakte Definition. Sie erinnert vielleicht auch ein bisschen an Rousseau und dessen Erziehungsideale. Sind denn solche Debatten bei uns oder generell in einer pluralistischen Gesellschaft noch zu führen?
Kraus: Wir müssen sie führen. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, wenn wir dieses Gemeinwesen weiterentwickeln wollen, wenn es die nächsten Jahrzehnte und Jahrhunderte überstehen soll, wenn wir unsere Bildungsergebnisse, Stichwort Pisa, wieder verbessern wollen. Wir kriegen auch keine Bildungsoffensive ohne eine Erziehungsoffensive hin. Wenn es zu Hause nicht klappt, dann wird es auch bei den nächsten Pisa-Ergebnissen nicht besser klappen. Ansonsten ist mir eine Definition sehr einsichtig, die von einem der berühmtesten deutschen Pädagogen stammt, nämlich Theodor Lütt, der gesagt hat: "Erziehen ist Führen und Wachsen lassen" und zwar in einem ausgewogenen Verhältnis. Das zeigt einmal, wie schwierig das Erziehungsgeschäft ist. Es zeigt aber auch, wenn man das mal als Messlatte an die heutigen Erziehungsmerkmale anlegt, dass einer der beiden Pole "Führen" und "Wachsen lassen" deutlich übergewichtet wurde, nämlich das laisser-faire, das Wachsen lassen. Elternschaft und Lehrerschaft muss - übrigens auch der Nachbar, der irgendetwas beobachtet in der Umgebung bei Nachbarskindern - wieder die Courage aufbringen, Erziehen auch als Führen, als Grenzen aufzeigen zu verstehen.
Liminski: Sie sind doch ein Mann der Praxis, Herr Kraus. Glauben Sie denn - ich will noch mal auf Saarbrücken und Bremen zurückkommen -, dass die Kinder solche Bausteine lernen würden? Ist das nicht auch schon eine Sache der Kopfnoten?
Kraus: Ich habe nichts gegen Kopfnoten. Ich habe auch den Eindruck, dass nach wie vor sehr viele Eltern sehr viel von Kopfnoten halten und eine schwache Kopfnote vielleicht ernster nehmen als eine Drei oder Vier in irgendeinem Fach. Ich befürchte nur, wenn das als curricularer Baustein oder gar als eigenes Fach gehandelt wird, dass es relativ abstrakt und aufgesetzt bleibt. Erziehen in der Schule heißt natürlich, dass immer am konkreten Anlass erzieherisch gewirkt wird, dass der Klassenleiter einen Mobbing-Fall aufgreift, dass der Klassenleiter einen Fall von Spucken auf den Boden aufgreift und das dann artikuliert wird, warum das nicht geht. Dann einigt man sich auf gewisse Regeln. Sonst bleibt es relativ abstrakt.
Liminski: Was erwarten Sie denn als nächstes in der großen Erziehungsdebatte? Die Schuluniform?
Kraus: Das Thema haben wir ja immer mal wieder gehabt, wie jetzt auch zuletzt als Sommerlochbrüller. Es ist ja interessant, dass sich irgendwelche Politiker oder Erziehungswissenschaftler immer wieder berufen fühlen, das Patentrezept aufzulegen. Nein- mit Patentrezepten ist es nicht getan. Ich bringe es noch einmal auf den Punkt: Wir kriegen keine Bildungsoffensive hin, wenn wir nicht Erziehungsoffensive hinkriegen. Da muss sich zunächst einmal auch die Erwachsenenwelt im Sinne von Vorbildwirkung ändern. Diese Debatte wünschte ich mir, um die Bedeutung von Familie, vom Gemeinwesen, was noch nicht mit dem Staat etwas zu tun hat. Ich habe etwas gegen den Ruf nach immer mehr Staat, habe etwas gegen den Ruf nach dem anderen Patentrezept, was da Ganztagsschule heißt. Es muss vielmehr in der Keimzelle von Gesellschaft, nämlich in der Familie, alles wieder etwas ernster genommen werden, wiewohl es - das weiß ich aus Erfahrung - ein unbequemes Geschäft ist.
Liminski: Die Eltern sollen mehr Vorbild sein, wenn ich das mal so resümieren darf. Das war Josef Kraus, Präsident des deutschen Lehrerverbands und Direktor eines Gymnasiums. Besten Dank für das Gespräch, Herr Kraus.
Kraus: Ich danke auch.
Link: Interview als RealAudio