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"Bildung ist erheblich mehr als das, was PISA misst"

Literarisches Verständnis, Wissen in den Bereichen Geschichte, Geografie, Religionen, ästhetische Bildung und die fremdsprachliche Bildung: keiner dieser Bereiche wird von PISA erfasst, kritisiert Josef Kraus. "Kleine positive Aspekte" habe der Test jedoch.

07.12.2010
    Christoph Schmitz: Seit dem Jahr 2000 geht es in kleinen Schritten bergauf mit PISA in Deutschland, mit dem, was wir unseren Kindern an kulturellen Fertigkeiten vermitteln. Kulturelle Fertigkeiten? – Lesen, Rechnen, Naturwissenschaften. – Gibt es da nicht mehr? Wie sieht es mit der Allgemeinbildung, mit Musik, Theater, Kunst aus? – Die künstlerischen Fächer leiden unter den PISA-Untersuchungen, kritisiert der Deutsche Kulturrat anlässlich der neuen Studie. Weiter: "Nur die vermeintlich messbaren harten Schulfächer werden geprüft. Künstlerische Fähigkeiten erscheinen oft nur noch als ein entbehrlicher Luxus, der eine Schulkarriere behindert." So Deutschlands größter Kulturverband.
    Stimmen Sie mit dieser Kritik überein? – Das habe ich kurz vor der Sendung den Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes gefragt, Josef Kraus.

    Josef Kraus: Ich stimme damit überein. Es ist mir sehr sympathisch, was hier vom Kulturrat gesagt wird. Es ist auch meine Kritik seit Jahren und die Kritik vieler, vieler Lehrer in Deutschland, dass man einfach zunehmend den Eindruck hat, die Politik guckt monomanisch auf Ranking-Plätze und guckt auf das, was sich messen lässt, und das, was verwertbar ist, und übersieht dabei völlig, dass PISA natürlich nur einen ganz geringen Ausschnitt aus dem schulischen Lerngeschehen misst und testet, und da habe ich tatsächlich ein bisschen den Eindruck, da gibt es auch Belege dafür, dass einfach weite Bereiche, die über PISA hinausgehen, damit in der öffentlichen Debatte und auch in der realen Schulpolitik etwas hinten herunterfallen.

    Schmitz: Könnten das Bereiche sein, in denen Deutschland, das deutsche Schulwesen möglicherweise besonders stark ist, was aber dann sich nicht niederschlägt in der Studie?

    Kraus: Also ich glaube, dass es ein großer Vorzug des deutschen Schulwesens ist, dass man aus der deutschen Philosophietradition heraus, 200 Jahre alt, deutscher Bildungsidealismus, doch sehr Wert darauf legt, dass eine breite Bildung stattfindet, dass Persönlichkeitsbildung stattfindet, dass über das Nützliche hinaus etwas auch vermittelt wird, und das sind Dinge, die mit PISA nicht gemessen werden. Ich nenne mal ein paar Bereiche, die mit PISA eben nicht getestet werden. Es wird nicht getestet der Bereich des literarischen Verständnisses, des Wissens in den Bereichen Geschichte, Geografie, Religionen, der ganze Bereich der ästhetischen Bildung natürlich nicht mit erfasst, wird übrigens auch der Bereich der fremdsprachlichen Bildung nicht erfasst. Also ich wehre mich ein bisschen dagegen, auch wenn es hoffähig geworden ist, zu sagen, Bildung ist das, was PISA misst. Nein! Bildung ist erheblich mehr als das, was PISA misst.

    Schmitz: Hat die PISA-Studie in Deutschland nicht doch bewirkt, dass wieder intensiver über die Qualität der Schulbildung auch im allgemeinen nachgedacht wird und Verbesserungen praktisch umgesetzt werden?

    Kraus: Drei kleine positive Aspekte hat PISA. Erstens: Unsere Schüler wissen jetzt, wie man so einen Test ausfüllt. Zweitens hat das Ganze einen Riesenschub für die Bildungsforschung gebracht. Und drittens hat es natürlich das Thema Bildung stärker in die öffentlichen Schlagzeilen gebracht. Deutsche Öffentlichkeit und deutsche Schulpolitik hat es, um es mal ein bisschen polemisch zu sagen, gerne ein bisschen einfach: am liebsten so monokausal, da dreht man an der Stellschraube und dann ist man gleich wieder 5 oder 7 Ranking-Plätze besser. Es gibt aber Anzeichen dafür, dass einfach das Persönlichkeitsbild und dass das Kreative ein bisschen herunterfällt, weil es sich eben einer Testung, einer Messung unterzieht. Wir haben Bundesländer, wo ernsthaft darüber geredet wird, ob man noch Musikunterricht, ob man noch Sportunterricht machen soll, wo das Ganze ja doch auch auf der privaten Ebene über Musikschulen und Sportvereine stattfinden kann. Nein, das wäre ein verarmtes Verständnis von Bildung, wenn wir das über Bord schmeißen würden. Man muss einfach auch klipp und klar mal sagen, dass die kulturellen Fächer letztendlich natürlich auch einen hohen Nützlichkeitseffekt haben dann für die originär nützlichen Fächer.

    Schmitz: "Der PISA-Schwindel – Unsere Kinder sind besser als ihr Ruf", unter diesem Titel haben Sie, Herr Kraus, vor wenigen Jahren ein Buch veröffentlicht. Welche Hauptkritik darin gilt noch heute und was hat sich sozusagen erledigt?

    Kraus: Ja, das Buch habe ich 2005 geschrieben, im Vorfeld der dritten PISA-Studie, und der Titel sollte es eigentlich schon zum Ausdruck bringen. Ich meine hier Schwindel in zweifacher Hinsicht, so wie man das ja auch vom Sprachverständnis her versteht. Schwindel in dem Sinne: man ist ein bisschen berauscht. Es ist typisch Deutsch: man will Weltmeister sein, und wenn man das nicht ist, dann möchte man wenigstens Weltmeister im Negativen sein. Dieser Schwindel aber in zweiter Hinsicht bedeutet auch: es wird natürlich mit PISA-Daten unheimlich viel in der Interpretation in der öffentlichen Diskussion geflunkert. Ich würde mir wünschen, dass wir PISA so annehmen und so diskutieren, so rational und so distanziert auch, wie viele andere Nationen das tun: interessantes Detail, eine interessante Diagnose, aber deswegen muss man nicht gleich in kollektive nationale Depression verfallen.

    Schmitz: ... , sagt Josef Kraus, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, über PISA und Kultur.

    "Bildung ist nicht rein staatlich" - "taz"-Redakteur Füller analysiert die PISA-Ergebnisse

    Testen, was Schüler können - Die Pisa-Studie 2009

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