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Beziehungen EU-Türkei
"Die Türkei versucht, die europäische Gesetzgebung auszuhebeln"

Der Fall Böhmermann, ein Dresdner Konzertprojekt zu Armenien und eine Ausstellung in Genf: Die Türkei interveniert häufig gegen künstlerische Kritik in Europa. Ankara fühle sich derzeit stark und versuche, die Grenzen auszuloten, sagte die CDU-Europaabgeordnete Renate Sommer im DLF. Das Problem: Wegen des Pakts zur Flüchtlingskrise sei die EU erpressbar.

Renate Sommer im Gespräch mit Christine Heuer | 26.04.2016
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hält eine Rede, hinter ihm sind zwei türkische Flaggen zu sehen.
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (picture alliance / dpa / Turkish President Press Office)
    Die Türkei hatte am Wochenende bei der EU-Kommission gegen ein Konzertprojekt der Dresdner Symphoniker interveniert. Zudem war bekannt geworden, dass Ankara auch Protest gegen eine Ausstellung in Genf eingelegt hat. Die Kritik entzündet sich an einem Bildtext, in dem Präsident Recep Tayyip Erdogan für den Tod eines Jungen während der Proteste um den Gezi-Park in Istanbul verantwortlich gemacht wird.
    Die CDU-Politikerin Sommer betonte, die Türkei versuche, die europäische Gesetzgebung auszuhebeln. "Das können wir natürlich nicht zulassen." Allerdings sei die EU auch erpressbar, weil sie auch Ankaras Hilfe angewiesen sei, um die Zahl der nach Europa kommenden Flüchtlinge zu reduzieren. Problematisch sei, dass die EU so uneinig sei. Die Türkei nutze das aus. "Wir müssen überlegen, wie weit man dieses Spielchen trieben kann."
    Streit über den Genozid an den Armeniern
    Auf die Kritik aus Ankara hatte die EU-Kommission einen Text über das geförderte Dresdner Konzertprojekt, in dem von einem Völkermord an Armeniern gesprochen wird, aus dem Internet genommen. Später war der Text wieder online gestellt und um den Hinweis erweitert worden, die Kommission sei nicht für den Inhalt verantwortlich. Ankara wehrt sich gegen die Einstufung des Massakers an den Armeniern zwischen 1915 und 1917 als Völkermord.
    Sommer betonte, es sei ein Balanceakt. "Die Europäische Kommission ist da ein bisschen auch in der Bredouille." Denn nicht alle EU-Mitgliedsstaaten hätten den Genozid an den Armeniern durch die Türkei als solchen anerkannt. Das Parlament dagegen habe sich dazu schon klar geäußert.

    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: In der Türkei ist es verboten, die Verfolgung, Massaker und Todesmärsche Völkermord zu nennen, bei denen zu Beginn des letzten Jahrhunderts bis zu anderthalb Millionen Armenier durch Türken um ihr Leben gebracht wurden. Genau davon aber reden, singen und schreiben die Dresdener Symphoniker in einem von der Europäischen Kommission geförderten Konzertprojekt. Dass die Kommission dafür Geld ausgibt und noch dazu einen Begleittext im Internet zulässt, in dem das Wort Genozid vorkommt, hat Ankara verstimmt. Der türkische EU-Botschafter intervenierte und hatte Erfolg.
    Aghet, das ist jetzt auch unser Thema im Interview mit der CDU-Politikerin Renate Sommer, Vizevorsitzende im EU-Türkei-Ausschuss des Europaparlaments. Guten Morgen, Frau Sommer.
    Renate Sommer: Guten Morgen.
    Heuer: Kuscht die Kommission vor Erdogan und der Türkei? Das ist ja wohl die entscheidende Frage. Was sagen Sie?
    Sommer: Als ich das zunächst gehört habe, dass der Text für dieses Konzertprojekt von der Kommissionsseite genommen wurde, habe ich das gedacht und habe mich sehr geärgert. Es gab ja schon einmal einen ähnlichen Vorfall im vergangenen Herbst, als die Europäische Kommission die Veröffentlichung des Jahresberichtes zur Türkei nach hinten geschoben hat, und das war eindeutig eine Rücksichtnahme aus unserer Sicht des Europäischen Parlaments. Das haben wir auch schriftlich festgelegt in unserer Stellungnahme zur Lage in der Türkei, die wir kürzlich verabschiedet haben.
    Jetzt allerdings nach dem, was ich gerade gehört habe, was Herr Schinas gesagt hat, ist das nachvollziehbar, dass die Kommission sagt, wir wollten klarstellen, dass nicht wir für den Inhalt verantwortlich sind, sondern dass wir Kunst fördern, denn die Europäische Kommission darf in dieser Weise ja politisch gar nicht Stellung nehmen, ob das jetzt Genozid war oder nicht. Wir als Europäisches Parlament haben das schon längst gesagt, dass es einer war.
    Heuer: Entschuldigung, Frau Sommer! Warum darf die Kommission das denn nicht, den Genozid beim Namen nennen, wie das fast alle überall auf der Welt tun dürfen?
    Sommer: Ja, das ist ein sehr heikles Thema und es ist nicht Sache der Europäischen Kommission, das festzustellen. Wir als Europäisches Parlament haben das festgestellt, haben uns sehr klar geäußert. Das ist Sache des Gesetzgebers und der besteht nun mal auf der europäischen Ebene aus dem Europäischen Parlament auf der einen Seite und aus dem Ministerrat, also den Mitgliedsstaaten auf der anderen. Und leider haben noch längst nicht alle Mitgliedsstaaten den Armenier-Genozid als solchen auch wirklich deutlich benannt.
    "Ich halte das für einen Fehler"
    Heuer: Die Kommission hat den Begleittext, wie sich dann herausgestellt hat, tatsächlich vorübergehend aus dem Internet genommen, aber sie hat ihn herausgenommen. War das ein Fehler?
    Sommer: Ja, ich halte das für einen Fehler. Man hätte ja den Zusatztext zufügen können, ohne den Gesamttext zunächst einmal rauszunehmen.
    Heuer: Ist die Kommission erpressbar? Ist das das Signal, das da jetzt nach Ankara gesendet wird?
    Sommer: Ich hoffe nicht, dass es so ist. Es ist natürlich ein Balanceakt im Moment mit Blick auf das EU-Türkei-Abkommen zur Lösung der Flüchtlingskrise. Da ist die Europäische Kommission sehr, sehr vorsichtig. Aber wir als Parlament haben das sehr genau im Blick und haben uns da auch schon sehr deutlich zu geäußert, dass wir in keiner Weise bereit sind zuzulassen, dass irgendwelche nicht rechtmäßigen Zugeständnisse in Richtung Türkei gemacht werden, auch zum Beispiel bei der Eröffnung neuer Verhandlungskapitel oder auch mit dem Blick auf Visaliberalisierung.
    "Ich wünsche mir, dass die Kommission stärker auftritt"
    Heuer: Frau Sommer, ist das die Arbeitsteilung, die Europäische Kommission hält sich vornehm zurück, damit kein Schaden entsteht, und das Europaparlament darf dann offen reden?
    Sommer: Nein, nein! So ist es nicht. Aber die Europäische Kommission ist da ein bisschen auch in der Bredouille. Das hat zu tun mit der Uneinigkeit zwischen den Mitgliedsstaaten in der Flüchtlingskrise. Ich wünsche mir auch, dass die Kommission stärker auftritt, viel, viel deutlicher ist, aber die Kommission hat sich entschieden, da vorsichtig zu sein, um dieses Abkommen nicht zu gefährden. Ich halte das Abkommen aber sowieso für gefährdet, gerade mit dem Blick auf die Visaliberalisierung, die so nach meiner Auffassung nicht funktionieren kann, wie es abgemacht ist mit der Türkei.
    Heuer: Darüber möchte ich gleich noch kurz mit Ihnen sprechen. Aber fest steht ja offenbar, dass die Türkei gedroht hat. Wie läuft so etwas denn mittlerweile? Kommt da ein Vertreter Ankaras um die Ecke und sagt, wenn ihr nicht macht, was wir wollen, dann war es das mit dem Flüchtlingsabkommen, oder wir verhandeln dann nicht weiter über unseren Beitritt in die EU? Wie muss man sich das vorstellen?
    Sommer: Ja, es ist schon so. Die Türkei hat sich eigentlich immer so verhalten, wie sie es jetzt tut, vielleicht mit etwas mehr Zurückhaltung, aber insgesamt war sie schon immer sehr deutlich. Sie hat immer gesagt, ihr benachteiligt uns und wir wollen das und das und das und wir wollen das in dem und dem Zeitraum möglichst schnell alles, ohne dass sie bereit war, die Voraussetzungen zu erfüllen.
    Und jetzt im Moment mit diesem Abkommen fühlt sich die Türkei natürlich sehr stark und reizt so die Grenzen aus. Den Eindruck hat man im Fall Böhmermann, im Fall der Dresdener Symphoniker und auch dieses Drängen auf die Visabefreiung schon im Juni. Das sind Dinge. Sie versucht, europäische Gesetzgebung quasi auszuhebeln in ihrem Fall unter dem Motto, wir sind wichtig für die Europäische Union, ihr braucht uns, und deswegen wird jetzt nach unseren Regeln gespielt. Aber das können wir natürlich nicht zulassen.
    "Wir sind im Moment auf die Türkei angewiesen"
    Heuer: Die Türkei reizt die Grenzen aus. Müsste die Antwort nicht sein, dass die Europäer dann Grenzen setzen und zum Beispiel sagen, bitte schön, wenn ihr nicht wollt, dann kassieren wir selber auch wieder das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei, von dem Sie ja sagen, Sie glauben sowieso nicht so richtig daran und auch nicht an die VISA-Freiheit, anderes Thema?
    Sommer: Im Moment funktioniert es ja mit diesem Abkommen. Es kommen so gut wie keine Flüchtlinge mehr über die Ägäis nach Griechenland. Aber man muss schauen, wie sich das weiterentwickelt. Das ist ja noch nicht alles hundertprozentig umgesetzt.
    Es kann natürlich auch sein, dass, wenn es der Türkei nicht schnell genug geht mit der Umsetzung ihrer Forderungen, wir wieder mehr Flüchtlinge bei uns haben, denn das wird ja reguliert durch die türkischen Behörden, ob man da jetzt wegguckt, wenn die Schlepper die Leute ins Boot setzen, oder nicht.
    Heuer: Also sind wir de facto erpressbar?
    Sommer: Ja selbstverständlich! Wir stehen unter Druck. Wir sind im Moment auf die Türkei angewiesen. Das ist doch völlig klar, ist auch gar keine Frage. Und die Türkei fühlt sich dadurch stark, ist auch stark damit. Das geht alles zurück auf die Uneinigkeit in der Europäischen Union, die die EU insgesamt schwach macht. Die Türkei nutzt das aus!
    "Die Europäische Union darf sich nicht selbst verleugnen"
    Heuer: Und hat damit offensichtlich Erfolg. - Wie kommen wir denn da wieder raus?
    Sommer: Das ist eine gute Frage. Ich denke, da ist sehr viel diplomatisches Geschick notwendig. Ich hoffe da sehr auf die deutsche Bundesregierung, die bisher in solchen sehr kritischen Situationen noch sehr, sehr viel hinbekommen hat, sicherlich auch mit Unterstützung einiger, leider weniger anderer Mitgliedsstaaten.
    Es könnte natürlich auch sein, dass vielleicht die USA sich auch mal einschalten jetzt nach dem Besuch Obamas. Ich hielte das für sinnvoll, dass man da auch mal mit der Türkei ein paar Worte spricht. Aber ob das stattfinden wird, ist eine andere Frage.
    Ja, wir müssen überlegen, wie weit will man dieses Spielchen treiben. Die Europäische Union darf sich aber nicht selbst verleugnen. Wir haben unsere Regeln und die müssen eingehalten werden, denn sonst funktioniert unser System nicht mehr, und das darf dann auch die Türkei nicht aushebeln.
    Heuer: Die CDU-Europaabgeordnete Renate Sommer, stellvertretende Vorsitzende im EU-Türkei-Ausschuss des Parlaments war das im Interview mit dem Deutschlandfunk. Frau Sommer, vielen Dank!
    Sommer: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.