Sonntag, 28. April 2024

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Bernd Stegemann: "Lob des Realismus"
"Ein kontaminierter Begriff"

Ein Gespenst geht um in Deutschland, das Gespenst des Realismus. Bei den einen ist er verpönt, andere betrachten ihn als das ohnehin vorherrschende Darstellungsmittel aller erzählenden Literatur per se. Wieder andere beklagen gerade den Mangel an authentischem Realismus in der deutschen Literatur. Auf jeden Fall wird wieder darüber geredet.

Von Enno Stahl | 13.10.2015
    Bücherregal in einem Antiquariat in Rom, Italien.
    "Positiv gewertet wäre Realismus eine Kunst, in der die Realität erkennbar wird", sagt Autor Bernd Stegemann (imago)
    Häufig kommt er nicht gerade gut weg, der Realismus, der Versuch, Wirklichkeit objektiv literarisch zu erfassen. Man sieht darin eine Darstellungsform aus der Vergangenheit. Oder noch schlimmer: ein triviales Literatursurrogat, angelehnt am populären Hollywood-Film. Theodor Fontane, die Realismus-Debatte zwischen Brecht und Lukacs – damals schön und gut, aber ohne Belang für die heutige Zeit. Die Postmoderne hat jedes Wirklichkeits-Postulat transzendiert, die "öden Realitäts-Zeichen" sind aus Literatur und Kunst verschwunden, es sei denn als fantasievolle Unterbrechungseffekte – der Schauspieler, der im Theaterstück aus seiner Rolle tritt. Oder die "Experten des Alltags", ganz normale Leute, die auf der Bühne (vorgeblich) als das, was sie "wirklich" sind, in Erscheinung treten. Gleichzeitig wird landauf, landab wieder viel von Realismus gesprochen, zustimmend oder abwertend. Was ist dran an diesem Begriff? Was ist davon zu halten? Der Autor und Theaterdramaturg Bernd Stegemann gibt eine Antwort:
    "Realismus ist ein kontaminierter Begriff, weil er einerseits Adorno, Kulturindustrie, sozusagen mit der Kommerzkunst, also TV-Realismus, Commercial Realism, wie es ja gemeinhin genannt wird, assoziiert ist, auf der anderen Seite etwas verschmockt Altmodisches hat, 19.-Jahrhundert-Romane, 19. Jahrhundert-Theater, 19.-Jahrhundert realistische gemalte Genreszenen, das alles sind Dinge, von denen sich die Avantgarden des 20. Jahrhunderts ganz aggressiv abgewendet haben, um der Kunst einen Autonomiestatus zu verleihen und Kunst nicht in diesem Abbildungs- und Referenzverhältnis zur Realität gefangen zu halten. Das ist sicherlich auch richtig für das 20. Jahrhundert. Aber wir leben ja inzwischen im 21. Jahrhundert und da muss man meines Erachtens mal feststellen, dass diese Befreiungsbewegungen der Avantgarde, die im 20. Jahrhundert auch wichtig waren, weil sie sehr viel in Bewegung gesetzt haben, sehr viele Neuigkeiten produziert haben mit der Kunst, sich mittlerweile in eine Art Sackgasse manövriert haben, über die man sicherlich ausführlicher sprechen müsste."
    In seinem aktuellen Buch "Lob des Realismus", einem theoretisch anspruchsvollen Essay, versucht Stegemann einerseits diese Untiefen des postmodernen Kunstverständnisses ideologiekritisch aufzuarbeiten, andererseits den Realismus-Begriff wieder für die aktuelle gesellschaftliche und künstlerische Lage produktiv neu zu definieren. Was also wäre für Stegemann ein positiv verstandener Realismus heute?
    "Positiv gewertet wäre Realismus eine Kunst, in der die Realität erkennbar wird. Also Kunst hat ja eine Möglichkeit, Dinge erkennbar zu machen, die von sich heraus sich sozusagen gerne verstellen, von sich heraus gerne unkenntlich machen wollen. Kunst kann natürlich, und das deckt sich dann auch mit dem Avantgardebegriff von Kunst, kann natürlich Dinge zum Vorschein bringen, in die Wahrnehmung bringen, die nicht vordergründig auf der Hand liegen. Also realistische Kunst ist für mich dann, wenn sie es schafft, einen verborgenen Zusammenhang, einen verschleierten Zusammenhang erkennbar, wahrnehmbar, sinnlich erfahrbar oder auch intellektuell erfahrbar zu machen."
    Nach Stegemanns Überzeugung sind avantgardistische Ausdrucksformen – wie sie etwa die Postmoderne spielerisch aufgreift – heute ebenso veraltet, wie es aus Sicht der historischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts die realistische Methode ihrer unmittelbaren Vorläufer war. Wann und wie ist es nun aber zu diesem Umschlag gekommen, dass die vormals revolutionäre Avantgarde zu dieser postmodernen Avantgarde mutierte und ihre gesamte Sprengkraft dabei einbüßte?
    "Na, das ist ein langer, schleichender Prozess, in den siebziger, also in den 1970er Jahren gibt es das berühmte Buch von Jean-Francois Lyotard, "Das postmoderne Wissen", ich glaub, 1977, in der er zu ersten Mal, oder vielleicht nicht das erste Mal überhaupt, aber zum ersten Mal diesen Begriff publik, einer größeren Öffentlichkeit zugänglich macht, die Postmoderne, das postmoderne Wissen, also die Postmoderne ist eine Zitatkultur, die sagt, es gibt nicht mehr die großen Erzählungen, die die Einzelereignisse des Lebens in einen sinnhaften Zusammenhang bringen, sondern die Einzelereignisse sind zersplittert, sie sind nicht mehr sozusagen zu begreifen in Form eines dialektischen Weltbilds, sondern in Form eines Patchwork-Weltbildes. Das hat unglaubliche Auswirkungen auf die Cultural Studies, auf die ästhetischen Theorien, auf die Kunstproduktion, aber es hat, und das ist, finde ich, das Entscheidende, das sehr lange unterbelichtet geblieben in dieser Diskussion, es hat immense Auswirkungen auf das ökonomische Denken. Also alles das, was wir mit der Ablösung des Goldstandards, mit dem Derivatehandel und dem Ganzen, was unter Neo-Liberalismus zu begreifen ist, was heute zusehends in die Aufmerksamkeit rückt, beruht natürlich vom weltanschaulichen Gehalt auf einem postmodernen Wissensregime, also auf einem Wissensregime, was sagt, das Einzelne ist nicht mehr im Zusammenhang begreifbar und darum muss das Einzelne über einen anderen Mechanismus geregelt werden, und das ist im Neo-Liberalismus eindeutig der Markt. Also sprich der Preis, den etwas bekommt, ist sozusagen die Wahrheit über das Ereignis, das dort verhandelt wird. Und es gibt kein anderes Wahrheitsregime als das des Marktes und der Preisbildung und das ist ein klassisch postmodernes Denken und Fühlen."
    Stegemanns Sicht auf die Avantgarde, auch auf deren historische Vertreter, ist überaus kritisch. So konstatiert er etwa, Joyces Stream of Consciousness habe heute jegliche provokative und analytische Kraft verloren. Birgt dieses harsche Avantgarde-Bashing, das im Übrigen analog, nur aus anderen Gründen, auch von den Meinungsführern des postmodernen Literaturdiskurses betrieben wird, nicht eine große Gefahr? Dass nämlich aus Stegemanns Argumentation das Plädoyer für einen überkommenen sozialistischen Realismus herausgelesen wird?
    "Na ja, das geht natürlich gar nicht, weil wir weder im Sozialismus leben noch möchten wir dann die historisch verbürgten Kunstwerke des sozialistischen Realismus heute wieder produzieren müssen. Also das ist in keinster Weise meine Absicht. Das Problem mit dieser formalen Diskussion ist, dass man sich dann sehr schnell über die reine Form unterhält, was ich versuche zu sagen ist, dass die Form nur im Verhältnis zu einem konkreten Inhalt überhaupt diskutierbar ist, natürlich ist der Stream of Consciousness eine Möglichkeit, wenn den darin ein Inhalt produziert wird, der in irgendeiner Weise die sozusagen gesellschaftliche Verfasstheit der Gegenwart konkret erfahrbar macht. Wenn es aber nur eine Spielerei ist, oder wenn sie nur dazu dient eine sozusagen Nicht-Distanz zu geben, sprich: ein affirmatives Verhältnis zur Gegenwart zu reproduzieren, dann ist die Form auch reaktionär. Und das ist etwas, was die Postmoderne geschafft hat: Sie hat eine Trennung eingeführt zwischen der formalen ästhetischen Diskussion einerseits und diesem berühmten "Inhaltismus", der dann immer etwas sozusagen Minderwertiges bekommt, und damit quasi grundsätzlich den Realismus, der ja immer bedeutet, es gibt einen bestimmten Inhalt mit einer bestimmten Form und nur aufgrund der konkreten Form wird der Inhalt überhaupt konkret erfahrbar. Und diese Dialektik hat die postmoderne Debatte versucht aufzulösen und das ist ihr weitgehend, zumindest im Theaterbereich, gelungen. Und es wird ständig nur über formale Punkte geredet und überhaupt nicht mehr darüber, was wird denn innerhalb dieser Form überhaupt transportiert. Wenn man überhaupt diese Frage stellt, ist man schon jemand, der nicht auf der Höhe des postmodernen Diskurses argumentiert."
    Stegemann, als Dramaturg, richtet seine praktischen Ableitungen aus dem theoretischen Überbau natürlich vornehmlich auf die Bühne, dabei scheint er ein neues episches Theater anzuvisieren. Doch wie ließe sich so etwas umsetzen?
    "Ja, das müsste wenigstens einen Schritt vor dem Theater beginnen. Nämlich es müsste damit beginnen, dass eine Gruppe von Theaterkünstlern sich erst mal zusammensetzt und versucht, eine gemeinsame politische Haltung zu ihrer Gegenwart zu formulieren. Und das ist, wie wir alle wissen, relativ schwer in der Postmoderne, eine politische Haltung zu formulieren, die jenseits einer moralischen Empörung, eines "Oh-Gott-man-muss-helfen", man muss dies, man muss das, also jenseits moralischen Invektiven ein breiter gefasstes, aber darin zusammenhängendes Narrativ entwickelt, wie der Zusammenhang von ökonomischen Gesetzen, von politischer Entscheidungsfindung und von moralischen und ästhetischen Ausdrucksformen, wie das sozusagen in Zusammenhang zu bringen ist. Also dieser Schritt zurück muss überhaupt erst mal gemacht werden."
    Das klingt noch etwas vage und abstrakt – aber angesichts der wachsenden Beliebigkeit ästhetischer Ausdrucksformen kann sich der Versuch nur lohnen. Stegemanns Buch ist ein wichtiger Denkanstoß zur richtigen Zeit. Tatsächlich weist Vieles darauf hin, dass Literatur, Kunst, Theater im 21. Jahrhundert noch einmal völlig neu überdacht werden müssen.
    Bernd Stegemann: "Lob des Realismus"
    Roman
    Verlag Theater der Zeit 2015, 210 Seiten, 18 Euro.