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Biberköpfe heute

Mit Alfred Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz" hat Volker Lösch an der Schaubühne Berlin debütiert.

Von Hartmut Krug | 14.12.2009
    Bühne und Zuschauerraum sind nicht getrennt, denn die Kriminellen und Verlierer der Gesellschaft kommen aus unserer Mitte. Der aus 21 ehemaligen Schwerverbrechern für die Schaubühnenversion von Alfred Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz" zusammengestellte Chor sitzt verteilt im Publikum und macht sich kenntlich, wenn seine Mitglieder aufstehen und von ihren Taten berichten:

    "Ich bin 1995 festgenommen worden / wegen bankraub und geiselnahme / dafür war ich dann elf Jahre im Gefängnis / ich bin in eine rumänische scheckbetrügerbande rein / die haben mir das gefühl gegeben eine familie zu haben / betrug und urkundenfälschung."

    Zwischen den Experten des kriminellen Alltags bewegen sich vier Schauspieler in Rollen aus Döblins Roman. Dabei sind ihre Beziehungen von Döblins Sprache geprägt, so dass die vier, auch wenn ihnen gelegentlich heutige Texte zugewiesen sind, durch ihre professionelle Spielweise und die andere Sprache Döblins immer kenntlich als Rollenspieler werden.

    Deshalb schafft es Regisseur Volker Lösch diesmal nicht, obwohl seine Bühnenfassung die Geschichte des Romans durchaus mit den Erzählungen der Laien von ihren Straftaten und Empfindungen verzahnt, die beiden Spielweisen und Beschreibungsebenen zu einer Einheit zu formen. So bekommt die Aufführung etwas allzu lehrhaftes.

    Franz Biberkopf, der aus Eifersucht seine Freundin erschlagen hat und nach seiner Haftentlassung anständig bleiben will, aber keine ehrliche Arbeit findet und im Großstadtdschungel untergeht, weil er aus dem Knast kommt und ein Ungelernter ist, erlebt Berlin als Schlachthof und zugleich als eine Verheißung. An der Bühnenrückwand prangt in großen Lettern das Gebot "Du sollst nicht stehlen", und der Boden ist mit einer dicken Schicht von verführerisch glitzernden Geldstücken bedeckt. Auf diesem schwankenden Boden, dies die Botschaft der Inszenierung, finden Menschen, die einmal straffällig geworden sind, nie wieder einen festen Stand.

    Vergeblich klammert sich der Chor hier in langer Reihe aneinander: Statt sich gegenseitig zu stabilisieren, geraten die Menschen gemeinsam ins Taumeln. Immer wieder stürzen sie sich zurück, mitten unter die Zuschauer, und Sebastian Nakajew spielt als Franz Biberkopf mit enormer Energie, aber auch mit Charme immer wieder einzelne Zuschauer direkt an. Wenn Franz Biberkopf von sich erzählt, werden alle wie er:

    "Franz: ich hab meine braut erschlagen ida / in der blüte ihrer jahre / dies ist passiert bei einer auseinandersetzung / in der wohnung ihrer schwester minna / Chor: ich hab meine braut erschlagen ida / in der blüte ihrer jahre / bei einer auseinandersetzung / in der wohnung ihrer schwester minn."

    Auch wenn Texte vorgetragen werden, in denen Döblin den von einer Dampframme erschütterten und von Menschen überwimmelten Alexanderplatz beschreibt oder das Töten eines Kälbchens und eines Stiers im Schlachthof, schafft Lösch weder eine Stadtreportage noch die Darstellung eines allgemeinen gesellschaftlichen Lebensgefühls. Was er bietet, ist eine Sozialreportage über Knackis, die sich nach ihren Gewalttaten und Erfahrungen vom Knast selbst als Opfer sehen.

    Dabei interessiert sich die Inszenierung nicht für die Opfer der Straftäter, und die Täter zeigen weder Reue noch Mitleid. Was bleibt, ist Wut auf eine Gesellschaft, in die man nicht wieder hinein kommt. Folgerung: man selbst kann letztlich nichts tun, als kriminell zu werden. Und Franzens trotz bester Vorsätze Scheitern, wird zum Exempel verengt:

    "Franz: ich hab aller welt geschworen / anständig zu bleiben / bei uns transportarbeitern / steckt es mehr in den muskeln / was soll unsereins mit gericht und polizei und politik / immer laufen lassen / anständig bleiben / und für sich bleiben / ich will nich mehr so wie früher /
    Chor: ich franz biberkopf / schwöre / von jetzt an und für immer / ein anständiger mensch zu bleiben"

    In nicht einmal zwei Stunden läuft die kraftvoll inszenierte und souverän choreographierte Inszenierung ab. In der es eine skurrile Szene gibt, in der ein Drogendealer von einem (namentlich nicht genannten) koksenden Theaterkritiker der Süddeutschen Zeitung erzählt und behauptet, ohne Drogen könne der "Theaterbetrieb in der oberen Liga" nicht laufen. Lustig, wenn auch wenig logisch ist die Szene, in der sich Franz wieder der Verbrecherbande anschließt und sich diese dabei als dick ausgestopfte Panzerknacker im Disney-Outfit mit Geldsäcken der Deutschen Bank einen Ruheberg errichten.

    Das andere Leben, das Franz nicht gelingt, fordert er schließlich von Publikum: das Auto vom einen, die Bildung vom anderen, den Job oder die Aktien vom dritten. Und wenn am Schluss alle Spieler, jetzt in Anzüge gekleidet, trotz Biberkopfs Scheitern einen Tanz der Hoffnungen aufführen, wird wenigstens der Lustgewinn nach verbrecherischer Arbeit beschworen:

    "einbrechen ist eine höllenarbeit / du schwitzt der schweiß läuft dir in strömen / du machst dir die finger kaputt / die tür geht nicht uff weil son stahlband da is / die geräusche sind zehnmal so laut wie de glaubst / klar haste angst / es ist laut alles ist laut / aber geldzählen danach macht glücklich"

    Insgesamt kein analytischer, kein großer Abend, weil die Lebenserzählungen der Experten der Kriminalität als Realität genommen werden, statt dass die Realität, wie es in den besten Arbeiten von Lösch passiert, in all ihrer Ambivalenz ausgestellt und befragt wird.