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Bildung ist das Allerwichtigste

"Das ist der größte Erfolg, den Afghanistan und die afghanische Bevölkerung für sich vorweisen kann, dass es einen Bildungshunger gibt", sagt Rupert Neudeck. Bildung und eine verbesserte Sicherheitslage seien die Voraussetzung für die Stabilisierung des Landes.

Rupert Neudeck im Gespräch mit Christoph Heinemann | 28.01.2011
    Christoph Heinemann: Der Deutsche Bundestag wird heute voraussichtlich das Mandat für den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr verlängern. Was denken deutsche Soldaten über den angekündigten Abzug?

    "Wir machen auf jeden Fall Fortschritte, kann man auch als Resümee für die sechs Monate sagen, die wir jetzt hier waren. Aber ich denke nicht, dass es dieses Jahr noch nicht zum Abzug kommen sollte." – "Wir bleiben noch länger hier." – "Besonders was den Wiederaufbau angeht, was man hier so sieht; 2014, das sind drei Jahre, das werden dann sehr, sehr sportliche Jahre."

    Heinemann: Am Telefon ist jetzt Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisation "Grünhelme". Wir erreichen ihn in Westafghanistan in der Nähe von Herat. Guten Morgen!

    Rupert Neudeck: Guten Morgen, Herr Heinemann!

    Heinemann: Herr Neudeck, Verlängerung des Bundeswehrmandats. Ist das eine gute Nachricht für diejenigen, die sich um den zivilen Aufbau kümmern?

    Neudeck: Zunächst mal ja, denn es gibt gar keine Alternative. Man kann eine Armee, die sich so eingegraben hat in dem Land Afghanistan, gar nicht so schnell herausnehmen, und von daher würde ich das auch für Herat in der Provinz, in der ich gegenwärtig bin, im Westen Afghanistans so sagen. Es gibt gar keine Alternative gegenwärtig, denn die Armee ist noch zu schwach in Afghanistan. Die Polizei ist sehr viel stärker geworden in der letzten Zeit, aber auch das wird nicht reichen. Deshalb, glaube ich, muss man summa summarum sagen, das ist eine gute Nachricht.

    Heinemann: Muss der zivile Aufbau militärisch abgesichert werden?

    Neudeck: Ob das die richtige Formel ist, das weiß ich eigentlich nicht, denn wir haben ja die Situation, dass wir in den ersten Jahren des Aufbaus von Afghanistan, nach der Vertreibung der Taliban, eine viel bessere Situation hatten, was die Sicherheit angeht. Wir haben zum Beispiel hier im Norden und auch im Westen eine Menge an Schulen bauen können, ohne irgendein Problem zu haben mit der Sicherheit. Das heißt, die westliche Staatengemeinschaft muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie mit dem militärischen Aufbau eigentlich mehr Unsicherheit geschaffen hat als Sicherheit. Damit muss sie fertig werden. Sie hat zugleich bei der afghanischen Bevölkerung sehr an Einfluss und an Ansehen verloren, weil sie den Wahlfälscher Hamid Karsai zum Präsidenten gemacht hat. Das hat ihre Propaganda in Bezug auf Demokratie ganz entscheidend geschwächt. Ich habe hier Leute gehört, die haben gesagt, ich hasse die Demokratie, weil sie nicht mehr ertragen können, dass sie gewählt haben und der, der am meisten die Wahlen gefälscht hat, wird zum Präsidenten gemacht von der westlichen Staatengemeinschaft, an allererster Stelle vom amerikanischen Präsidenten.

    Heinemann: Herr Neudeck, ein Argument lautet, Mädchen können heute die Schule besuchen, während ihnen das unter den Taliban verwehrt war. Ist das kein Erfolg?

    Neudeck: Das ist ein ganz großer Erfolg. Der hat aber weniger mit dem militärischen Aufbau zu tun als mit der Tatsache, dass die Menschen in Afghanistan selbst diesen Fortschritt gewollt haben. Ich bin gestern in einem neuen Ort gewesen, der in der Pampa liegt, etwa 55 Kilometer von der Großstadt Herat. Da haben die Erwachsenen gesagt, wir wollen nicht nur eine Schule für unsere Mädchen und für unsere Jungen, sondern wir wollen auch, wir haben nur elf Mitglieder in der Dorfgemeinschaft und die können schreiben und die anderen sollen auch schreiben können, wir möchten gerne Abendschulen haben, wir möchten gerne Englischunterricht haben. Das ist der größte Erfolg, den Afghanistan und die afghanische Bevölkerung für sich vorweisen kann, dass es einen Bildungshunger gibt, und den müssten wir von deutscher Seite auch noch viel stärker bedienen. Es gibt noch Hunderte, Tausende von Schulen in den Dörfern, die gebaut werden sollten. Das halte ich für das Allerwichtigste für die nächsten zwölf bis 24 Monate, dass das geschieht.

    Heinemann: Aber Voraussetzung dafür, dass dieser Bildungshunger gestillt wird oder gestillt werden kann, war doch, dass die Taliban erst mal das Weite suchen mussten, denn die waren ja nun mit Bildungsthemen nicht so besonders eng.

    Neudeck: Ja. Da muss man nun wieder in Deutschland, auch in der deutschen Bundesregierung und auch im Deutschen Bundestag wissen, dass Afghanistan ein sehr vielfältiges Gebilde ist. Es gibt weite Teile des Landes, in denen kann man auch jetzt, heute und morgen, neue Schulen aufbauen, ohne sich um die Sicherheit zu kümmern. Wir haben in einem Distrikt, Tarock, hier in der Nähe von Herat, wir haben den praktisch schulfertig gemacht, da gibt es keine Sicherheitsprobleme. Da herrscht das Recht der Afghanen und darauf kann man sich verlassen. Ich kann da auch wohnen, ich kann da auch schlafen. Wir haben hier zwei neue Mitarbeiter wieder, die bestätigt haben, dass sie dort wohnen können. Es gibt andere Gebiete, in denen kann man das nicht so tun, und dafür ist natürlich die Frage der Sicherheit und Stabilisierung des Landes die Voraussetzung. Aber die Italiener, 3.200 Karabinieri, sitzen hier in einer Riesenfestung in der Nähe des Flughafens. Die machen dort nicht die Stabilisierung, die sorgen nicht dafür, dass dieses Gebiet freigekämpft wird. Deshalb ist das alles ein großer Widerspruch, in dem wir uns hier befinden.

    Heinemann: Rupert Neudeck, der Gründer der Hilfsorganisation "Grünhelme", direkt aus dem afghanischen Westen. In der Nähe von Herat haben wir Sie erreicht. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.