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Bildung in Afghanistan – auch für Frauen?

Ab 2014 soll Afghanistan wieder unter einheimischer Führung stehen. Dafür braucht das Land eine Bildungsschicht – Bürger, die lesen und schreiben können. Für Frauen in Afghanistan sind diese Fähigkeiten bisher ein seltenes Privileg.

Von Sandra Petermann | 23.04.2011
    "Wenn die Frauen in der Familie lesen und schreiben können, dann können die Kinder von ihnen lernen. Sie denken dann: Wenn meine Mutter das macht, dann ist das was Gutes."

    Diese junge Mutter aus der Provinz Daikundi im zentralen Hochland von Afghanistan besucht einen Alphabetisierungskurs für Frauen. Sie lebt in einem der vielen abgeschiedenen Dörfer. Die Schule hat sie nie besucht, sie hat immer im Haus und auf dem Feld gearbeitet. Ihr Vater hat sie früh verheiratet, so ist es Tradition, und heute ist die 20-Jährige selber Mutter von drei Kindern.

    Jetzt hockt sie unter einer Zeltplane von Unicef und lernt das ABC. Ihre Lehrerin kommt aus Kabul, die beschwerliche Reise mit dem Auto nach Daikundi dauert mindestens zwei Tage.

    "Meine Kurse verändern das Leben der Frauen. Früher haben die Männer ihre Frauen geschlagen, wenn sie das Haus verlassen wollten. Aber jetzt erlauben sie ihnen, meine Kurse zu besuchen, weil ihre Frauen etwas Nützliches lernen."

    Bildung für Frauen hat in Afghanistan keine Tradition. Als die Taliban das Land regierten, war Bildung für Frauen verboten. Der Sturz des radikal-islamischen Regimes jährt sich bald zum zehnten Mal. Seitdem ist viel passiert. Es gibt neue Straßen und Stromleitungen, neue Schulen und Universitäten. Vor allem die Hauptstadt Kabul boomt. Das Land hat eine neue Verfassung und gewählte Volksvertreter. Aber Sima Samar, die Chefin der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission, bleibt skeptisch.

    "Die andere Messlatte für Demokratie ist die Gleichberechtigung von Frauen. Ohne gleiche Rechte für Frauen gibt es keine Demokratie."

    Die neue afghanische Verfassung garantiert den Frauen Gleichberechtigung und das Recht auf Bildung. Aber die Realität sieht anders aus – vor allem auf dem Land. Afghanistans patriarchalisch geprägte Stammesgesellschaft wird durch kulturelle und religiöse Vorstellungen so verstärkt, dass Männer über Frauen bestimmen. Mehr als 30 Jahre Dauerkrieg haben für chronische Unterentwicklung und hohe Mauern gesorgt, hinter denen die Frauen fast unsichtbar leben. Zwar gehen inzwischen rund 2,5 Millionen Mädchen zur Schule, aber die allermeisten dürfen nur die Grundschule besuchen.

    Kommen sie in die Pubertät, sind sie bis zur Hochzeit an das väterliche Haus gebunden. Die Familienehre, das Familieneinkommen, der gesellschaftliche Druck, die Länge des Schulwegs und die Sicherheit entscheiden über die Dauer des Schulbesuchs. In drei Vierteln aller afghanischen Distrikte gibt es bis heute keine weiterführenden Schulen für Mädchen. Die anhaltende Gewalt und neue internationale Prioritäten verhindern, dass sich daran etwas ändert, sagt Sima Samar von der afghanischen Menschenrechtskommission.

    "Frauenrechte und Menschenrechte sind heute nicht mehr entscheidend. Wenn wir zurückblicken auf 2002, dann erkennen wir, dass es der internationalen Gemeinschaft damals auch darum ging, die Frauen in Afghanistan zu ermächtigen und die Menschenrechte zu schützen. Doch heute geht es um eine schnelle Versöhnung ohne klare Bedingungen, ohne klare Verantwortung, ohne Gerechtigkeit und Transparenz, und ohne den besonderen Schutz der Frauen. Heute geht es darum, mit den Taliban zu verhandeln."

    Nach Angaben des afghanischen Bildungsministeriums können nur zwölf Prozent aller Mädchen und Frauen über 15 Jahren richtig lesen und schreiben. Doch auch die Jungen leiden darunter, dass die Hälfte aller Schulen im Land bis heute Provisorien sind. Der typische Unterricht findet immer noch auf dem Fußboden statt, in überfüllten Klassen und im Schichtbetrieb, oft weniger als vier Stunden am Tag. In besonders umkämpften Gebieten findet gar kein Unterreicht statt. Die meisten afghanische Lehrer sind oft schlecht ausgebildet und sie werden schlecht bezahlt. Rund 70 Prozent aller Lehramtsstudenten, die 2009 ihren Abschluss an der Universität für Bildung in Kabul gemacht haben, arbeiten heute für ausländische Hilfsorganisationen – nicht als Lehrer, sondern als Bürokraft, Übersetzer oder Fahrer, um besser zu verdienen.