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MaerzMusik-Festival 2018 in Berlin
Experimentelles und Improvisatorisches im Fokus

Das diesjährige MaerzMusik-Festival bot ein umfangreiches Programm vor allem mit experimentellen und improvisatorischen Formaten - so wie die etwa 30 Stunden dauernde Abschlussveranstaltung "The long Now" im Berliner Kraftwerk. Das traditionelle Konzert war hingegen ein seltener Spezialfall.

Von Julia Spinola | 26.03.2018
    Im Kraftwerk Berlin wird die Performance "The Long Now" gezeigt
    Die Performance "The Long Now" fand über 30 Stunden im Kraftwerk Berlin statt (Berliner Festspiele/Camille Blake)
    "Die Frage ist glaube ich im Kern die, wie man sich als westliches Subjekt in der sich verändernden Welt definiert. Wie sich Verhältnisse verschieben, wie man sich in der Tradition der eigenen Geschichte sieht und neu reflektiert. Und in diesem Zusammenhang entstehen neue Perspektiven. Salims Salon von Hannes Seidl ist ein sehr gutes Beispiel, weil da ein klassischer Komponist plötzlich konfrontiert ist mit einer ganzen neuen Reihe von Fragen, mit der Frage, wie man sich mit der eigenen Kolonialgeschichte befasst."
    Szenisches Konzert nannte sich der von dem deutschen Komponisten Hannes Seidl veranstaltete Abend im Berliner Konzerthaus mit Musikern unterschiedlicher kultureller Herkunft aus Ägypten, Kamerun, London und der Demokratischen Republik Kongo. Der Titel war eine gelinde Übertreibung, denn weder gab es eine Szene, noch mochte man die Bastelei aus computergenerierter Geräuschkulisse, eingespielten Interviewausschnitten und vereinzelten live erzeugten Klängen ernsthaft ein Konzert nennen. Aber es ging in "Salims Salon" auch nicht primär um Musik.
    Das zentrale Anliegen wurde vielmehr in den eingespielten Statements der Musiker formuliert, die im Kontext erfahrener Stigmatisierung und Fremdenfeindlichkeit von ihrer kritischen Haltung gegenüber der als normativ empfundenen westlichen Kunst erzählten.
    Seit vier Jahren künstlerischer Leiter: Berno Odo Polzer
    Dem Festival MaerzMusik jedenfalls kann man einen borniert-eurozentrischen Blick, wie ihn die recht simple Aufklärungskritik dieser Statements pauschal der westlichen Kunstmusik unterstellte, immerhin nicht vorwerfen. Seit der künstlerische Leiter Berno Odo Polzer das Festival vor vier Jahren übernahm, hat er es kontinuierlich weit über diesen Rahmen hinaus geöffnet.
    "Die Zeiten, wo diese Hegemonie oder diese klare Vormachtstellung westlicher Nationen unhinterfragt war, sind vorbei, auch zum Guten und jetzt ist ein sehr interessanter, wichtiger, aber auch komplizierter Prozess im Gange, wie sich dieser Raum neu organisiert und das bildet sich auch in der Kunst ab."
    Das traditionelle Konzert stellte innerhalb des umfangreichen Programms der Maerzmusik nur mehr einen seltenen Spezialfall dar. Stattdessen dominierten experimentelle und improvisatorische Formate mit Klanginstallationen, digitalen Klangperformances, Videokunst, Live-Elektronik, DJ-Auftritten und vor allem auch: viel Theorie. Fortgesetzt wurde die bereits im vergangenen Jahr begonnene Beschäftigung mit dem afro-amerikanischen Minimal Musiker Julius Eastman. Die in Japan lebende Transgender-Künstlerin Terre Thaemlitz stellte ihre stolz als längstes Album der Welt bezeichnete Videoinstallation "Soulnessless" vor, deren Zentrum eine 30-stündige Klavierkomposition darstellt. Sieben Pianisten wechselten sich dafür in Schichtarbeit ab. "Thinking together" nannte sich das festivaleigene Diskursformat, das dem übergreifenden Motto "Time wars" gewidmet war. Die These dahinter: Mehr denn je sei der Mensch von heute nicht mehr Herr seines eigenen Zeitempfindens, sondern kollidierenden Zeitkonzepten ausgeliefert – vom systemischen Zeit-Krieg des Turbo-Kapitalismus war hier die Rede, oder von digitalen Zeitregimen. Ähnlich war bereits im vergangenen Jahr über eine Dekolonisierung der Zeit diskutiert worden.
    "Eine schöne Beobachtung der letzten Jahre ist es, dass das Publikum immer vielfältiger wird, dass wir sehr viel Publikum haben", und es ist auch eine Chance, glaube ich, diese sogenannte zeitgenössische Musik einer Hörerschaft und Hörerinnenschaft vorzustellen, die in ganz spezialisierten Orten oder Festivals niemals auftauchen würden".
    So nachvollziehbar Berno Odo Polzers Freude über den Publikumszustrom ist, muss man doch nach dem Preis fragen, um den dies gelingt. Um möglichst viele Menschen zu erreichen, wird der ästhetische Anspruch streckenweise heruntergedimmt auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner der Erfahrbarkeit – Musik erscheint als eine private Äußerungsform, als Wohlfühlkulisse und als klingendes Identifikationsangebot – exemplarisch etwa in der 30 Stunden dauernden Abschlussveranstaltung "The long Now" im Berliner Kraftwerk. Hier lud das Festival wie schon in den vergangenen Jahren dazu ein, durch abgedunkelte Industriehallen zu schlendern oder auf Feldbetten zu dösen und bei elektronischem Gebrumm und Gesäusel oder nichtssagenden instrumentalen Improvisationen zu entspannen.
    Raucherecke und künstlerische Auseinandersetzung
    Neben der Bar lädt auch eine Raucherecke dazu ein, sich in den passenden Bewusstseinszustand zu versetzen. In der geschützten Lageratmosphäre des Kraftwerks darf sich der identifikationswillige Festivalbesucher seinem sozialen Mitleid hingeben und sich selbst einmal ein wenig als Flüchtling fühlen.
    Eine gelungene künstlerische Auseinandereinsetzung mit dem Elend der Flüchtenden stellt dagegen das neue Werk des griechisch-französischen Komponisten Georges Aperghis dar. "Migrants" hat Aperghis seine dreiteilige, atmosphärisch dichte Komposition für zwei Frauenstimmen, Klavier, drei Schlagzeuger und Streicher genannt, deren Uraufführung im Kammermusiksaal der Philharmonie einen musikalischen Höhepunkt darstellte, weil hier politische Zielrichtung und ästhetischer Anspruch einander endlich einmal entsprachen.
    "Ich denke, es ist sehr schwierig zu machen, weil die Sache ja weiter geht: Es ertrinken weiterhin jeden Tag Menschen. Zugleich muss man es aber tun. Man darf natürlich keine hübsche Angelegenheit daraus machen, das wäre nicht anständig. Aber man muss von der Grausamkeit erzählen, die darin steckt."
    Aperghis verwendet in seiner Komposition Textpassagen aus dem Roman "Herz der Finsternis" von Joseph Conrad und Texte von Geflüchteten. Die gesungenen Passagen bedienen sich außerdem einer Fantasie-Fremdsprache.
    "Ich habe diesen Text ausgewählt, weil er zunächst in einer großen Distanz zu den aktuellen Ereignissen steht. Dann aber ist es ein unglaublich starker Text, den er geschrieben hat. Die Geschichte spielt zwar im Kongo, aber es ist genau die gleiche Sache. Es ist nicht die Geschichte, die mich interessiert, es geht überhaupt nicht darum, die Geschichte zu erzählen. Was mich interessiert ist, dass es um Menschen geht, die wie Tiere behandelt werden. Und das passiert überall."
    Es war Aperghis' Idee, das Werk bei der Uraufführung mit Leos Janaceks "Tagebuch eines Verschollenen" zu kombinieren – einem Stück, das in völlig anderem Kontext ebenfalls von einem Aufbruch in die Fremde erzählt. In der fabelhaft präzisen und engagierten Aufführung des Ensembles Resonanz unter Emilio Pomarico ging das neue Stück von Aperghis attacca aus dem Ende der Janacek-Komposition hervor. Die für diesen Zweck vorgenommene Bearbeitung für die identische instrumentale Besetzung stammt von Johannes Schöllhorn und betont die harschen Brüche dieser Musik ebenso wie die impressionistisch schwebenden Klangzustände. Die glänzenden sängerischen Interpretinnen waren in beiden Werken Agata Zubel und Christina Daletska.