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Bierdel-Prozess dokumentiert "den größten Menschenrechtsskandal"

Karl Kopp, Europareferent der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, hält die Anklage gegen den früheren Cap-Anamur-Chefs Elias Bierdel in Italien für abwegig. Bierdel habe das Leben von 37 afrikanischen Flüchtlingen gerettet. Der Prozess zeige, dass sich Europa auch weiterhin wie eine Festung verhalte und man die Augen vor dem Schicksal der Bootsflüchtlinge verschließe.

Karl Kopp im Gespräch mit Sandra Schulz | 03.06.2009
    Sandra Schulz: Sommer 2004: die Cap Anamur, das Schiff der gleichnamigen Hilfsorganisation, trifft im Mittelmeer rund 100 Kilometer vor der italienischen Insel Lampedusa auf 37 afrikanische Flüchtlinge in Seenot. Sie lässt die Menschen an Bord kommen, nach tagelanger Irrfahrt steuert sie den sizilianischen Hafen Porto Empedocle an. So jedenfalls die Schilderung des früheren Cap-Anamur-Chefs Elias Bierdel, der die dann folgenden Ereignisse im Interview mit dem Deutschlandfunk im Juli 2004 so dargestellt hat:

    Elias Bierdel: "Klar war, dass der Hafen Empedocle der nächstgelegene ist von der Rettungsstelle aus. Den haben wir angelaufen und es sah ja auch alles zunächst völlig in Ordnung aus. Wir haben das ganz ordnungsgemäß getan. Wir haben gemeldet, wen wir an Bord haben, warum, weshalb, und wir liefen diesen Hafen an und hatten die Genehmigung, dort einzulaufen. Aber in der Sekunde sozusagen, wo wir in die Hoheitsgewässer einfahren wollten, da hat plötzlich und auf allerhöchsten Geheiß aus Rom direkt die italienische Behörde diese Genehmigung widerrufen, und seitdem hingen wir dann volle elf Tage dort draußen und anschließend - das ging dann sehr schnell - sahen wir uns einer Armada gegenüber von Kriegsschiffen, von Grenzschutz, von Hubschraubern."

    Schulz: Elias Bierdel im Deutschlandfunk mit einer Perspektive, die immer wieder in Zweifel gezogen wurde, und einer der prominentesten Kritiker war Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeck, der schwere Vorwürfe gegen das Vorgehen Bierdels erhoben hat.

    Rupert Neudeck: ""Man muss vorher mit allen möglichen Instanzen sprechen, nicht um deren Zustimmung zu bekommen - die wird man nicht bekommen -, aber es ist wichtig, dass man die, auf die man dann später angewiesen ist, schon mal vorinformiert hat. Weil das Kind schon halb in den Brunnen gefallen war, war ich der Meinung, man sollte sofort die drei, vier Tage sich auf den Weg machen in den Heimathafen Lübeck oder Hamburg, um dort die Flüchtlinge abzugeben. Eines wäre auf jeden Fall sicher gewesen dabei: Man hätte das Schiff nicht verloren.""

    Schulz: Humanitäre Hilfe oder Schlepperei? Die italienische Staatsanwaltschaft leitet aus der Aktion gar strafrechtliche Vorwürfe ab. In den Schlussplädoyers des Strafprozesses, der nun schon seit mehr als zwei Jahren läuft, forderte die Anklage für Elias Bierdel und den Kapitän der Cap Anamur vier Jahre Haft und 400.000 Euro Geldstrafe. Die Verteidigung fordert Freispruch. Für heute nun wird das Urteil erwartet in Agregent auf Sizilien.

    Was bedeutet dieser Prozess nun für die Arbeit der Hilfsorganisationen? Darüber möchte ich sprechen mit Karl Kopp, dem Europareferenten der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl. Guten Morgen!

    Karl Kopp: Guten Morgen.

    Schulz: Herr Kopp, sollte es zu dem Urteil kommen, welches Signal ginge aus Ihrer Sicht davon aus?

    Kopp: Es hätte eine verheerende Auswirkung. Die Kollegin vom UNHCR Italien hat es schon beschrieben. Das wäre ein klares Signal an andere Handelsschiffe: Fahrt weiter, schaut weg. Wir haben jetzt schon eine Situation, dass häufig Kapitäne Angst haben vor einer Lebensrettung, weil sie wissen, das kann tagelange Verzögerung bei der Verfrachtung erwirken. Von daher wäre das ein verheerendes Signal und natürlich hat das auch eine dramatische Auswirkung für die beiden Lebensretter, ganz klar. Man würde ihre bürgerliche Existenz vernichten. Und es hätte die Auswirkung, dass ganz klar ist: Legt euch nicht mit der Festung Europa an, schaut weg, schweigt und fahrt weiter.

    Schulz: Herr Kopp, wenn künftig niemand mehr Schiffbrüchige an Bord nähme, ohne zynisch fragen zu wollen, wie viele Menschenleben würde eine solche neue Zurückhaltung kosten?

    Kopp: Wir haben jetzt schon wirklich Tausende von Toten. Über 10.000 Tote wurden dokumentiert in den letzten zehn Jahren. Die Cap Anamur hat - niemand bestreitet das - 37 Menschen vor dem sicheren Tod bewahrt und es ist völlig unverständlich, dass heute versucht wird, politisch motiviert humanitäre Hilfe zu kriminalisieren. Und von daher: es geht heute genau um die gleichen Fragen wie vor fünf Jahren. Morgen diskutieren die Innenminister über diese Frage. Der EU-Kommissar sagt, ihr müsst euch endlich einigen: Wer ist zuständig bei Lebensrettung? Ihr dürft nicht tagelang wie vor kurzem darüber streiten, wer lässt die Leute anlanden und sie unter erbärmlichen Bedingungen beispielsweise auf dem türkischen Schiff Pinar warten lassen, vegetieren lassen. Das ist die Realität und eine andere Realität ist, dass praktisch die italienische Regierung wie kürzlich geschehen fünfhundertfach Menschenrechte, Flüchtlingsrechte verletzt und Bootsflüchtlinge nach Libyen zurück bringt in Haftlager des Herrn Gaddafi, und das ist kein Straftatbestand, der irgendwie angeklagt wird, das wird nicht mal in EU-Kreisen kritisiert. Es gibt ein Schweigen in Berlin, es gibt ein Schweigen in Brüssel zu diesem Thema.

    Schulz: Herr Kopp, was ist also gewonnen durch die Aktion Elias Bierdels vor fünf Jahren?

    Kopp: Die Lebensrettung hat den Finger in die Wunde Europas gehalten, nämlich den größten Menschenrechtsskandal ganz klar noch mal dokumentiert, dass vor unseren Toren jeden Tag Menschen sterben und dass diese Seefriedhöfe Tag für Tag größer werden. Aus dem Grund wurde dieses Exempel statuiert von Herrn Schily und damals von seinem Kollegen Pisano, dass man sagt, diesem Lebensretter machen wir den Prozess, wir schrecken ab. Die 37 Menschen, die gerettet wurden, hatten nie ein faires Asylverfahren. 36 von ihnen wurden nach einem kurzen Prozess abgeschoben. Es sollte abschrecken, dass in Zukunft so was nicht noch mal passiert.

    Schulz: Aber wir haben das auch gerade noch mal gehört: Es gab auch erhebliche Kritik am Vorgehen Elias Bierdels. Die Rettung von Menschen sei als Publicity-Spektakel gefeiert worden, als Publicity-Spektakel missbraucht worden. Diese Vorwürfe stimmen nicht?

    Kopp: Der Vorwurf - er wird heute selber darauf eingehen - ist abwegig. Zehn Tage mussten die auf hoher See warten. Die italienische Regierung hat durch die Seeblockade daraus ein Medienspektakel gemacht. Hätten die ganz normal anlanden können, hätte das wahrscheinlich kaum eine Meldung gegeben. Von daher ist es also erst mal eine absurde Haltung. Für die Fehler, die Elias eingeräumt hat, dass wir tagelang vielleicht warten mussten, für diese Fehler, vermeintlichen Fehler wird man nicht mit vier Jahren Haft bedroht oder mit 400.000 Geldstrafe und zwei Millionen Kaution des Schiffes einbehalten, sondern er hat es eingeräumt: Das sind ganz normale technische Vorgehensweisen gewesen, wo man Sachen besser machen kann. Aber ganz klar: Die italienische Regierung hat die Seeblockade aufgebaut, hat die militärische Lösung gesucht und hat sie dann auch durchgeführt.

    Schulz: Aber wenn wir beim Thema Inszenierung noch kurz verweilen. Sie erinnern sich gewiss auch an die Bilder Elias Bierdels mit Viktory-Zeichen bei der Einfahrt nach Empedocle, an die Flüchtlinge im einheitlichen Cap-Anamur-T-Shirt. Stimmen die Vorwürfe der Inszenierung nicht? Hatten Sie nicht auch Unbehagen, als Sie diese Bilder sahen?

    Kopp: Wenn jemand nach zehn Tagen völlig erschöpft - es gab einen Notfall die Tage davor, es gab einen Notfall, dass die Verhältnisse auf dem Schiff am Kippen waren, dass die Bootsflüchtlinge quasi das nicht mehr durchgehalten haben -, wenn man einfährt und dann praktisch es eine Begeisterungsgeste gibt, daraus eine Inszenierung zu machen, ist abwegig. Man muss das auch von einer persönlichen Warte noch mal begutachten. Das mit den T-Shirts? Die Crew hat beschrieben, dass die Flüchtlinge diese T-Shirts haben wollten. Ich habe da jetzt nichts anderes gehört. Von daher: Ich sehe diesen ganzen Vorgang nicht. Mit jedem einzelnen Bild kann ich natürlich auch irgendwas skandalisieren, was vielleicht gar nicht da ist, aber im Kern müssen wir einfach mal davon ausgehen: Für diese Aktion, auch für diese Geste, da geht nicht ein Mensch ins Gefängnis und seine Existenz wird zerstört. Darum geht es nicht. Man sollte auch nicht ablenken an dem Punkt. Es ist ganz klar, durch die Lebensrettung - niemand bestreitet das - wurden diese 37 Männer vor dem sicheren Tod bewahrt, und darüber sollten wir reden und nicht über irgendwelche kleinen Details oder eine Bilderinterpretation.

    Schulz: Einschätzungen waren das von Karl Kopp, dem Europareferenten der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, heute Morgen im Deutschlandfunk. Haben Sie vielen Dank.

    Kopp: Ich danke Ihnen.