Die von der Großen Koalition vereinbarte Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz ist laut Justiz- und Familienministerin Christine Lambrecht (SPD) für diese Legislaturperiode gescheitert. Dass das Vorhaben nach der finalen Verhandlungsrunde am 7. Juni nicht zustande gekommen ist, hat mehrere Gründe.
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht, die kommissarisch auch das Familienministerium leitet, zeigte sich von der verfehlten Einigung tief enttäuscht. Der Union und Opposition warf die SPD-Politikerin mangelnden Einigungswillen vor.
SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese betonte gegenüber dem Dlf-Hauptstadtstudio, dass es im Endeffekt die überwiegend ablehnende Haltung der Unionsfraktion gewesen sei, die den Plan scheitern ließ. Die Union wollte Kinderrechte eigentlich gar nicht im Grundgesetz haben, sagte Wiese. "Das hat man immer wieder in den Verhandlungen gemerkt." Aber auch die Grünenfraktion sei letztendlich "nicht richtig kompromissbereit" gewesen, so Wiese.
Unionsfraktionsvize Thorsten Frei wies den Vorwurf einer mangelnden Kompromissfähigkeit indes zurück und betonte, die Parteien hätten schlicht Unterschiedliches gewollt: "Für uns war jedenfalls entscheidend, dass wir es schaffen, Kinderrechte als subjektive Rechte auch im Verfassungstext kenntlich zu machen, aber keinesfalls das fein austarierte Dreiecksverhältnis zwischen Kind, Eltern und Staat zugunsten des Staates und zulasten der Familien zu verengen."
FDP-Verhandlungsführer Stephan Thomae kritisierte hingegen, dass bei der Union kaum mehr Verhandlungsspielraum bestanden habe. "Die FDP und die Grünen wollten aber deutlich mehr erreichen, waren ambitionierter als die Koalitionsfraktionen. Und da gab es dann keine Möglichkeit mehr."
Dirk Wiese (SPD) prognostizierte, dass es für einen sehr langen Zeitraum nun schwierig werde, noch einmal so nah an eine Einigung heranzukommen, um Kinderrechte in die Verfassung zu schreiben.
1989 wurde die UN-Kinderrechtskonvention unterschrieben. Sie gilt in fast allen Staaten der Welt. 1992 wurde sie auch von Deutschland ratifiziert.
Die vier Grundprinzipien dieser Konvention sind
- das Recht auf Nichtdiskriminierung
- das Recht auf Leben, Überleben und Entwicklung
- die Einhaltung der Kindesinteressen und
- das Recht auf Partizipation
Eine weitere wichtige Aussage in der Konvention lautet außerdem, dass bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, ihr Wohl vorrangig zu berücksichtigen ist. Der Begriff "vorrangig" spielt in der derzeitigen Diskussion in Deutschland eine wichtige Rolle.
UN-KINDERRECHTSKONVENTION - Artikel 3 (1):
"Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleich viel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist."
"Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleich viel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist."
Das Bundesverfassungsgericht hatte schon 1968 klargestellt, dass Kinder Wesen mit eigener Menschenwürde und eigenem Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit sind. 2008 erklärte es: "Ein Kind ist nicht Gegenstand elterlicher Rechtsausübung, sondern Rechtssubjekt und Grundrechtsträger. Eltern sind verpflichtet, ihr Handeln am Wohl des Kindes auszurichten."
Außerdem regeln in Deutschland drei Gesetze die Belange der Kinder: das Jugendschutzgesetz, das Kinder- und Jugendhilfegesetz und das Bürgerliche Gesetzbuch. Darin ist seit dem Jahr 2000 auch das Recht auf gewaltfreie Erziehung verbrieft. Im Oktober 2020 brachte die Regierung zudem das Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder auf den Weg. Manche Rechtsexperten halten angesichts dieser zahlreichen Regelungen die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz für überflüssig.
Mit einem Kindergrundrecht sind auch nach dem vorläufigen Scheitern der Verhandlungen viele Hoffnungen verbunden. Wie eine Verfassungsänderung sich in der Praxis auswirkt, ist allerdings schwer vorherzusagen und auch von der konkreten Formulierung abhängig. Kinderschutzorganisationen fordern schon seit Jahrzehnten die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz, vor allem um Kinder besser zu schützen und ihnen ein Recht auf mehr Mitsprache bei staatlichen Entscheidungen zu geben. Bisher seien Kinder Subjekt und Objekt gleichzeitig im Grundgesetz, sagte die
SPD-Fraktionsvize Katja Mast im Dlf
. "Das Gesetz wird ändern, dass in allen Bezügen zur Verwaltung, zur Rechtssprechung und staatlichem Handeln, Kinder und ihre Familien gestärkt werden und sichtbarer werden und ihre Rechte besser einforderbar und einklagbar werden." Der Staat soll stärker in die Pflicht genommen werden, kindgerechte Lebensverhältnisse zu schaffen.
Das heißt konkret: Kinder müssen angehört werden und dürfen bei Maßnahmen, die sie selbst betreffen, mitbestimmen: etwa beim Bau von sicheren Straßen, Schulen oder Spielplätzen, Planung von Wohnvierteln oder Bus- und Bahnverkehr. Das beträfe wiederum die Kommunen, die kindgerechtere Bebaungspläne erstellen, mehr Bildungseinrichtungen anbieten oder in die bessere Ausstattung der Jugendämter investieren müssten. Auch die Arbeit von Familiengerichten und Sozialeinrichtungen, die sich um Jugendliche kümmern, könnte dadurch beeinflusst werden. Ein Kindergrundrecht könnte auch die Situation der Kinder von Geflüchteten in Deutschland stärken.
Schon in den Koalitionsverhandlungen hatte sich die Große Koalition darauf verständigt, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Die Herausforderung in der Gesetzgebung liegt dabei im Spannungsverhältnis zwischen Elternrechten und staatlichem Wächteramt. Deutschlandfunk-Rechtsexpertin Gudula Geuther erläutert es so: "Kindern soll es gutgehen. Was gut für ein Kind ist, bestimmen die Eltern. Der Staat wacht darüber, dass die Eltern dabei nicht in Wirklichkeit dem Kind schaden."
In den jahrelangen Verhandlungen zum Gesetzentwurf der Großen Koalition ging es vor allem um die Formulierung, ob Kinderrechte in der Verfassung "angemessen", "wesentlich" oder "vorrangig" zu berücksichtigen sind. Die Große Koalition hatte sich im März auf einen Gesetzentwurf geeinigt: Artikel 6 des Grundgesetzes, der bislang die Elternrechte beschreibt und die Familie schützt, sollte ergänzt werden und den Schutz der Kinder festschreiben. Die genaue Formulierung lautet:
"Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen. Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen. Der verfassungsrechtliche Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör ist zu wahren. Die Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt."
Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) hatte sich damals also für die "angemessene" Variante entschieden - ein Kompromissangebot an die Union. Denn dort hatten viele die Sorge, das fein austarierte Dreiecksverhältnis zwischen Kindern, Eltern und Obhutspflicht des Staates könne durch eine Grundgesetzänderung zu Lasten der Eltern und zugunsten des Staates verschoben werden, das heißt der Staat könnte sein Wächteramt missbrauchen und zu sehr in die Elternrechte eingreifen. "Wir möchten keinen übergriffigen Staat",
betonte der stellvertretende Fraktionschef der Union im Bundestag, Torsten Frei, im Deutschlandfunk
. Justizministerin Lambrecht sagte, es gehe darum, den Staat stärker auf die Kinderinteressen zu lenken. Kinder seien keine kleinen Erwachsenen, sondern besonders schutzbedürftig mit besonderen Bedürfnissen, das werde jetzt ausdrücklich im Grundgesetz anerkannt.
Kinderschutzverbänden sowie der Opposition ging der Vorschlag nicht weit genug. Das Grundgesetz bleibe damit sogar noch hinter der Kinderrechtskonvention, der EU-Grundrechte-Charta und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurück. Gestritten wird vor allem um das Wort "angemessen". Das Aktionsbündnis Kinderrechte, ein Zusammenschluss von Kinderrechtsverbänden wie dem Kinderschutzbund und dem Deutschen Kinderhilfswerk, bemängelt, es fehle der Anspruch auf kindliche Beteiligung. Statt "angemessen" wollen sie das Kindeswohl "vorrangig" berücksichtigt sehen.
Auch die Grünen kritisierten, im Konzept der Großen Koalition fehle das Recht von Kindern und Jugendlichen, entsprechend ihres Reifegrads beteiligt zu werden. "Die Vorstellung, dass Eltern automatisch immer das Richtige und Gute für ihre Kinder machen, entspricht nicht der Realität. Es entspricht auch nicht der Realität, dass der Staat, wenn er die Kinderrechte nicht maßgeblich berücksichtigen muss, automatisch das Richige für die Kinder tut",
sagte die Co-Fraktionsvorsitzende der Grünen, Karin Göring-Eckardt, im Dlf
. "Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir hier deutlich machen: Wir wollen die Rechte der Kinder stärken, wir wollen dafür sorgen, dass das Wohl der Kinder maßgeblich berücksichtigt wird und vor allem dass die Kinder beteiligt werden." Das passiere derzeit nur, wenn Eltern für ihre Kinder dieses Recht einforderten und sei kein Automatismus. Mit "maßgeblich" bringen die Grünen einen weiteren Begriff ins Spiel.
Manche Elternverbände dagegen befürchten, dass Elternrechte geschmälert werden könnten. Auch der familienpolitische Sprecher der AfD-Fraktion, Martin Reichert, kritisiert, die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz werde dazu führen, dass das Elternrecht zugunsten des staatlichen Bestimmungsrechts zurückgedrängt werde.
Die FDP hielt die Diskussion lange für Symbolpolitik. Die Liberalen erwarteten nicht, dass sich dadurch für Kinder substanziell etwas geändert hätte. Vielmehr gerate das Gefüge im Grundgesetz durcheinander, wenn bestimmte Gruppen besondere Grundrechte erhielten, sagte der rechtspolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Jürgen Martens.
Der Rechts- und Erziehungswissenschaftler Ludwig Salgo hoffte im Vorfeld, dass die explizite Verankerung der Kinderrechte zu einem Umdenken in den Behörden, in der Justiz und in den Jugendämtern geführt hätte. Diese würden sich nach wie vor schwertun, Kinder bei Entscheidungen zu beteiligen, auch wenn dies gesetzlich längst vorgesehen sei.
Wie achtlos über Kinderrechte hinweggegangen wird, zeigt besonders die Corona-Pandemie. Unter dem Lockdown leiden sie ganz besonders: kein Unterrichtsbesuch, kein Sport im Verein, kaum Treffen mit Freunden und keine Mitspracherechte. Das Infektionsschutzgesetz nimmt auf Kinder wenig Rücksicht.
"Wenn wir uns fast ein ganzes Jahr Pandemie anschauen, dann kann man sehr praktisch sehen, dass die maßgeblichen Rechte des Kindes nicht berücksichtigt sind", sagte Grünen-Politikerin Göring-Eckardt im Dlf. Stünden die Kinderrechte im Grundgesetz, wäre vieles anders gelaufen, glaubt sie. Die Kinder hätten mehr im Fokus gestanden und wären auch selbst an Entscheidungen beteiligt worden.
Michael Klundt, Professor für Kinderpolitik an der Hochschule Magdeburg-Stendal, fordert gegenüber der dpa, dringend stärker auf die Belange der Jüngsten zu achten. "Nicht nur der Kindeswohlvorrang ist nicht geprüft worden, sondern es ist im hohen Maße überhaupt nicht das Kindeswohl geprüft worden. Und es sind elementare Rechte wie zum Beispiel auf Schutz, auf Förderung und auch Beteiligung vernachlässigt worden, und das sowohl auf Bund-, Länder- und kommunaler Ebene."
Quellen: Dlf, Gudula Geuther, Aktionsbündnis Kinderrechte, dpa, og, nin