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Bildbände über expressionistische Architektur
Als sich Städte ein neues Bild gaben

Die beiden Architekten Niels Lehmann und Christoph Rauhut haben in zwei Bildbänden einen Überblick über ein wichtiges Kapitel europäischer Baugeschichte gegeben: über die Architektur des Expressionismus. Anhand von weit über hundert Bauwerken zeigen die Autoren eine innovative Epoche der Architektur und Stadtplanung.

Von Martina Wehlte | 23.02.2017
    Blick auf das Rathaus im Stadtzentrum von Oberhausen.
    Das Rathaus in Oberhausen, 1927-30 gebaut, ist ein gutes Beispiel für expressionistische Gebäude. (imago/Ralph Lueger)
    Wenn aus der fixen Idee zweier Studenten ein konkretes Projekt und daraus die Publikation in einem renommierten Verlag wird, dann haben die beiden durch Spürsinn für ein interessantes Thema und systematische Arbeit überzeugt. So geschehen bei Niels Lehmann und Christoph Rauhut. Sie suchten in vergangenen Stilepochen nach Anknüpfungspunkten für eine moderne Architektur heute und so entstand noch zu ihrer Studienzeit ein Buch über Art-déco-Bauwerke in London und Südengland, das nach dreijähriger Recherche im Hirmer Verlag erschien. Mittlerweile steht der eine als Architekt in Zürich, der andere in Berlin in Lohn und Brot und zusammen haben sie jetzt die Spurensuche nach Architektur des Expressionismus in den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts zu ihrem Lebenshobby gemacht. Erstaunt darüber, wie viele Bauwerke es aus dieser Epoche noch gibt, reisen sie seit nunmehr sechs Jahren quer durch Europa, fotografieren und dokumentieren, nehmen Kontakt mit Ämtern auf, versuchen alte Pläne zu finden und haben anhand charakteristischer Beispiele eine Landkarte expressionistischer Architektur erstellt.
    Fortlaufendes Projekt
    Sie ist dem Bildband Fragments of Metropolis. Berlin vorangestellt, der schon in zweiter, überarbeiteter Auflage bei Hirmer vorliegt. Die Auswahl von Industrie- und öffentlichen Nutzbauten, großen Wohn- und Geschäftshäusern oder repräsentativen Villen, Kirchen und Kapellen zeugt von dem Wunsch nach einem breiten architektonischen Spektrum und von der Kennerschaft der Autoren. In dem hervorragend fotografierten Band zu blättern ist nicht nur ein Augenschmaus, sondern ein Erlebnis voller Überraschungen angesichts eines so reichen expressionistischen Erbes, das uns bisher kaum im Bewusstsein war und das nun auch als Basis für Fachleute aufbereitet, mit Karten, Grundrissen, Gebäude- und Architektenindex versehen ist und – wird. Denn schon ist ein zweiter Band unter dem Titel Fragments of Metropolis. Rhein und Ruhr erschienen. Christoph Rauhut, einer der Co-Autoren, bestätigt, dass es sich hier um ein fortlaufendes Projekt handelt.
    "Ja, es ist eine Reihe schon in der Idee gewesen. Wir haben diese ganzen Fragmente gesammelt – daher kommt auch der Name Fragments of Metropolis – die wir in ganz Europa gefunden haben, und wir haben uns dann überlegt, einzelne Bände zu machen, einzelne regionale Bände. Wir haben noch weitere fünf regionale Bände geplant und hoffen, dass wir diese in den nächsten Jahren auch umsetzen können."
    Nun gilt - bei aller Skepsis gegenüber stilistischen Eingrenzungen insgesamt - der Expressionismus (beispielsweise in der Malerei) doch als spezifisch deutsche Erscheinungsform. Dem stimmen die Autoren auch für den Bereich Architektur insofern zu, als hier das Kerngebiet war. Dabei unterscheiden sie beispielsweise den Hamburger Backsteinexpressionismus von entsprechenden anderen regionalen Ausprägungen, eben im Gebiet Rhein–Ruhr oder in Berlin-Brandenburg.
    "Es ist ein mitteleuropäisches Architekturphänomen. Der Expressionismus ist ein Phänomen, das wir eher im Raum Deutschland finden, dann aber auch in Polen, in weiteren osteuropäischen Staaten und in den baltischen Staaten, Richtung Westen in den Niederlanden als Amsterdamer Schule, unter anderen Labeln aber mit den gleichen architektonischen und den geistigen Ideen, die dahinter stehen."
    Nirgends in Deutschland war der Austausch zwischen den Künsten in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts so intensiv wie in Berlin, und das hat die damalige Architektur der Hauptstadt geprägt.
    "Was Berlin sicher auszeichnet, ist der Versuch des Avantgardistischen. Es gibt in Berlin doch einige Gebäude, die besonders expressiv sind, besonders gestaltet sind."
    Der Borsig-Turm beispielsweise, die Kreuzkirche oder die Buchdruckerei des Ullstein-Verlages, die sich perfekt in die von Hans Poelzig 1929 in einer Farbzeichnung skizzierte Kristalline Stadtlandschaft eingefügt hätte, die dem Berlin-Band beigegeben ist.
    "Es gibt den Begriff des Gesamtkunstwerks, - das findet man nun eher in Berlin, an einem Gebäude, an dem Skulptur, vielleicht auch Farbansätze verwirklicht sind, während im Ruhrgebiet eine funktionale Variante des Expressionismus umgesetzt wird."
    Der renommierte Architekt Hans Kollhoff spricht in seinem Vorwort zu Recht die Gefahr eines "belanglosen Individualismus" an, die mit dem architektonischen Expressionismus verbunden war, insofern er Anleihen bei der Skulptur und beim Theater nahm, um partout Kunst zu sein, auch auf Kosten des Architektonischen. Das ist bei einigen Privathäusern der Fall und bei Erich Mendelsohns Einsteinturm von 1920-21 in Potsdam. Öffentliche Gebäude wie die Postämter Reinickendorf und Niederschöneweide oder das Berliner ADGB-Haus von Franz Hoffmann und Max Taut überzeugen hingegen durch ihre klare Strukturierung und die gelungene Synthese von Funktionalität und Ästhetik.
    Im Unterschied zur Literatur und bildenden Kunst des Expressionismus entstand expressionistische Architektur zeitversetzt erst in den 20er-Jahren und knüpfte an entsprechende Architekturzeichnungen während des Ersten Weltkriegs an. Nachdem mit dem Untergang des Kaiserreichs auch die restriktive Kulturpolitik Wilhelms II. und das Primat des Historismus ein Ende gefunden hatten, wollte man mittels der Architektur einer neuen Gesellschaft Ausdruck verleihen.
    Stilistische Analogien innerhalb der Gattungen
    Welche neue Gesellschaft schwebte den Architekten damals vor und wie manifestierte sich das? Bruno Taut hatte im November 1919 die Gläserne Kette gegründet, einen Zirkel zum geistigen Austausch zwischen Architekten, aber auch mit Bildhauern, und hier war ein sozialistisch geprägtes Weltbild die Grundlage für die baulichen Konzepte. Bruno Taut hatte 1917 eine Gartenstadt für 300.000 Einwohner konzipiert, deren architektonischer und gesellschaftlicher Mittelpunkt ein zweckfreier Kristallbau mit einem alles überragenden gläsernen Turm war, der sogenannten Stadtkrone. In ihm sollte sich das Licht fangen und so - mit einem quasi religiösen Anspruch – den Kosmos versinnbildlichen. Unter dem gleichnamigen Titel Die Stadtkrone veröffentlichte Taut 1919 seine Ideen von einer universell verbindlichen Architektur. Der Titel Fragments of Metropolis von Niels Lehmanns und Christoph Rauhuts Reihe legt auch den Gedanken an den 1925/26 gedrehten Metropolis-Film von Fritz Lang nahe.
    "Metropolis – und da ist der Link zu Fritz Lang – ist ja auch eine Stadtvision und viele der Gebäude, die wir in den Büchern gesammelt haben, beinhalten in unserer Sichtweise nicht nur eine architektonische Vision sondern auch die Vision einer zukünftigen Stadt. Die 'Stadtkrone' ist zum Beispiel ein Begriff, der immer wieder auftaucht, der auch in den Gebäuden mit hohen Türmen umgesetzt wird."
    Die Auftraggeber hatten aber nicht unbedingt eine utopisch sozialistische Vision vor Augen, sondern repräsentativen Anspruch und die Städte im Ruhrgebiet nutzten die expressionistische Architektur, um sich ein neues Bild zu geben.
    "Das gilt insbesondere für die neuen aufstrebenden Industriestädte Oberhausen, Essen, vielleicht auch Gelsenkirchen; aber auch Düsseldorf, die alte Residenzstadt am Rhein, baut expressionistisch, baut zum Beispiel die GeSoLei-Bauten, eine große Ausstellung für Gesundheit und Volksfürsorge und ich glaube, dass man diese expressionistischen Gebäude wieder an solche Themen, die damals sehr wichtig waren – Versorgung der Menschen mit Gesundheit, mit sozialen Aspekten -, knüpft, zeigt, dass da durchaus ein Interesse, diese Architektur an gesellschaftliche Problemfelder, an gesellschaftliche Herausforderungsfelder zu knüpfen."
    Was ist nun eigentlich ein expressionistisches Gebäude? Das Rathaus in Oberhausen, 1927-30 als Repräsentation der aufstrebenden Industriestadt gebaut, ist dafür ein gutes Beispiel, denn es enthält typische Architekturelemente, die narrativ funktionieren:
    "Es gibt vertikale Körper, die das Ganze gliedern, und dann sind zum Beispiel die Ratssäle durch monumentale Fenster vertikal gegliedert, die von Muschelkalk umgeben sind und da sind zum Beispiel mehrere Abstufungen dieses Fensterbandes gemacht, sodass man wirklich Licht und Schatten ganz stark sieht und diese Vertikale stark betont ist. Dann ganz typisch auch, dass es da einen Uhrenturm gibt, diese Stadtkrone, also man zeigt an, hier ist das wichtigste, höchste, das Gebäude der Stadt. Und wenn man sich dann auch weiter das Dachgesims anschaut, gibt es dort solche Zacken, die sind wieder mit Muschelkalk bekrönt, - da so eine Reminiszenz an fast mittelalterliche Architektur, die aber durch spielerische Elemente übertrieben schräg vielleicht ist, aber durchaus auch spannend anzuschauen, also nicht einfach nur absurd."
    Der Austausch zwischen den Künsten, die interdisziplinäre Zusammenarbeit hat zu stilistischen Analogien innerhalb der Gattungen geführt.
    Der architektonische Expressionismus war ein Breitenphänomen
    "Ich denke, zum Beispiel Licht und Schatten macht das Expressionistische im Kino der Zeit aus, wenn man an Filme wie 'Das Golem' denkt oder auch 'Metropolis'. Das ist etwas, was zum Beispiel in der Architektur auch aufgegriffen wird, und es ist natürlich auch die Methode der Überzeichnung, dass man bestimmte Elemente, die man kennt, dann doch etwas zuspitzt, ein Gesims, ein Abschluss zu einem Dreieck wird. Das Gleiche passiert dann auch in den anderen Künsten, dass man übertreibt, ohne aber das Übertreibende per se in den Vordergrund zu stellen."
    Die Autoren betonen in ihrem Band zu Rhein und Ruhr, dass der architektonische Expressionismus ein Breitenphänomen war, das aber durchaus unterschiedlich umgesetzt wurde, abhängig von spezifischen Intentionen der Auftraggeber, von regionalen Bedürfnissen und dem Selbstverständnis des Bürgertums. So begegnet an Rhein und Ruhr besonders häufig der Typus des Wohnhochhauses. Markante Beispiele sind das Sternhaus und das Ring-Eck in Gelsenkirchen. Solche dezidiert vertikal ausgerichteten Gebäude wurden mit Bedacht als städteplanerische Wegmarken an wichtigen Plätzen oder Kreuzungen errichtet. Im Kontext der kirchlichen Reformbewegungen spielte damals auch der rheinländische Sakralbau eine große Rolle – verbunden mit den Namen der Architekten Rudolf Schwarz und Dominikus Böhm, der beispielsweise die kompakte Kölner St.-Engelbert-Kirche entwarf.
    Wie steht es nun mit der Authentizität derjenigen Bauwerke, die im Zweiten Weltkrieg zerstört worden waren und dann wieder aufgebaut wurden? Hier den Originalzustand dem jetzigen Erscheinungsbild gegenüberzustellen, bleibt Einzeluntersuchungen vorbehalten und ist von noch so verdienstvollen Übersichtswerken, wie sie Niels Lehmann und Christoph Rauhut vorlegen, nicht zu leisten. Es gibt Gebäude, in denen sich sehr viel Originalsubstanz innen und außen erhalten hat.
    "Aber es gibt auch welche, die mit expressionistischen Anleihen – das ist zum Beispiel die Börse in Essen, das heutige Haus der Technik, durchaus verändert, also mit weiteren Geschossen und auch die Kubaturen etwas verändert – wieder aufgebaut worden sind. Das macht aber vielleicht auch den Charme des Ganzen aus, dass man nicht nur ein den Zeitpunkt 20er-Jahre dort abgebildet findet, sondern auch natürlich die weitere Geschichte Deutschlands sich in diesen Gebäuden in einer Form widerspiegelt."
    Niels Lehmann/Christoph Rauhut: "Fragments of Metropolis. Berlin. Berlins expressionistisches Erbe"
    Deutsch/Englisch. 256 S., 140 Farbabb. 55 Planzeichnungen. (1. Aufl. 2015) 2. Überarb. Aufl 2016. Hirmer Verlag. 29,90 Euro

    Niels Lehmann/Christoph Rauhut: "Fragments of Metropolis. Rhein&Ruhr. Das expressionistische Erbe an Rhein und Ruhr"
    Deutsch/Englisch. 256 S., 150 Farbabb., 30 Planzeichnungen und Kartenmaterial. Hirmer Verlag. 29,90 Euro