Samstag, 11. Mai 2024

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Berliner Festival MaerzMusik
Dem Zeitempfinden nachspüren

Das Festival MaerzMusik nähert sich dem Phänomen Zeit aus verschiedenen Perspektiven. In der Multimedia-Performance "TIME TIME TIME", die dort Deutschlandpremiere hatte, geht es beispielsweise um gemessene und empfundene Zeit. Das Stück deckt das Zeitalter der Dinosaurier bis hin zur Digitaltechnik ab.

Von Leonie Reineke | 26.03.2019
Jennifer Walshe im Stück "TIME TIME TIME" beim Festival MaerzMusik.
Jennifer Walshe im Stück "TIME TIME TIME" beim Festival MaerzMusik. (Foto: Pieter Kers)
"Wir möchten gerne darüber nachdenken und ins Bewusstsein rufen, dass bestimmte Verständnisse von Geschichte auf bestimmten Zeitverständnissen basieren, und dass diese Geschichtsphilosophien wiederum eine ganz starke Auswirkung darauf haben, wie wir Politik denken, wie wir Gegenwart und Zukunft denken. Und in diesem Komplex sich zu bewegen mit einem geschärften Bewusstsein darüber, dass Geschichte nicht die Aneinanderreihung von objektiven Fakten ist, sondern eine Erzählform aus einer bestimmten politischen Perspektive."
Das sagt Berno Odo Polzer, künstlerischer Leiter der Berliner MaerzMusik. Konzerte sind hier immer von Diskussionen rund um das Phänomen Zeit gerahmt. Etwa Zeit als politische Kategorie oder Resultat kolonialistischer Weltordnungen. In diesem Jahr richtet die MaerzMusik ihren Blick auf die Geschichtsschreibung. Unter anderem in dem mehrtägigen Projekt "Tele-Visions", einer dokumentarischen Medieninstallation zu neuer Musik im Fernsehen.
Neue Musik im Fernsehen
Über 250 Berichte und Gesprächssendungen zur musikalischen Avantgarde seit den 50ern bis in die 90er Jahre werden hier präsentiert. Die Arbeiten stammen aus Fernseharchiven der ganzen Welt. Sie lassen erkennen, dass die neue Musik, wie viele andere gesellschaftliche Bereiche, schon immer von Ausgrenzungsmechanismen durchzogen war.
"Es ist ja nicht überraschend, dass die Stereotypen, die wir in diesen im Medium Fernsehen vermittelten Narrativen finden, die sind, die unsere Gegenwart politisch sehr umtreiben: weiße Vorherrschaft, struktureller Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Transphobie, alle möglichen Formen von einer eurozentristischen oder westzentrierten Perspektive. Und der Versuch unsererseits ist, zu einer entspannten aber sehr ernsthaften Diskussion einzuladen darüber, was von diesen Stereotypen, von diesen Geschichtsbildern vielleicht heute immer noch präsent ist und was wir dagegen machen könnten."
"Tele-Visions" wirft einen Blick in die Geschichte, um die Gegenwart zu verstehen.
Gemessene und empfundene Zeit
Aus ganz verschiedenen Perspektiven wiederum wurde das Phänomen Zeit in einer Arbeit der irischen Komponistin und Performerin Jennifer Walshe beleuchtet: Ihr Multimedia-Musiktheaterstück "TIME TIME TIME" hatte Deutschlandpremiere. Weniger in einem linearen Erzählstrang, sondern vielmehr in Form von assoziativen Feldern nähert sich Walshe der Zeit-Thematik:
"Ich habe im Vorfeld viel darüber nachgedacht, wie Zeit gemessen und empfunden wird. Dafür habe ich mich sowohl mit Paläontologen getroffen, die Millionen von Jahren in die Vergangenheit blicken, als auch mit Wissenschaftlern vom "Nationalen Physikalischen Laboratorium", die über Zeit bis zur 17. Nachkommastelle sprechen. Diese beiden Enden des Spektrums, was Zeit bedeuten kann, haben buchstäblich mein Gehirn verändert."
Dass gemessene und empfundene Zeit extrem voneinander abweichen können, ist nur einer von vielen Aspekten, die Jennifer Walshe in ihrem Stück auslotet. So reicht das Spektrum an Inhalten von modernen Effizienzstrategien durch Digitaltechnik bis hin zur Zeitepoche der Dinosaurier. Mit Stimme und Instrumenten rekonstruierten die Musiker die Geräuschwelt der urzeitlichen Lebewesen.
Viele Spielarten von Gegenwartsmusik
Ähnlich heterogen wie die Inhalte war auch das Spektrum an musikalischen Stilen. Denn Walshe stand gemeinsam mit anderen Künstlern auf der Bühne, die ganz verschiedene musikalische Sprachen sprechen.
In "TIME TIME TIME" tauchen popmusikalische Elemente weder als ironische Brechung auf, noch als missglückte Anbiederung an ein der Kunstmusikszene fremdes Genre. Im Gegenteil: Ganz selbstverständlich bringt Jennifer Walshe verschiedene Spielarten dessen zusammen, was Gegenwartsmusik sein kann
"Ich versuche mit der Tatsache zu arbeiten, dass ich in der Welt bin, und zwar im Hier und Jetzt. Ich denke, wenn Improvisation und Komposition wahrhaftig frei sind, dann müssen auch alle Musiken, die uns umgeben, in die Arbeit einfließen dürfen – egal wie unterschiedlich sie sind."
Kein reines Konzertfestival
Das Stück "TIME TIME TIME" wie auch die Medieninstallation "Tele-Visions" zeigen, dass der Begriff "Musik" weitaus mehr umfassen kann als die Interpretation von Partituren mit traditionellen Instrumenten. Wer also erwartet, mit der MaerzMusik ein reines Konzertfestival vorzufinden, der wird sicherlich enttäuscht. Wer allerdings akzeptiert, dass Klang eines von vielen Mosaiksteinchen in einem größeren Gesamtbild sein kann, der macht vielleicht einige neue Entdeckungen.