Mai 1945. Die Waffen schweigen, Ströme von Menschen ziehen durch das zerstörte Europa.
"Man muss sich den Krieg als eine riesige Versprengungsmaschinerie vorstellen", sagt Harald Jähner, Autor des Buches Wolfszeit, einer Mentalitätsgeschichte der deutschen Nachkriegszeit. "Die Hälfte der in Deutschland lebenden Menschen war nicht dort, wo sie hinwollten und hingehörten."
Neun Millionen Ausgebombte und Evakuierte, 14 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, dazu heimkehrende Soldaten und: mehr als zehn Millionen ehemaliger Zwangsarbeiter und Lagerinsassen. Displaced Persons, DPs, hießen sie in der Verwaltungssprache der Siegermächte, Verschleppte, Entwurzelte. Dazu Harald Jähner: "Wir denken immer: Mit der Befreiung der KZs und der Befreiung der Zwangsarbeiterlager hätte alles ein glückliches Ende gefunden, aber so leicht war das natürlich nicht."
DP-Lager teils frühere KZs
Die Mehrheit der Zwangsarbeiter, die die Kriegswirtschaft der Nazis am Laufen gehalten hatten, wurde sehr schnell "repatriiert", zurückgebracht nach Polen, in die Ukraine oder die baltischen Länder, bis zu 33.000 am Tag. Was aber war mit den jüdischen KZ-Überlebenden – ihre Familien ermordet, ihre Kultur vernichtet, ihre Heimat zerstört? "Sie mussten zum Teil in den alten KZs bleiben. Die wurden notdürftig gesäubert. Es dauerte auch lange, bis sie andere Kleidung bekamen, als die gestreifte Häftlingskleidung. Viele mussten sogar als Alternative die SS-Uniform ihrer ehemaligen Bewacher und Peiniger anziehen."
In den Sammellagern für DPs, von den Siegermächten eilends errichtet, war die Situation kaum besser. Es herrschten drangvolle Enge und katastrophale hygienische Zustände, die Ernährungslage war miserabel.
"Wir scheinen die Juden wie die Nazis zu behandeln, mit der Ausnahme, dass wir sie nicht vernichten. Sie sind in großer Anzahl in Konzentrationslagern untergebracht und werden statt von SS-Truppen von unseren Militärs bewacht. Man muss sich die Frage stellen, ob die Deutschen, wenn sie dies beobachten, nicht vermuten, dass wir die NS-Politik fortsetzen oder sie jedenfalls gutheißen."
Truman beauftragt Harrison
Diese an Schärfe kaum zu überbietende Kritik am Umgang mit den etwa 50.000 bis 70.0000 jüdischen DPs stammt aus dem sogenannten Harrison-Report, veröffentlicht am 30. September 1945 in der "New York Times". Der amerikanische Jurist Earl G. Harrison hatte im Juli 1945 im Auftrag Präsident Trumans 30 DP-Camps in Deutschland und Österreich inspiziert, sein Resümee war verheerend. Am heftigsten beklagte er die Unterbringung von Holocaust-Überlebenden gemeinsam mit nichtjüdischen DPs der gleichen Nationalität, deren oft tief verwurzeltem Antisemitismus sie dort ausgesetzt waren: "Juden sind als Juden weitaus mehr gequält worden, als die nichtjüdischen Angehörigen des gleichen oder eines anderen Staates", heißt es im Bericht.
Lager Föhrenwald
Der Oberbefehlshaber der US-Besatzungstruppen in Deutschland, General Dwight D. Eisenhower, reagierte umgehend auf Harrisons Bericht und erließ neben vielen anderen Verbesserungen die Anordnung, spezielle Lager nur für jüdische DPs zu errichten, meist zur Eigenverwaltung. Das größte, Föhrenwald nahe Wolfratshausen bei München, sollte bis 1957 bestehen.
Hier etablierte sich – fernab von der mit dem Wiederaufbau beschäftigten deutschen Nachkriegsgesellschaft – eine regelrechte Schtetl-Kultur mit Synagogen, jüdischen Schulen und Kindergärten, Theatern, Sportvereinen, einer jiddischsprachigen Presse, einer, wenn auch begrenzten, eigenen Gerichtsbarkeit.
Unmut erregte Harrisons Bericht allerdings bei den Briten. Denn Harrison hatte etwas gefordert, was Großbritannien, damals Mandatsträger in Palästina, überhaupt nicht passte: die Ausstellung von 100.000 zusätzlichen Einwanderungszertifikaten.
Harrison-Report als Meilenstein auf dem Weg zur Staatsgründung Israels
"Keine andere Angelegenheit ist aus Sicht der Juden in Deutschland und Österreich und aller anderen, die die Schrecken der Konzentrationslager kennengelernt haben, so wichtig wie die Entscheidung der Frage Palästinas."
1948 fiel diese Entscheidung. Heute gilt der Harrison-Report Historikern als Katalysator, der mit dazu führte, dass aus jüdischen DPs Menschen mit Zukunftsperspektive wurden – und viele von ihnen Bürger des neuen Staates Israel.