Sonntag, 12. Mai 2024

Archiv

Bernd Wagner: "Die Sintflut in Sachsen"
Geschichte einer fast vergessenen Welt

Weil seine Mutter im Sterben liegt, kehrt ein Schriftsteller in seine ostdeutsche Heimat nach Wurzen zurück. Es wird eine Reise in die Vergangenheit, die seine eigene Geschichte mit der des Ortes verbindet - vom Nachkriegsdeutschland der ehemaligen DDR bis zur "Sintflut in Sachsen" im Jahr 2002.

Von Tilman Winterling | 27.09.2018
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Das Elternhaus, in das Wagner zurückkehrt, liegt in Wurzen - er beschreibt die Vergangenheit des Ortes ohne jede "Ostalgie" (Buchcover: Schöffling Verlag, Hintergrund: Joachim Dresner)
    "Da braucht man nicht drum herumzureden. Der Max bin ich", sagte Autor Bernd Wagner, der mit zweitem Vornamen Max wie sein Ich-Erzähler heißt, vor kurzem gegenüber der Sächsischen Zeitung. Anlass des Gesprächs war das Erscheinen seines Romans "Die Sintflut in Sachsen". Den Beginn der Arbeiten daran datiert Wagner bereits auf 2005. Über zehn Jahre hat er an dem diesem Buch also gearbeitet.
    Erzählanlass ist die Krankheit der noch in Wurzen lebenden Mutter. Aus Berlin reist der Ich-Erzähler zum Elternhaus. Die Mutter dämmert nach einem Schlaganfall mit luziden Momenten im Krankenhaus, während der Sohn, durch Wurzen und damit auch durch seine Vergangenheit streift.
    "Die Küche sieht aus wie immer. Die Schiebetür zur Kochecke steht offen, im Sessel neben dem Radio liegt das Körbchen mit Nähzeug, auf dem Tisch die Leipziger Volkszeitung, aufgeschlagen die Lokalseite. Alles da, nur meine Mutter nicht. Auf dem abgewetzten Teppich entdecke ich einige Kaffeebohnen, die sie noch immer ungemahlen kauft und die, laut Christa, aus der Mühle geflogen sind, als meine Mutter der Schlag traf."
    Mutterkuchen und Blutsuppe
    Das Elternhaus, in das Wagner zurückkehrt, ist die alte Dorfschmiede. Sie übernahm der Großvater, einst als Waise nach Wurzen gekommen, von seinen Pflegeeltern. Der Vater bearbeitete hier das glühende Eisen und beschlug die Pferde. Währenddessen hämmerte der greise Großvater ausgediente Nägel gerade, für die auch in waagerechter Position niemand mehr Verwendung hatte.
    Von der Schmiede als Mittelpunkt lernte der junge Max das Dorf und das Leben kennen, von hier, in der alten Dachkammer an seiner Schreibmaschine, beginnt Bernd Wagner heute zu erinnern und seine Geschichte niederzuschreiben, die er später der Mutter im Krankenhaus vorliest.
    "Daß ich also auf eine Welt kam, die mit meiner Geburt zu ihrem Untergang verurteilt war, eine rund tausend Jahre alte Welt, in der die Menschen noch mit Tieren zusammenlebten, in der sie Großfamilien bildeten und sich im Schweiße ihres Angesichts ernähren mußten, indem sie beispielsweise mit Hämmern auf glühend Eisen einschlugen, eine Welt, in die ich anscheinend aus keinem anderen Grunde berufen wurde, als um von ihr ein letztes Zeugnis abzugeben. Dazu musste ich Kraft schöpfen, dazu musste ich mich lange genug vom Mutterkuchen und der Blutsuppe des "Früher" nähren, die Hertha Wagner, geborene Geidel, für mich bereitet hatte; dazu musste ich nicht zuletzt lange und tief genug geträumt haben, um als Zuspätgekommener diese Welt ausreichend verwundert betrachten zu können."
    Die Erinnerung beginnt mit der Rückkehr von Max' Vater aus dem Krieg. Das Leben findet innerhalb klarer Hierarchien zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern statt. Beharrlichkeit und eine gute Portion Grobheit, so erscheint es, erleichtern das Leben in Wurzen. Denn der Umgang ist rau, selbst in der Familie, Umarmungen, Zärtlichkeiten gibt es nicht. Umso erstaunlicher daher das liebevolle Portrait, das Wagner von seiner Mutter zeichnet. In dieser Atmosphäre nicht überraschend, sondern ebenso konsequent wie der Beruf des Vaters, erfolgt die Entjungferung des Autors. Mit der Dame der Wahl - für die Entjungferung, nicht fürs Leben - im Vorfeld verabredet, wird diese im Stehen schnell vollzogen.
    Die Gefahren dieses Buchs
    Wagner beschwört seine Welt ohne die inzwischen sprichwörtlich gewordene "Ostalgie". Nostalgie wiederum kennen nur die Alten beim Skat, beim Treffen in der Schmiede, in der Kneipe. Glorreich erscheint in "Die Sintflut in Sachsen" auf den ersten Blick nichts. Wären da nicht die Zwischentöne Wagners, die versteckten Liebeserklärungen, ohne Verklärung, an Land und Leute, selbst an den derben sächsischen Dialekt.
    Der Großvater und die Mutter sind die heimlichen Helden des Romans. Sogar der Vater, auch wenn er nach dem Kneipenbesuch noch ungeduldiger und gröber als ohnehin erscheint, wird nicht ohne Zuneigung beschrieben. Der Bernd Max der Jetztzeit, der feinsinnige Beobachter, mit zwei linken Händen untauglich die Schmiede zu übernehmen, grollt nicht der Vergangenheit. Er versöhnt sich mit ihr, wenn er den alten – in Wurzen gebliebenen – Schulfreund zurückgewinnt oder die beiden sich zumindest wieder annähern.
    "Dabei war mir genau das in Gegenwart von Erwachsenen immer das Liebste: nichts tun und ihre Absonderlichkeiten bestaunen."
    Konzeption und Aufbau von "Die Sintflut in Sachsen" bergen allerdings Gefahren, die auch Bernd Wagner nicht vollständig literarisch in den Griff zu bekommen weiß. Das anekdotische Erzählen, die Aneinanderreihung der "Geschichten von Früher" wirken zunehmend ermüdend, wie das Treffen alter Schulfreunde, die in Erinnerungen schwelgen, denen man selbst nicht beigewohnt hat. Wagner liefert stellenweise auch zu wenig Rahmenhandlung, um den Reigen kraftvoller Bilder zusammenhalten und runden zu können. "Die Sintflut in Sachsen" droht daher in eine Dorf- und Familienchronik zu kippen.
    Wenn Wagner im zitierten Interview sagt: "Schon als Kind hab ich mich fremd gefühlt in dieser Welt, wie hineingestellt", erfasst er damit, was ihn zu einem so genauen Beobachter machte: Er war ein Unbeteiligter. Er kehrt nicht als verlorener Sohn heim, er bleibt Gast, an einem Ort, an dem er früher einmal lebte. Von dieser Beobachtungsgabe und seiner Fabulierkunst lebt der Roman.
    "Diesmal aber schließt sie schon an der Stelle die Augen, wo sie mich auf dem Erlkönigsweg an die Hand nimmt, und verzieht ihren Mund zu einem schiefseligen Lächeln. Nur einmal murmelt sie "Lies weiter", als ich eine Pause mache, um zu prüfen, ob sie schläft. Am Ende öffnet sie wieder die Augen und lässt mich wissen: "Was noch zu Onkel Martin zu sagen wäre - weißt du, dass er von Beruf Damenfriseur war? Die Seife, nach der es in Friedas Schlafzimmer roch, war so ein rundes Stück, das er in seinem letzten Päckchen aus Italien geschickt hatte. Is das wichtig?"
    Die Parallelen zu dem 2016 mit dem Buchpreis der Leipziger Messe ausgezeichneten "Frohburg" von Guntram Vesper sind offensichtlich. "Frohburg" wie "Die Sintflut in Sachsen" sind zwei große, autobiographische, sächsische Nachkriegspanoramen, zweier bereits vor der Wende in den Westen gegangener Autoren. Wagner wird mit seiner "Sintflut in Sachsen", wie Vesper vor ihm, in eine Reihe gestellt mit Kempowski, Kurzeck, vielleicht auch Fontane. Nicht ganz zu Unrecht, denn "Die Sintflut in Sachsen" ist die farbenprächtig erzählte Geschichte einer zuweilen sehr grauen, einer untergegangenen und einer wahrscheinlich inzwischen fast vergessenen Welt.
    Bernd Wagner: "Die Sintflut in Sachsen"
    Schöffling & Co., Frankfurt am Main, 432 Seiten, 24 Euro