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Berliner Straßenkinder
Sesshaft werden per App

Die App "Mokli" soll obdachlosen Straßenkindern helfen, in die Gesellschaft zurückzukehren. Betroffene Jugendliche haben die Anwendung mitentwickelt. Mittels einer interaktiven Landkarte liefert Mokli Anlaufadressen, um kostenloses Essen, einen Schlafplatz oder ärztliche Betreuung zu erhalten.

Von Anja Nehls | 03.05.2017
    Zwei Jugendliche in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs an einem kalten Tag auf der Straße
    In Berlin leben neben anderen Kindern und Jugendlichen auch immer mehr jugendliche Flüchtlinge auf der Straße, berichtet Karuna, ein Verein, der sich um Straßen- und Flüchtlingskinder kümmert. Das Foto zeigt Straßenkinder in Hamburg. (picture-alliance/ dpa)
    Sie treffen sich am Berliner Alexanderplatz unweit des Fernsehturms in Mitte, an der Warschauer Brücke in Friedrichshain oder am U-Bahnhof Hansaplatz, unweit des Großen Tiergartens: die Straßenkinder in Berlin. Sie sitzen auf Parkbänken oder auf der Straße, viele trinken Alkohol, rauchen, wenn etwas zum Rauchen da ist, nicht wenige nehmen Drogen. Ihre Zahl steigt. Denn inzwischen leben auch immer mehr jugendliche Flüchtlinge in Berlin auf der Straße, sagt Jörg Richert von Karuna, einem Verein, der sich um Straßen- und Flüchtlingskinder kümmert.
    "Uns war schon vorher klar, ein bestimmter Prozentsatz wird es hier natürlich schwer haben, sich an die Kultur und die Gepflogenheiten so zu gewöhnen, dass sie sich zuhause fühlen. Wenn so ein Jugendlicher dann, weil es einen Konflikt gibt in der Einrichtung, wegläuft und dann auch aus Scham oder anderen Gründen nicht mehr zurückkehrt. In Berlin gibt es am Hansaplatz 15 Jugendliche aus Afghanistan und auch Syrien, die schwer drogenabhängig sind inzwischen, alle um die 15, 16 Jahre alt, und die es schwer getroffen hat. Und die heißt es wieder in das Hilfesystem zurückzubekommen.
    1.500 Straßenkinder gibt es schätzungsweise in Berlin
    Das geht nicht von heute auf morgen. Bis dahin versuchen die Jugendlichen jeden Tag irgendwie ihr Leben und Überleben zu organisieren. In Zukunft soll dabei "Mokli" helfen. Mokli - die Hilfefinder App, entwickelt von Straßenkindern für Straßenkinder, mit Hilfe von Karuna und mit Unterstützung von Google.
    Ronja ist 20 und hat selbst immer wieder für mehrere Monate auf der Straße gelebt. Sie weiß, welche Informationen wichtig sind:
    "Das sind ganz elementare Sachen, zum Beispiel Menschen, die dann keinen Wohnraum haben, die natürlich einen Ort brauchen, wo sie kostenlos mal Wäsche waschen können, sich duschen können oder vielleicht auch medizinische Beratung mal kriegen können. Das sind Übernachtungsnotschlafstellen, psychologische Betreuungsfelder oder auch soziale Einrichtungen, die einem helfen, wieder in die Gesellschaft eingegliedert zu werden.
    Denn das ist letztendlich das Ziel. 1.500 Straßenkinder gibt es schätzungsweise in Berlin, über 20.000 bundesweit. Viele sind irgendwann einfach von zuhause abgehauen, sagt Jörg Richert von Karuna:
    "Weil sie zuhause Konflikte haben, die sie selber nicht klären können. Dort ist Gewalt und auch Missbrauch sehr häufig ein Thema, Beschämung alle Male, und ein Klima von: 'Ich liebe Dich nur , wenn Du so bist, wie ich Dich will, dass Du bist, solange Du die Füße unter meinem Tisch hast'."
    "Es ist Nacht, und du weißt nicht, wo du hingehen kannst"
    Manche leben noch zeitweise in Einrichtungen, im betreuten Wohnen, bei eigenen oder Pflegefamilien, manche schlafen draußen, mitunter auch, weil sie in fremden Städten die Hilfsangebote nicht kennen, sagt diese Jugendliche aus Köln:
    "Und das Schlimmste ist einfach bei dem, wenn du auf der Straße lebst, du hast den ganzen Tag nichts und musst den ganzen Tag auf irgendwen warten, der dir eventuell weiterhelfen kann. Und jetzt ist es schon Nacht, und du weißt nicht, wo du hingehen kannst."
    Die App liefert jetzt mittels einer interaktiven Landkarte die nächstgelegenen Anlaufadressen zu den Themen: kostenlos Essen, Schlafen, Hygiene, ärztliche Betreuung oder Information. Ob der Hund mitgenommen werden darf, ist auch vermerkt. Fast jeder Jugendliche auf der Straße hat ein Smartphone. Das Vertrauen zum Telefon ist oft höher als das zu Menschen , sagt Lukas, der selber auf der Straße gelebt hat und sich jetzt bei Karuna engagiert:
    "Der erste Weg, sich Hilfe zu suchen, ist oft der schwierigste. Und wir wollen den jungen Menschen erstmal anonym die Möglichkeit geben, sich Hilfe suchen zu können, ohne direkt schon jemand persönlich ansprechen zu müssen."
    Integrierte WhatsApp-Nothilfe für Krisensituationen
    Deshalb gibt es bei Mokli auch eine WhatsApp Nothilfe für Krisensituationen, zum Beispiel nachts bei Depressionen oder Selbstmordgedanken. Ein Mitarbeiter von Karuna ist immer per WhatsApp persönlich erreichbar, das ist Jörg Richert wichtig:
    "Aber irgendwo anzurufen bei der Telefon-Hotline gegen Kummer ist oft schon zu hochschwellig, weil sie auf der anderen Seite jemanden erwarten. Dem müssen sie erklären. Und da hat man sozusagen auch Scham oder Sorge, dass man sich nicht richtig ausdrücken kann. Es ist viel einfacher dann zu schreiben. Und auf der anderen Seite antwortet jemand und sagt, wollen wir darüber telefonieren oder ich kann dir einen Tipp geben."
    Weil viele Jugendliche auf der Straße nicht deutsch sprechen, gibt es Mokli auch auf Englisch, Arabisch oder Polnisch. In der App oder auf der mobilen Website sind die Adress- und Kontaktdaten von über 3.000 Hilfseinrichtungen in ganz Deutschland zu finden.