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Beste Lösung für Kinder kann auch Herausnahme aus der Familie sein

Der Evangelische Erziehungsverband hat die Tatsache kritisiert, dass in Deutschland Kinder häufig aus finanziellen Gründen in Familien blieben, obwohl diese mit ihrer Versorgung überfordert seien. Die ambulante Betreuung sei immer billiger als ein Platz im Heim oder einer Wohngruppe, sagte der Geschäftführer der Organisation, Björn Hagen. Die Behauptung, jede Familie sei besser als ein Heim, sei falsch.

Moderation: Friedbert Meurer |
    Meurer: Eine Mutter lässt ihr eigenes Kind verhungern oder verdursten. Ein Vater schlägt seinen Sohn so lange, bis der tot ist. Fälle wie diese haben uns in den letzten Monaten entsetzt und empört. Die Eltern sind offenbar mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert und nicht immer ist Hilfe vom Amt zur Stelle. Nachbarn, Bekannte oder Kindererzieherinnen im Kindergarten, sie haben nichts mitbekommen oder die Gefahr auch als nicht so dramatisch eingeschätzt. Problemfamilien aufzuspüren und ihnen besser zu helfen, das ist ein Ziel, das alle verfolgen. Nur wie? – Bundeskanzlerin Angela Merkel will das Problem heute mit den Ministerpräsidenten anpacken: beim Kindergipfel in Berlin.

    Am Telefon in Hannover begrüße ich nun Björn Hagen. Er ist der Geschäftsführer des Evangelischen Erziehungsverbandes. Guten Tag Herr Hagen!

    Hagen: Guten Tag Herr Meurer.

    Meurer: Sie helfen, wenn ich das richtig sehe, Kindern und Jugendlichen, die nicht mehr bei ihren Eltern leben. Gibt es das eigentlich häufiger als früher?

    Hagen: Häufiger als früher gibt es das nicht, sondern man kann sagen, dass die Zahl der stationären Versorgungen ungefähr gleich geblieben sind. Aber wir haben wesentlich mehr ambulante Hilfen in den Familien als noch vor zwei Jahren.

    Meurer: Es heißt doch allgemein, es gäbe zu wenig ambulante Hilfe. Was ist Ihre Meinung?

    Hagen: Ich denke, dass die ambulanten Hilfen dann eingesetzt werden, wenn in der Tat oftmals schon die Notwendigkeit der Unterstützung zu spät ist.

    Meurer: Wann ist es zu spät?

    Hagen: Es ist dann zu spät, Kindern zu helfen, wenn bereits die Auffälligkeiten so massiv sind, sie nicht mehr in die Schule gehen oder auch die Kindergartenbesuche unregelmäßig erfolgen oder die Eltern zu auffällig sind, was beispielsweise Suchtabhängigkeiten angeht - dann ist es zu spät. Die Hilfen müssen vielmehr so früh wie möglich in den Familien erfolgen, nach Möglichkeit schon während der Schwangerschaft oder nach der Geburt.

    Meurer: Was kann man denn in diesem frühen Stadium noch erreichen, was später dann nicht mehr geht?

    Hagen: Wir müssen ein seismographisches System aufbauen in diesem frühen Stadium. Wir müssen einfach versuchen, gemeinsam mit anderen wie Familienhebammen den Eltern zu vermitteln was heißt es denn, ihnen regelmäßig zu essen zu geben, was heißt es denn, sie angemessen zu kleiden. So banal, aber doch so lebensnotwendig sind die Hilfen, die die Eltern vermittelt bekommen müssen.

    Meurer: Sie haben mir kurz vorher gesagt, Herr Hagen, in Hannover gäbe es 150 Sozialarbeiter, die sich darum kümmern, gibt es Familien, die Hilfe brauchen, wo Kinder möglicherweise verwahrlost werden. Sind 150 zu wenig für eine Stadt mit 500.000 Einwohnern?

    Hagen: Das ist zu wenig. Das ist zum einen zu wenig, was dem Jugendamt zur Verfügung steht. Die Sozialarbeiter sind ja guten Willens und wollen alles Mögliche tun, um den Kindern zu helfen, aber sie stehen auch unter einem immensen Kostendruck auf der einen Seite und auf der anderen Seite in der Not, gerade Kindern wie etwa dem immer erwähnten Fall von Kevin zu helfen. Die Sozialarbeiter müssen allerdings auch nicht alles alleine tun, sondern sie können auf die freien Träger, die ja vor Ort in den Stadtteilen vorhanden sind, zurückgreifen und mit diesen gemeinsam versuchen, das Kindeswohl zu sichern.

    Meurer: Wo gibt es den Kostendruck vor allem?

    Hagen: Kostendruck entsteht in erster Linie bei den Kämmerern, weil immer noch die Ausgaben für die Kinder als Kosten gesehen werden und nicht als Investitionen in die Gesellschaft. Anders als beispielsweise Straßenbau, wo gesagt wird das sind Investitionen in die Infrastruktur, sind die Ausgaben für die Jugendhilfe reine Kosten, aber eben keine Zukunftsinvestitionen.

    Meurer: Was ist denn eigentlich am billigsten, wenn die Kinder bei ihren Eltern bleiben?

    Hagen: Am billigsten ist es, wenn die Kinder bei ihren Eltern bleiben. Das ist sozusagen am billigsten für die Kommunen und das entspricht auch in nahezu fast allen Fällen dem Kindeswohl, dass diese bei ihren Eltern aufwachsen können, wenn eben die Sicherheit und die Vorsorge für das Kind gewährleistet ist.

    Meurer: Glauben Sie, dass es Fälle gibt, in denen nicht aus Kindeswohl entschieden wird, die Kinder sollen bei den Eltern bleiben, sondern aus dem finanziellen Argument heraus?

    Hagen: Die gibt es! Die gibt es zahlreich und oftmals werden dann solche Entscheidungen verbrämt mit dem Grundsatz "ambulant vor stationär", dass etwa wie in Halle bei kommunalen Einsparungen oftmals geäußert wird "jede Familie ist besser als ein Heim". Gerade genau das ist das Problem. Im Übrigen noch mal an dieser Stelle der Hinweis: genauso wie bei alten Menschen ist es auch bei jungen Menschen eben nicht so, dass jede Familie besser ist als ein Heim, sondern oftmals sind Wohngruppen gerade in der Unterstützung von Familien und von Eltern das einzige, was den Kindern und diesen Familien dann helfen kann, weil sie im Augenblick nicht in der Lage und in der Situation sind, ihre Kinder aufwachsen zu lassen.

    Meurer: Um es drastischer zu formulieren, Herr Hagen: Sie würden also gerne häufiger Eltern ihre Kinder wegnehmen?

    Hagen: Ich würde gerne häufiger Kinder in stationären Hilfen versorgt sehen, einfach deshalb, weil diese Familien die Unterstützung brauchen.

    Meurer: Wie kann man denn Eltern ihre Angst davor nehmen?

    Hagen: Ein wesentlicher Schritt ist, den Eltern zu sagen – und das ist in nahezu allen Fällen der Fall -, dass man sieht, dass sie das Beste für ihre Kinder wollen, aber eben nicht in der Lage sind, dieses zu tun, auch nicht in der Lage sind aufgrund ihrer persönlichen Situation, aufgrund ihrer finanziellen Einkommen, ihrer finanziellen Verhältnisse, aufgrund ihrer eventuellen Suchtabhängigkeit, so dass man sagt es geht nicht darum, euch als schlechte Eltern zu brandmarken, sondern es geht darum, dass wir gemeinsam für das Kind versuchen, die beste Lösung und die beste Unterstützung zu finden. Wenn man so auf sie zugeht und nicht sagt, ihr seid schlecht, sondern ihr versucht euer Möglichstes, aber das reicht in diesem Falle eben nicht und wir versuchen euch zu helfen, dann kann von nahezu allen Eltern auch Hilfe angenommen werden. Aber es gibt auch die Fälle, wo das Familiengericht eingeschaltet werden muss, weil die Eltern die Hilfe dann verweigern. Da darf man sich nicht davor scheuen, auch entsprechende familiengerichtliche Maßnahmen zu ergreifen.

    Meurer: Ganz kurz. Lieben diese Eltern ihre Kinder?

    Hagen: Ja! Man kann sagen, dass der überwiegende Teil aller Eltern die Kinder lieben. Manche können diese Liebe eben nicht ausdrücken, weil sie eigene Schwierigkeiten haben und diese die Liebe verdecken.

    Meurer: Björn Hagen, der Geschäftsführer des Evangelischen Erziehungsverbandes in Hannover. Schönen Dank und auf Wiederhören Herr Hagen!

    Hagen: Auf Wiederhören Herr Meurer!