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Bildung in Deutschland bleibt hinter Erwartungen zurück

Friedbert Meurer: Auch im Jahr 2004 ist Deutschland in der Bildung Mittelmaß geblieben. Das besagt jedenfalls die zweite PISA-Studie. In gewisser Weise scheint das wie mit den Eltern zu sein, die ihr Kind in Nachhilfestunden pauken lassen und die Noten werden trotzdem nicht besser. Aber was nicht ist, das kann ja noch werden. Bildung ist nämlich weiter ein großes Thema, die Bundesregierung setzt auf die Einführung von Ganztagsschulen und die Union will ihre Gestaltungsmacht in den Ländern nutzen, um die Schulen zu stärken. Am Telefon in Paris begrüße ich nun den PISA-Bildungskoordinator der OECD Andreas Schleicher. Herr Schleicher, was waren denn für Deutschland die wichtigsten Erkenntnisse von PISA II?

Moderation: Friedbert Meurer |
    Andreas Schleicher: Zunächst einmal hat sich der Leistungsstand insgesamt leicht verbessert, das ist die gute Nachricht. Auf der anderen Seite bleiben die Leistungen für Deutschland aber noch weit unter dem Erwartungswert, also dem Wert, den man eigentlich zugrundelegen müsste, wenn man die Rahmenbedingungen in Deutschland betrachtet.

    Meurer: Warum ist der Leistungsstand leicht besser geworden?

    Schleicher: Es ist sehr schwer zu beurteilen, es ist sicherlich eine größere Bereitschaft im Bildungssystem in Bildung zu investieren. Das merken wir an den Antworten der Schüler, auch der Schulleiter. Bildung ist zum Thema der Beteiligten geworden und ich glaube, das ist auch eine ganz wichtige Voraussetzung, um Leistung zu verbessern.

    Meurer: Sehen Sie darüber hinaus auch konkrete sinnvolle Ansätze wie zum Beispiel die Ganztagsschulen, die helfen können, unser Bildungssystem zu verbessern.

    Schleicher: Ich glaube, in eine ganze Reihe von bildungspolitischen Themen ist Bewegung gekommen, die Bedeutung von frühkindlicher Bildung und auch, dass man diese zum wirklich integralen Bestandteil des Bildungssystems macht, ist ein ganz wichtiger Ansatz. Ganztagsschulen sicherlich ein ganz wichtiges Thema, Schaffung von gemeinsamen Bildungsstandards, das sind alles Bereiche, wo Bewegung in die Diskussion gekommen ist.

    Meurer: Warum sind gemeinsame Bildungsstandards wichtig?

    Schleicher: Es ist wichtig, dass Schulen und Lehrer Maßstäbe für den Erfolg von Bildung haben und es geht ja gar nicht um die Standardisierung von Schülerleistung, es geht wirklich darum, dass wir eigentlich nur dann besser werden können, wenn wir auch wissen, wo wir hinwollen, Ziele müssen verbindlich definiert und festgelegt werden, das ist schon eine wichtige Voraussetzung.

    Meurer: Vor allen Dingen eher konservative Bildungspolitiker regen sich ja darüber auf, dass Sie das dreigliedrige Schulsystem abschaffen wollten, dass zur Zeit ja einteilt nach Gymnasium, Realschule und Hauptschule. Wollen Sie wirklich die Einheitsschule?

    Schleicher: Ich denke, mit dem Begriff Einheitsschule muss man sehr vorsichtig sein. Die deutsche Gesamtschule kann sicherlich nicht das Ziel sein. Länder wie Finnland haben aber Bildungssysteme, in denen wesentlich stärker individualisiert wird. Dort wird der Schüler im Grunde nicht nach bestimmten Schulstrukturen und -formen eingeteilt, sondern dort stehen Lehrer und Schulen in der Verantwortung, konstruktiv mit der Verschiedenheit der Schüler umzugehen, sie müssen lernen, zu individualisieren. Die Antworten auf die Verschiedenheit junger Menschen nicht mit starren Selektionsmechanismen, sondern bieten den Menschen ein offenes und integratives Lernangebot an, mit dem man unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen auch wirklich gerecht wird.

    In dem Sinne ist die finnische, japanische oder kanadische Schule sogar Urbild der Liberalität und nicht die Einheitsschule im Sinne "Für alle das Gleiche", sondern eine Schule, die Lernen individualisiert. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiges Ziel. Wenn man Deutschland vor diesem Hintergrund betrachtet, ist es von dem Ziel der Individualisierung des Lernens sehr weit entfernt, und das lässt sich in dem gegliederten Bildungssystem auch nur sehr schwer verwirklichen.

    Meurer: Wie gut stehen die Chancen, dass Deutschland demnächst nicht mehr auf Platz 20 der Hitliste der Industriestaaten steht, sondern unter den ersten zehn?

    Schleicher: Ich glaube, das ist zu erreichen, das genau zeigt uns eigentlich die PISA-Studie. Wir sollten diese auch nicht als lange Liste von Mängeln des Bildungssystems in Deutschland sehen, sondern als Sammlung faszinierender Beispiele, wie man im Grunde auf der einen Seite gute Leistung und auf der anderen eine ausgewogene Verteilung von Bildungschancen erreichen kann. Ich glaube aber, dass das mit einer Binnenoptimierung, also einer Optimierung des bestehenden Bildungssystems in dem Sinne, wir machen alles ein bisschen schneller und ein bisschen besser, nicht zu verwirklichen ist. Ich glaube, man muss, wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen auch, dazu über eine grundlegende Transformation des Bildungssystems selber nachdenken.

    Meurer: Wann wird die nächste PISAstudie kommen?

    Schleicher: 2006.

    Meurer: Wird sie einen besonderen Schwerpunkt legen?

    Schleicher: Im Jahre 2006 wird der Schwerpunkt auf den Naturwissenschaften liegen; es geht uns dabei aber nicht nur um das Wissen selber, sondern auch um die Einstellung junger Menschen zu den Naturwissenschaften. Inwieweit sehen junge Menschen Naturwissenschaften als Chance und Perspektive, die ihnen eigene Lebens- und Berufschancen eröffnet? Ein ganz wichtiger Aspekt, dem wir die 2006-Studie widmen werden.