Donnerstag, 18. April 2024

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Philosoph Stefan Gosepath
Die Lage in türkischen Flüchtlingscamps muss verbessert werden

Dass Flüchtlinge möglichst ortsnah in der Türkei untergebracht würden, sei eigentlich eine gute Idee, sagte der Philosoph Stefan Gosepath im Deutschlandfunk. Doch müsse man auch für eine bessere Ausstattung der Auffanglager sorgen. Was die Kritik an Präsident Erdogan angehe, scheine das Flüchtlingsabkommen mit Ankara Bundeskanzlerin Merkel zum Teil den Mund zu verbieten. Europa müsse versuchen, die Demokratie in der Türkei zu stärken.

Stefan Gosepath im Gespräch mit Petra Ensminger | 24.04.2016
    Syrische Frauen warten im Flüchtlingslager in Gaziantep auf Essen.
    Syrische Frauen warten im Flüchtlingslager in Gaziantep auf Essen. (picture alliance/dpa/Can Merey)
    Petra Ensminger: Wir schauen auf das Treffen der Kanzlerin. Was für ein Treffen: Die Kanzlerin im südosttürkischen Grenzgebiet zu Syrien. Bilder, die da entstanden sind: Angela Merkel unter anderem mit EU-Ratspräsident Donald Tusk und dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu inmitten von Menschen in einem Flüchtlingscamp. Kollegen sprechen allerdings auch von einem Vorzeigelager und weisen darauf hin, dass Tausende Menschen unter schwierigen Bedingungen in den türkischen Städten vagabundieren. In der Gesprächen Merkels mit Tusk und Davutoglu ging es dann natürlich um diese Vereinbarung zwischen EU und Türkei, ein Paket, mit dem aus der Flüchtlingskrise ein kleineres Flüchtlingsproblem gemacht werden sollte. Nimmst du, Türkei, alle auf die griechischen Inseln gelangten Migranten zurück, nehmen wir, EU, im Gegenzug für jeden abgeschobenen Syrer einen anderen syrischen Flüchtling aus der Türkei auf - so der Deal. Vor der Sendung habe ich mit Stefan Gosepath gesprochen, Professor am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Freigekauft - darüber wurde diskutiert in den zurückliegenden Wochen. Eine Art Handel mit Flüchtlingen? Was sagt der Philosoph dazu?
    Stefan Gosepath: Das Wort Deal impliziert ja hier schon was Negatives. So gebrauchen wir das wahrscheinlich im deutschen Alltagsvokabular. Schmutziger Deal ist das, was häufig gesagt wird. Ich glaube aber, man muss zwei Betrachtungsweisen hier unterscheiden. In abstrakto, finde ich, ist das kein schmutziger Deal. Die Idee, dass man Flüchtlinge möglichst ortsnah unterbringt und ihnen auch damit die Rückkehr in ihre Heimat möglichst schnell erlaubt, ist eigentlich eine gute Idee. Denkt man an einen Brand, man müsste die Leute evakuieren, dann scheint es unsinnig zu sein, die jetzt Tausende von Kilometer deshalb wegzubringen, sondern man würde versuchen, sie in der gleichen Straße, in der Nachbarstraße unterzubringen, damit sie in das wiederaufgebaute Haus zurückziehen können, wenn es möglich ist. Und so müssen wir uns doch die Situation, sagen wir mal, in Syrien idealita, zugegeben nur idealita auch vorstellen, dass wir eigentlich bemüht sind, den Bürgerkrieg in Syrien zu beenden, dass wir wollen, dass sie schnell wieder in ihre Heimat zurück können und dass sie deshalb ortsnah untergebracht sind.
    Wichtig ist natürlich jetzt, dass die Lasten dieser Unterbringung fair verteilt werden. Das heißt, wenn wir der Türkei das zumuten, die Flüchtlinge aufzunehmen, dass wir die Lasten für die Türkei erleichtern, und in dem Sinne müssen wir was dafür geben. Das ist jetzt kein schmutziger Deal, sondern fair, und an dem, was gegeben werden muss, müssen sich alle beteiligen. Alle müssen das mitschultern, übrigens nicht nur die Europäer. Die Frage ist, warum zum Beispiel die USA, meinetwegen auch Russland sich nicht auch beteiligt, denn an dem Krieg in Syrien beteiligen sie sich ja.
    Ensminger: Das klingt aber so, wenn Sie sagen, auch Lastenverteilung, dass es durchaus bestimmte Länder gibt, die moralische Verantwortung auch abschieben.
    Gosepath: Ja, und das ist natürlich das, was impliziert ist beim schmutzigen Deal, dass es jetzt auch so aussieht, als ob wir Deutsche unsere Last abschieben, und das sehe ich nicht unbedingt so, solange wir bereit sind, den Ländern, die stattdessen dann die Flüchtlinge aufnehmen, entsprechend finanziell entgegenzukommen. Das ist in gewisser Weise so wie bei einem Brand: Wenn wir die Feuerwehr beschäftigen, dann ist das ein professioneller Einsatz, dafür zahlen wir Steuern; wenn wir dann eine Notunterkunft mieten für diejenigen Brandopfer, Geschädigten, dann müssen wir dafür auch die Kosten übernehmen, und das tun wir auch als Steuerzahler. Das ist als solches nicht unfair. Es muss nicht so sein, dass ich das Brandopfer aufnehme. Vielleicht ist es sogar viel besser, die haben eine professionelle Unterkunft, in der sie dann auch besser leben können. Das ist natürlich in realita jetzt nicht wirklich der Fall. Aber deshalb ist die grundsätzliche Idee wenigstens richtig. Wir müssen jetzt nur sehen, dass die Notauffanglager an der Grenze zu Syrien in der Türkei viel besser ausgestattet sind und nicht in dem Elend leben, in dem sie leben. Da ist sozusagen in konkreto jetzt die Idee nicht richtig umgesetzt, aber an der Idee selber finde ich moralphilosophisch nichts falsch.
    "Wir müssen eigentlich alle mehr Steuern zahlen"
    Ensminger: Die Verantwortung gemeinsam übernehmen und eine Kontingentlösung wäre dann eine ethisch-moralische Pflichtveranstaltung?
    Gosepath: Kontingent ist jetzt wieder die Frage, Kontingent von was? Kontingent von Flüchtlingen? - Ja! Ich bleibe jetzt mal bei dem vielleicht etwas herangezogenen Beispiel mit dem Brand. Wenn die Feuerwehr versagt, wenn keine Notunterkünfte, keine Hotelbetten frei sind, dann muss ich gegebenenfalls auch diejenigen, die aus dem Haus vertrieben sind, weil es brennt, auch bei mir zu Hause aufnehmen. Die Notlage kann so groß sein, dass ich das tun muss und dann auch moralisch verpflichtet bin. Aber insgesamt in einem wohl funktionierenden Staat - gehen wir mal davon aus, Deutschland ist so ein Staat - funktioniert das anders. Ich bezahle Steuern und damit bezahle ich eine professionelle Feuerwehr und damit bezahle ich auch Notunterkünfte für Leute, denen es unglücklicherweise geschehen ist, dass ihnen das Haus abgebrannt ist. Das heißt, das Kontingent, was ich übernehmen muss, ist eigentlich ein finanzielles. Ich muss meine Steuern zahlen oder noch vielleicht mehr darüber hinaus.
    Und in dem Sinne, glaube ich eigentlich, müssen sich alle Länder oder jedes Individuum und darüber hinaus die Staaten, die diese Individuen repräsentieren, an so etwas wie einem Flüchtlingsfonds beteiligen. Noch allgemeiner kann man sagen: Wenn die Ursache für Flüchtlinge nicht nur ein Bürgerkrieg ist, sondern auch Armut, dann muss der Fonds noch größer sein, denn wir müssen die Ursache der Flucht, nämlich die Armut beseitigen, so wie wir den Brand bekämpfen müssen, und daran müssen wir uns auch beteiligen. Insofern haben wir alle individuelle Verpflichtungen, denen unsere Staaten nachkommen müssen, und das heißt, wir müssen eigentlich alle mehr Steuern zahlen.
    Ensminger: Nun war der Anlass unseres Gesprächs ja auch der Besuch der Kanzlerin in einem Flüchtlingscamp im südosttürkischen Grenzgebiet zu Syrien, die Macht der Bilder. Welchen Einfluss hat denn die unmittelbare Anschauung der Not auch auf politische Entscheidungen?
    Gosepath: Ja offenbar eine große, und deshalb muss man mit diesen Bildern ja sehr, sehr vorsichtig sein. Im Prinzip finde ich auch das eine wichtige Botschaft, die jetzt hoffentlich von diesen Bildern ausgeht, dass die Situation in diesem Flüchtlingscamp natürlich keineswegs akzeptabel ist. Das heißt, wenn wir jetzt wieder von Deal reden, dass wir verpflichtet sind, viel mehr dafür zu tun, die Lage in diesen Flüchtlingscamps zu heben. Wenn die Flüchtlinge schon nicht bei uns sind und wenn viele meiner Mitbürgerinnen und Mitbürger den Eindruck haben, dass das nicht mehr zumutbar sei, noch mehr Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, dann müssen sie ja zumindest akzeptieren, dass wir was für die Situation der Flüchtlinge vor Ort tun müssen. Da ist, glaube ich, das, was Deutschland bis jetzt gemacht hat, noch nicht ausreichend, aber insbesondere überhaupt nicht ausreichend, was die anderen europäischen Länder gemacht haben. Insofern kann man auf eine positive Wirkung der Bilder hoffen. Frau Merkel ist im Moment ja unter erheblichem Druck und deshalb muss sie natürlich jetzt sehen, dass sie ihr, wie ich finde, insgesamt doch richtiges Konzept jetzt auch politisch akzeptabel macht, und da hat sie ja im Moment große Akzeptanzschwierigkeiten.
    Wovon man wegkommen muss - und da ist sie auch nicht ganz frei davon - ist, dass hier ein Deal gemacht wird, und das hat jetzt auch noch mit dem Punkt zu tun, dass die Türkei ja an und für sich ein uns wohlgesinnter Partner ist, aber wir in letzter Zeit zwei Entwicklungen haben, die ganz unglücklich sind. Das eine ist natürlich, dass die Türkei und insbesondere Erdogan immer autokratischere Züge annimmt, dass das Land die Menschenrechte und die Bürgerrechte verletzt und dass es insofern uns jetzt als kein besonders akzeptabler Partner mehr erscheint und wir eigentlich enormen Druck auf die Türkei ausüben müssen. Und das andere ist natürlich, dass es ein strategischer Partner für Europa und nicht nur für die NATO ist. Ich glaube, aus europäischer Sicht ist es extrem wichtig, dass die Türkei sich eigentlich zu dem entwickelt, was mal so aussah, als ob sie sich dazu entwickeln könnte, nämlich zu einem islamischen Staat, der die Demokratie, die Menschenrechte, die Bürgerrechte, den Frieden und den wirtschaftlichen Erfolg sichert.
    Ensminger: Da sind wir durchaus auch wieder bei der Frage der Moral. Inwieweit dürfen wir auch unter diesem moralischen Gesichtspunkt eigentlich so stark uns auf die Türkei einlassen und uns so stark an sie binden, wie wir es derzeit tun?
    Gosepath: Da sehe ich das Bild des faulen Kompromisses durchaus gegeben. Wir machen hier mit einem Staatspräsidenten einen Deal, der uns selbst eigentlich nicht recht sein kann, und dieser Deal scheint Frau Merkel zum Teil auch den Mund zu verbieten, was die Kritik gegenüber Erdogan angeht. Wir müssen eigentlich deutlich machen, dass wir mit der Türkei als Land und nicht mit Erdogan, obwohl er der Repräsentant dieses Landes ist, hier verhandeln, dass die Türkei bis jetzt tatsächlich - das ist das Gute an der Türkei - viel, viel, viel mehr, als man erwarten konnte, Flüchtlinge aufgenommen hat, und dass sie eigentlich bereit sind, sich um diese Flüchtlinge zu kümmern. Das ist das, weshalb die Türkei sich als Partner hier anbietet, dass sie gleichzeitig politisch jetzt so stark auf die Figur Erdogan konzentriert ist, der diese autokratischen Herrscherzüge annimmt, das ist eine ganz schlechte Entwicklung, die wir unbedingt europäisch kritisieren müssen und wo wir versuchen müssen, die Demokratie und die anderen Kräfte in der Türkei zu stärken.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.