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Bewegungsmangel im Lockdown
Wie sich das Vereinssport-Verbot auf Kinder auswirkt

Vereinssport ist nicht erlaubt, soziale Kontakte sind massiv eingeschränkt - die Maßnahmen in der Corona-Pandemie treffen Kinder ganz besonders. Wissenschaftler warnen: Folgen von Isolation und Bewegungsmangel können Kinder ihr Leben lang beeinflussen.

Von Lea Löffler | 06.03.2021
Kinder beim Fußballtraining
Kinder beim Fußballtraining (imago stock&people)
60 Minuten pro Tag – so lange sollten sich laut der Weltgesundheitsorganisation WHO Kinder und Jugendliche bewegen. Aber: Schon vor der Pandemie haben dieses Mindestmaß an Bewegung immer weniger Kinder und Jugendliche erreicht, auch wenn Sport im Verein nach wie vor eine der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen ist. Dann kam die Corona-Pandemie.
Im ersten Lockdown liegt der Vereinssport brach. Auch der Schulsport findet nur per Video statt, wenn überhaupt. Trotz Einschränkungen hat es im Frühjahr 2020 einen überraschenden Bewegungstrend gegeben, den der Sportsoziologe Alexander Woll nicht erwartet hat. "Interessanterweise haben im ersten Lockdown die Kinder ihr Aktivitätsniveau sogar erhöht. Ihre Alltagsaktivitäten haben zugenommen. Draußen spielen, Fahrrad fahren, laufen."
Die Kinder seien zurückgeworfen worden in eine Kindheit wie vor 30 bis 40 Jahren. "Die Renaissance der Straßenkindheit", meint Woll, der seit mehr als 15 Jahren am Karlsruher Institut für Technologie die Fitness von Kindern untersucht.
Öffnungen für den Breitensport (lt. Bund-Länder-Konferenz)

Bei Inzidenz unter 50:

Ab 8. März: Training draußen kontaktfrei (max, 10 Personen)
Ab frühestens 22. März: Start kontaktfreier Sport drinnen, Start Kontaktsport draußen
Ab frühestens 5. April: Start Kontaktsport drinnen, bis zu 50 Zuschauer draußen

Bei Inzidenz 50 bis 100:

Ab 8. März: Kindertraining bis 14 Jahre in Gruppen (max. 20 Personen); Individualsport mit zwei Haushalten und max. fünf Personen draußen
Ab frühestens 22. März: Start kontaktfreier Sport drinnen und Kontaktsport draußen (negativer Test jeweils erforderlich)
Ab frühestens 5. April: Kontaktfreier Sport drinnen und Kontaktsport draußen jeweils ohne Test

Bewegungsmangel eher in den Städten

Generell wären aber eher Kinder in höheren Bildungsschichten diesem Trend gefolgt. Bewegungsmangel habe es hingegen eher bei Kindern in Städten gegeben. "Wir haben in unserer Studie beispielsweise festgestellt, dass sich natürlich im innerstädtischen Ballungsraum, also in Mehrfamilienhäusern und auch in sozialen Brennpunkten, diese Probleme des Bewegungsmangels deutlicher zeigen."
Ein weiteres Problem: Heranwachsende müssen eigenständiges Bewegen erst lernen, meint Sportmediziner Uwe Tegtbur von der Medizinische Hochschule Hannover. Während Corona ist auch das deutlich schwerer. "Es gibt eine große Diskrepanz zwischen denjenigen, die gelernt haben: Wie kann ich mich gesund bewegen und schon eine gewissen intrinsische Motivation haben, und denjenigen, die diesen Zugang eben bisher nicht hatten."
Laufende Kinder rihe11873 - MODEL RELEASED ongoing Children Model Released
Kinder- und Jugendsportbericht: Warum Bewegung so wichtig ist
Mindestens 45 Minuten körperliche Aktivität pro Tag empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation für Kinder und Jugendliche. Doch schon dieses Minimum erfüllen in Deutschland 80 Prozent der Heranwachsenden nicht.
Im November folgt dann der zweite Lockdown. Wieder ist der Vereinssport verboten. Und die Renaissance der Straßenkindheit erstarrt in den kalten Temperaturen. Sportsoziologe Woll hat für den zweiten Lockdown analysiert, "dass die Outdoor-Aktivität im Vergleich zum Sommer massiv zurückgegangen ist und das auf der anderen Seite online und digitale Angebote beide an Bedeutung gewonnen haben."
Von draußen nach drinnen. Von der Straße vor den Bildschirm. Durch die fehlende Bewegung im Alltag rechnet Sportmediziner Uwe Tegtbur fest damit, dass es mehr übergewichtige Kinder geben wird. "Die Menschen, die Homeoffice machen, die Menschen, die Homeschooling machen, denen fehlen automatisch 500 bis 1.000 Kilokalorien jeden Tag. Und entweder isst man es weniger oder man nimmt zu."

Soziale Isolation belastet Kinder

Weitere Folgen von Bewegungsmangel können Kinder ihr Leben lang beeinflussen. Sportökonom Christoph Breuer von der Deutschen Sporthochschule Köln nennt nur einige, die er für die Alfried Krupp Stiftung beobachtet hat. "Natürlich gibt es viele chronische Erkrankungen. Ob jetzt Rückenleiden oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebserkrankungen, die sich natürlich noch nicht im Kindes- und Jugendalter einstellen, sondern erst viel später. Aber die Verletzbarkeit steigt an."
Zusätzlich zum Bewegungsmangel leiden Kindern unter dem Mangel an sozialen Kontakten. Eine Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf hat ermittelt, dass sich 71 Prozent der Kinder durch die Kontaktbeschränkungen belastet fühlen. Eine Isolation mit Folgen, erklärt Sportpsychologe Jens Kleinert von der Deutschen Sporthochschule Köln. "Letztlich ist es ja so, dass die soziale Interaktion der wichtigste Entwicklungstrieb ist, den die Kinder haben. Also der Austausch mit den gleichaltrigen, mit den anderen Kindern und den anderen Jugendlichen, ist extrem wichtig."
Und auch der Austausch mit Vorbildern und anderen Erziehungsinstanzen stellt einen wichtigen Teil der Entwicklung dar. Durch den ausbleibenden Vereinssport fällt dieser Vergleich weg. "Dann fehlt der Input, wenn man so will, an dem sich ein Kind reibt, wenn es sich weiterentwickelt. Also die Anforderungen auch von außen, das Neue."
Besonders bei kleineren Kindern, die in sensiblen Entwicklungsphasen stecken, erwartet der Psychologe durch die Corona-Pandemie eine langsamere Entwicklung. Für sie wäre es wichtig, Vereine und Schulen so schnell wie möglich wieder zu öffnen. Lange Zeit hat die Politik dies verhindert - weil es auch in Sportvereinen zu Infektionen gekommen ist.

Kritik an politischen Entscheidungen

Kiki Hasenpusch von der Deutschen Sportjugend hätte sich trotzdem ein anderes Vorgehen gewünscht. "Es gibt Sportstätten, die wirklich unter freiem Himmel sind. Und da hätten wir uns einfach gewünscht, dass der Sport eben als Teil der Lösung gesehen wird, nämlich als Gesundheitsförderung und Prävention."
Im November hatte die Deutsche Sportjugend daher einen Vier-Stufen-Plan konzipiert. Kinder bis 12 Jahren hätten dabei auch bei hohen Inzidenzzahlen weiter Sport machen dürfen. Weitere Lockerungen hätte es je nach Infektionslage geben sollen.
Inzwischen will die Politik erste Öffnungen im Sport umsetzen. Die Beschlüsse vom 3. März sehen vor, dass bei Inzidenzen von unter 100 bis zu 20 Kinder draußen in Gruppen Sport machen dürfen. Erst ab einer Inzidenz von unter 50 dürfen auch Menschen über 14 Jahren zum Sport zusammenkommen – draußen, kontaktfrei und höchstens zu zehnt.
Ball auf dem Kunstrasenplatz während Kinder im Hintergrund während eines Fußball Feriencamps trainieren Themenbild, Symbolbild, Fußballschule, Fußball, Feriencamp, 16.04.19 Gladbach NRW Deutschland *** Ball on the artificial turf court while children train in the background during a football holiday camp Theme picture Symbolic picture Football school Football holiday camp 16 04 19 Gladbach NRW Germany Copyright: xdnet_cdnx
Öffnungsperspektive für den Breitensport
In einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel hatten DOSB und DFB eine Öffnungsperspektive für den Breitensport gefordert. Bund und Länder sind diesem Ruf gefolgt.
Ob der Nachwuchs dann wieder in die Vereine strömen wird, wenn wieder mehr Sport möglich ist, weiß auch Sportökonom Christoph Breuer nicht. Es gebe zwei Szenarien, wie sich der organisierte Sport entwickeln könnte. Im schlechteren Falle könnte es sein, "dass sich einige Kinder und Jugendliche entwöhnt haben vom Sportverein und dass sich die Vereine, aber auch Verbände und die Gesellschaft insgesamt, anstrengen müssen, die Kinder und Jugendlichen wieder zu erreichen und sie zum Sport oder auch die Sportvereine zu bekommen."
Das andere Szenario ist deutlich positiver. Sportvereine könnten wie ein Magnet auf Kinder und Jugendliche wirken und den Durst nach sozialer Interaktion stillen. Die Wissenschafler und Wissenschaftlerinnen nehmen an, dass zumindest all jene, die auch vorher in Sportvereinen waren, liebend gerne zurückkehren.