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Berlin-Neukölln
Bezirksbürgermeisterin zwischen Clan-Kämpfen und Bildungsvorhaben

Seit einem Jahr ist Franziska Giffey (SPD) Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln. Ihr Vorgänger Heinz Buschkowsky war für seine polarisierende Art bekannt. Sie will den Bürgern zuhören, die Clan-Revierkämpfe nicht übersehen und vor allem ihren eignen Weg in Neukölln finden. Ganz weit oben steht das Thema Bildung im Problembezirk.

Von Verena Kemna | 14.04.2016
    Franziska Giffey (SPD), Bezirksbürgermeisterin in Berlin-Neukölln
    Franziska Giffey (SPD), Bezirksbürgermeisterin in Berlin-Neukölln (imago stock & people)
    Es ist das Gesprächsthema im Rathaus Berlin-Neukölln. Die Berliner Polizei hat bei einer groß angelegten Razzia zugeschlagen. Von zwölf kriminellen Berliner Großclans leben sieben im Bezirk Neukölln. Allein dort weiß die Polizei von 150 Intensivtätern, mindestens 50 von ihnen sind minderjährige Wiederholungstäter. Die meisten kommen aus Familien mit arabischer oder türkischer Herkunft. Für Franziska Giffey, seit einem Jahr amtierende Bürgermeisterin in Neukölln, ist die erfolgreiche Razzia eine gute Botschaft.
    "Das als Zeichen zu setzen und zu sagen, es ist auch erfolgreich verlaufen, das ist ein sehr wichtiges Signal an die Berliner Bevölkerung, aber auch an diejenigen, die meinen, der Staat reagiert nicht ausreichend auf solche Machenschaften und solche kriminellen Organisationen und die Geschäftsfelder, die da ja laufen."
    Raubüberfälle, Prostitution, Glücksspiel, Drogenhandel, organisierte Kriminalität prägen vor allem den Neuköllner Norden. Die Clans führen Revierkämpfe, Zeugen werden mundtot gemacht, die Familien beschäftigen beste Anwaltskanzleien. Wissen, das Franziska Giffey auch von ihrem bundesweit bekannten Vorgänger, dem Sozialdemokraten Heinz Buschkowsky übernommen hat.
    "Das bedeutet, dass es hier eine besonders große Problemlage gibt, um die wir uns kümmern müssen, wo Staatsanwaltschaft, Polizei wirklich konsequent agieren müssen."
    Die 37-Jährige fingert aus einer Schatulle die Amtskette des Bürgermeisters von Berlin-Neukölln.
    "Ich bin ja die erste Frau, die die tragen darf und dann wird die einfach so umgelegt, um zu verdeutlichen, dass ich als offizielle Repräsentantin des Bezirks heute diese Einbürgerung vornehme.
    Noch einmal streicht sie ihr blaues Kostüm glatt, rückt am Revers den Anstecker mit dem Neuköllner Wappen gerade. Ihre blonden Haare sind sorgfältig zurückgesteckt, in ihrem Gesicht ist, wie fast immer, ein offenes Lächeln. Ihre Gedanken sind längst bei den fünfzig Neubürgern, die sie bereits erwarten.
    "Heute, das ist immer sehr schön, da kann man doch die Hoffnung zurückgewinnen, dass Integration doch funktioniert."
    Den Eindruck hat sie nicht immer. Sie erlebt, dass schon die Kleinsten "sozial verarmt" bei der Einschulung kaum deutsch sprechen. In Neukölln leben 160 Nationalitäten. Zwei Drittel der Schulen gelten als "problematisch", überdurchschnittlich viele Familien sind auf Hartz IV angewiesen. Aber Giffey verweist auch gerne auf Neuansiedlungen und Start-ups, eine aktive Modeszene.
    "Diese Vielfalt der Menschen die hier leben, natürlich ist das nicht immer einfach, aber es ist auch eine unglaubliche Chance und macht den Bezirk attraktiv.
    Dann steht sie am Rednerpult. Wo jetzt fünfzig Neubürger sitzen, im historischen Saal mit holzgetäfelter Decke, tagen normalerweise die Abgeordneten.
    Bei den Menschen sein und zuhören ist Giffeys Motto
    "Es ist schon ein außergewöhnlicher Moment, wenn man sich entscheidet, Bürgerin und Bürger eines anderen Landes zu werden, des deutschen Staates, der Bundesrepublik Deutschland, eines freien Landes, dessen Boden die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist, die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, die freie Meinungsäußerung. "
    Sie spricht über gesellschaftliche Teilhabe, soziale Verantwortung, Chancengleichheit, fordert die Anwesenden auf, sich aktiv im Alltag einzumischen, sich umeinander zu kümmern. Bildungsferne und soziale Armut zählen zu den größten Herausforderungen in Neukölln. Nach einer guten Stunde, kleiner Empfang: Die promovierte Verwaltungswissenschaftlerin ist schon wieder in ihrem Element. Ihr Credo: Bei den Menschen sein und zuhören. Gar nicht mehr staatstragend, schneidet die gebürtige Brandenburgerin für die Neubürger märkisches Landbrot, eine Tradition, die sie selbst eingeführt hat.
    "Ich bin immer ein bisschen beseelt danach, weil es so schön ist. Kommen sie ran, möchten sie?"
    Wieder im Bürgermeisterbüro. Der gediegene Holzschreibtisch, die Bücherregale an den Wänden, die Büste von Willy Brandt, all das hat sie von ihrem Vorgänger Heinz Buschkowsky übernommen. Einzige Veränderung sind großflächige bunte Luftaufnahmen von Neukölln. Buschkowsky hat das Rathaus seit seinem Amtsrücktritt nicht mehr betreten. Franziska Giffey hat längst gezeigt, dass sie ihren eigenen Weg geht, als junge Politikerin, die vor allem zuhört, weniger polarisiert. Kaum sitzt sie am Tisch, ist sie wieder beim Thema Bildung, der alltäglichen Herausforderung. Sie spricht über Schulsozialarbeit, Lesepaten, Kitaplätze, mehr Ganztagsschulen. Eine Quote von 30 Prozent ist ihr nicht genug.
    "Es geht immer darum, ein Stück weit auszugleichen, was woanders den Kindern nicht gegeben werden kann. Mit dem Ziel, dass sie auch, wenn sie nicht im wohlbehüteten Wohlstandsnest geboren sind, ihren Weg machen können und das haben wir leider noch nicht erreicht. "
    Dann sieht sie auf die Uhr, packt ihre Tasche, an diesem Nachmittag will sie ihren Sohn unbedingt pünktlich von der Ganztagsschule abholen.