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Bergwaldtheater Weißenburg
Eine wilde Reise durch die Zeit

Böse Geister, NS-Schergen und Spießbürger - die Bandbreite im uraufgeführten Werk "Lebkuchenmann" von Franzobel ist groß. Geschichte wird im Schnelldurchlauf durchschritten, Gesellschaftsbilder werden rasant analysiert. Ein Stück das verzaubert, aber dennoch keine leichte Kost ist.

Von Jörn Florian Fuchs | 14.07.2019
Andreas Leopold Schadt spielt Franzobels "Lebkuchenmann" im Bergwaldtheater in Weißenburg
Andreas Leopold Schadt spielt Franzobels "Lebkuchenmann" im Bergwaldtheater in Weißenburg (Stadt Weißenburg/Antonia Rieger)
"Der Lebkuchenmann geistert hier herum. Er will, dass das alles aufhört, er will Menschlichkeit, Veränderung, Aufklärung. Ja und ich, weil ich wegen einer Kleinigkeit bei der Erlkönigin in Ungnade gefallen bin, muss ihm das Handwerk legen. Komm mit zu einer wilden Reise durch die Zeit!"
Beim ersten Auftritt des spärlich bekleideten Spukwesens Phöbe ahnt man noch nicht, dass die Sache sehr kompliziert werden wird. Ein Lebkuchenmann? Eine Erlkönigin? Und dann der Spielort, das Bergwaldtheater in der mittelfränkischen Römerstadt Weißenburg - das klingt nach einer sommerlichen Märchenstunde für die ganze Familie, mit schönen Kostümen, netter Begleitmusik und vielleicht der einen oder anderen Lebensweisheit vor dem unvermeidlichen Happy End. Doch weit gefehlt! Denn was sich der österreichische Schriftsteller Franzobel und sein Regie führender Landsmann Georg Schmiedleitner zum 90. Geburtstag der tatsächlich äußerst romantisch-verwunschenen Spielstätte unter freiem Himmel ausgedacht haben, dürfte der größtmögliche Kontrapunkt zu den üblichen Sommernachtsspektakeln sein, "Jedermann" und Nibelungenfestspiele eingeschlossen.
Rasanter Ritt durch die Historie
Franzobel war vor zwei Jahren Stadtschreiber in Weißenburg und hat sich tief in die Geschichte der Gegend eingegraben. Er jagt ein gigantisches Ensemble aus Profis und Laien drei Stunden lang durch unzählige wahre und erfundene Szenen aus diversen Zeiten. Mal sind wir im Mittelalter und begegnen einem Hexentribunal, bei dem ausschließlich Kinder Täter und Opfer sind, dann wird turbulent gehochzeitet, plötzlich toben NS-Schergen herum, dann treffen wir einen selbstgefälligen Markgrafen, dann wiederum einen - glücklicherweise arg inkompetenten - Henker. Als grobe Klammer dient Phöbes Versuch, es der Erlkönigin Recht zu machen und den nach Weihnachtsgebäck duftenden Versöhner zu vernichten. Diesen Lebkuchenmann spielt Tatort-Kommissar Andreas Leopold Schadt in brillantem Wechsel von hohem und eher hohlem Ton, mal orgelt er tiefstes Fränkisch, mal liefert er Knittelverse. Anna Mateur verzaubert und verstört zugleich als miesepetrige Erlkönigin, Bettina Brezinski ist eine verwegen erotische Phöbe.
Verzauberung ist auch das Stichwort fürs gesamte Stück. Denn es geht tatsächlich um ganz großes Mythentheater, das mit Motiven mittelalterlicher Mysterienspiele ebenso spielt wie mit derb-überdrehtem Volkstheater von heute und gelegentlichen epischen Brüchen. Immer wieder entsteht eine Art Erdung, ein Entzaubern und Infrage stellen des gerade Gesehenen. Leicht konsumierbar ist hier wenig, auch wenn es viele tolle Bühneneffekte und überaus vielseitige Live-Musik gibt.
Feigheit und Doppelmoral
Die zentrale Botschaft dreht sich um Autonomie und Selbstbefragung. Damit weist das Stück weit über Weißenburg hinaus, allerdings wird den Bewohnern der Stadt öfters der - nicht nur historische - Spiegel vorgehalten. Etwa die Begeisterung von Glasern und Tischlern, die nach den Judenpogromen schöne Aufträge bekamen, oder die engstirnige Mentalität mancher Einheimischer, die mit dem Satz "wo anders is a net anders" fein zusammen gefasst ist.
Immer wieder taucht ein harmlos scheinendes, kleinbürgerliches Paar auf und kommentiert manche Szene. Später versteckt es einen nach Lebkuchen riechenden Flüchtling. Doch letztlich siegt der Wunsch nach Ruhe und Behaglichkeit und es verrät ihn. Feigheit und Doppelmoral, Abgeben von Verantwortung und Spießigkeit - auch dies ein rotes Wollknäuel im Stück.
"Wir haben nichts. Und schon gar nichts verbrochen. Wir sind Opfer einer verfehlten Politik. Wir brauchen Schuldenerlass, Mitleid, Kredit. - Genau. Um an der Not der anderen zu verdienen. Was den Reichen hilft. Geht's den Reichen gut, geht's allen gut. Das ist höhere Politik, du Dilettant!"
Seelengewitter und reale Stürme
Mit dem "Lebkuchenmann" ist dem Bergwaldtheater ein Sommerhit der ganz anderen Art gelungen, am Premierenwochenende stimmte nur eines nicht: das Wetter. Schnürlregen und Wind machten den Personen auf und jenseits der Bühne arg zu schaffen. Dazu Inspizient Ulrich Spies:
"Wir haben immer Kontakt mit dem Deutschen Wetterdienst. Bei Sturm und Gewitter würden wir abbrechen. Wobei ja eigentlich alles wetterfest gemacht ist."
Bleibt also zu hoffen, dass gute wie böse Menschen und Geister an den kommenden Abenden nicht von realen Stürmen weggefegt werden, sie haben mit ihren Seelengewittern wirklich schon genug zu tun.