Beide Seiten geben sich betont heiter und gelassen. Der Dirigent Simon Rattle, dass er nun einen neuen Lebensabschnitt mit dem London Symphony Orchestra beginnen kann und die Berliner Philharmoniker, dass sie ein neues Kapitel der Orchestergeschichte mit Kirill Petrenko aufschlagen werden.
Doch schon bei der letzten Vertragsverlängerung hatten die Musiker ihren Chefdirigenten schwer gedemütigt, indem sie ihn über Gebühr hinhielten als wollten sie mal ausprobieren, wann der Dirigent entnervt aufgibt. Da war schon längst nicht mehr alles so schön wie einst im Mai, als der englische Hoffnungsträger nach Berlin kam, um das Orchester zu modernisieren und fit für das 21. Jahrhundert zu machen. Vor 16 Jahren waren die Berliner Philharmoniker noch das Nach-Karajan-nach-Abbado-Orchester, das eine zwar hochvirtuose, aber doch eher gemütliche Herangehensweise an das Kernrepertoire pflegte.
Tatsächlich mischte Rattle die übliche Konzertroutine von Ouvertüre-Solokonzert-Pause-Sinfonie auf und setzte deutlich mehr zeitgenössische Werke aufs Programm. Bald jedoch zeigte sich ein Problem, das sich durch seine ganze Amtszeit ziehen würde: Er unterschätzte die identitätsstiftende Bedeutung der klassischen Musik in der deutschen Kulturlandschaft. Während Musik in England als luxuriöses Hobby einer maßlos reichen Leisure Class gilt, vor allem der Unterhaltung dient und nicht recht ernst genommen wird, hängt der deutsche Kulturbürger an Bach, Beethoven, Brahms und misst die Kulturverwalter an dem, was schon immer so war und bitteschön auch so bleiben soll.
Rattle veränderte den gewohnenten Klang der Berliner Philharmoniker
Ziemlich schnell wurde Rattle gewogen und für zu leicht befunden. Zu harmlos seine Uraufführungen, zu demonstrativ heiter seine Art zu dirigieren. Als er dann auch noch den gewohnten Klang des Orchesters veränderte, murrten Kritiker, Publikum und auch Teile des Orchesters. Tatsächlich klangen die Streicher unter ihm oft strohig, die Bläser rau, alle zusammen eher ruppig. Das sollte also der Aufbruch ins 21. Jahrhundert sein? Die herbeigezwungene Zukunft der Musik?
Statt der unendlichen Differenzierung unter Karajan und Abbado wurden nun immer öfter Lautstärkerekorde aufgestellt, ohne dass sich ein interpretatorischer Mehrwert ergab. Je länger Rattles Amtszeit dauerte, umso öfter konnte man von Orchestermitgliedern hören, "das konnte Claudio besser" oder von den Älteren "jenes klang unter Karajan schöner". Bei diesen Klagen darf man allerdings nicht vergessen, dass Rattles schärfster Konkurrent bei der Wahl im Jahr 1999 Daniel Barenboim hieß.
Wozu das geführt hätte, lässt sich an der Berliner Staatsoper sehen: selbstverliebtheit und als Verehrung getarnte blanke Angst unter den Musikern, verbunden mit künstlerischem Stillstand. Da sind die Aufbruchsversuche ins Offene unter Rattle doch viel sympathischer, und mögen sie auch noch so oft nicht überzeugt haben. Immerhin wurde in der Philharmonie etwas versucht und vor allem im nichtkünstlerischen Bereich auch sehr viel erreicht.
Orchester und Publikum wurden unter Rattle endlich mal locker
Da sind in erster Linie die nun "Education" genannten Bildungsprogramme. Die gab es zwar bei vielen anderen Orchestern auch schon vorher, aber der immense Schub in der öffentlichen Wahrnehmung ist ohne das perfekte Marketing des Tanzprojekts "Rhythm is it" nicht denkbar. Da ist die Digital Concert Hall, also der eigene digitale Vertriebsweg für Konzertübertragungen. Die ist zwar dem Vernehmen nach noch immer hochdefizitär, aber ein hochwillkommenes Hilfsmittel für all jene, die nicht um die Ecke wohnen und mal eben eine Eintrittskarte kaufen können.
Nicht gering zu achten ist auch Rattles Verdienst, dass sich Orchester und Publikum endlich mal locker gemacht haben. Oder zumindest deutlich lockerer als sie vorher waren. Philharmoniker als nahbare Musiker, die ihr Wissen gerne weitergeben, das war tatsächlich neu. Bis dahin waren sie vor allem schnell beleidigt, wenn man nicht jedes Konzert verehrungswürdig fand. Dass Brahms und Schumann unter Rattle nur selten gelangen, geschenkt. Dass er immer wieder aufgesetzte Emotionalität mit echter Wirkung verwechselte, egal. Wichtiger ist der Erkenntnisprozess im Orchester, von dem die Wahl von Rattles Nachfolger zeugt. Kirill Petrenko ist das genaue Gegenteil des Marketinggenies Rattle. Mit ihm wird es wieder um den Gehalt der Musik gehen. Um Form und Klang, um Geschichte, Tradition und Wirkung für die Gegenwart. Die Zukunft kommt dann ganz von alleine.