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Bildungsdiskussion
"In Deutschland ist unwahrscheinlich viel passiert"

Erbost zeigte sich Jürgen Böhm, Vorsitzender des Deutschen Realschullehrerverbands, über die Aussagen des Chancenspiegels 2017. Die Bertelsmann-Stiftung habe einmal mehr nur den Weg zum Abitur in den Blick genommen, sagte Böhm im DLF. Auch mit einem Haupt- oder Realschulabschluss könne man sehr gute Erfolge erzielen.

Jürgen Böhm im Gespräch mit Markus Dichmann | 02.03.2017
    Zwei Kinder beugen sich über einen Schreibtisch und notieren etwas, eine Lehrerin steht hinter ihnen und beugt sich über sie.
    Gerade bei der Förderung von Migranten habe das deutsche Bildungssystem erstaunlich viel geleistet, unterstreicht Böhm. (dpa/Hendrik Schmidt)
    Markus Dichmann: Die deutsche Bildungslandschaft macht Fortschritte: Das war gestern vielleicht das Kernergebnis des Chancenspiegels 2017, der regelmäßig von unter anderem der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht wird. Und zwar, weil immer mehr Kinder in Deutschland eine Ganztagsschule besuchen würden – das war ein Ergebnis –, und außerdem sei auch die Zahl der Abiturienten in ganz Deutschland gestiegen. Bei allen Schwierigkeiten, was zum Beispiel die Chancenungleichheit für Kinder mit Migrationshintergrund angeht: Im Verhältnis sei das also ein Erfolg, sei in diesem Bereich vieles besser geworden. Wenn man sich durchliest, was zu diesen Ergebnissen jetzt Jürgen Böhm zu schreiben hat, dann könnte man den Eindruck bekommen, ihm sei die Zornesröte ins Gesicht gestiegen. Jürgen Böhm ist Vorsitzender des Deutschen Realschullehrerverbands und jetzt zu Gast in der Sendung. Hallo, Herr Böhm!
    "Nicht alles einseitig an einem Prozentsatz des Abiturs messen"
    Jürgen Böhm: Grüße Sie, hallo!
    Dichmann: Sie nennen den Chancenspiegel ignorant und einseitig. Warum?
    Böhm: Weil ich denke, dass Bertelsmann erneut nur einen Weg der Bildung in den Blick genommen hat, nämlich den Weg zum Abitur. Und ich glaube, dass wir viele Menschen in diesem Land haben, die sehr zufrieden sind und auch einen sehr erfolgreichen Bildungsweg hinter sich gebracht haben, in dem sie eventuell nur einen Hauptschulabschluss oder einen Realschulabschluss haben und mit diesem Realschulabschluss oder Hauptschulabschluss ein sehr erfülltes Berufsleben ausfüllen können und auch sehr zufrieden sind. Und ich denke, dass man darstellen sollte, dass wir in Deutschland sehr viele Bildungswege vorhalten, die durchaus sehr erfolgreich sind und auch Deutschland zu dem gemacht haben und zu dem machen, was heute Deutschland ist.
    Dichmann: Was sind denn aus Ihrer Sicht die Indikatoren, die vergessen wurden, um den Bildungserfolg zu bemessen?
    Böhm: Ich denke, der ganze Bereich der beruflichen Bildung wurde viel zu sparsam betrachtet. Ich denke, wir haben sehr viele Wege, über berufliche Bildung in Deutschland Erfolg zu haben. Man kann mit einem Hauptschulabschluss, mit einem Realschulabschluss selbst den Weg über eine berufliche Ausbildung bis hin zum Abitur, zur Hochschule schaffen, und wir haben sehr viele Menschen, die zum Beispiel im mittelständischen Bereich tätig sind, die durchaus im Handwerk mit einem mittleren Bildungsabschluss hervorragende Leistungen erbringen. Und ich denke, man kann nicht alles einseitig an einem Prozentsatz des Abiturs messen. Wenn man den Blick zum Beispiel auf Frankreich schweifen lässt, dort haben 80 Prozent der Menschen ein Abitur oder eine Art Abitur und ich weiß nicht, ob dort die Jugendarbeitslosigkeit überhaupt mit der deutschen vergleichbar ist, wenn man dort sagt, dass da 20, 30 Prozent der jungen Menschen keine Tätigkeit finden. Dann muss man mal die Systeme vergleichen. Und das hat mich etwas erbost.
    Dichmann: Würde denn aber das Fazit aus Ihrer Sicht gleich ausfallen? Das Fazit des Chancenspiegels war ja schon: In Deutschland, in der deutschen Bildungslandschaft sind Fortschritte zu beobachten. Würden Sie das unterschreiben?
    Böhm: Ich glaube, dass sich die deutsche Bildungslandschaft in den letzten Jahren entwickelt hat, aber wir haben auch gewisse Entwicklungen, die nicht alles zum Besseren verändert haben. Ich denke, dass wir viele Schulstrukturreformen in Deutschland durchgeführt haben, die sehr unnötig waren, und …
    Rahmenbedingungen der Kollegen vor Ort verbessern
    Dichmann: Nennen Sie mal eine?
    Böhm: Also, ich denke, dass man mit der Beseitigung von erfolgreichen Realschulen zum Beispiel im Norden der Republik nicht unbedingt immer etwas zur Qualität der Abschlüsse beigetragen hat. Also, ich denke, dass man nicht immer nur Veränderungen bewältigen sollte, man sollte auch in die einzelnen Schulsysteme hineininvestieren. Und ich habe es ja auch in meiner Presseerklärung geschrieben: Es wäre an der Zeit, die Rahmenbedingungen für die Kolleginnen und Kollegen vor Ort zu verbessern und nicht permanent sinnlose Schulstrukturveränderungen durchzuführen.
    Dichmann: Jetzt schreiben Sie außerdem, Herr Böhm: "Wer Deutschland eine Benachteiligung junger Menschen mit Migrationshintergrund unterstellt, der ignoriert die Vielzahl der strukturellen und organisatorischen Maßnahmen, die in den vergangenen Jahren ergriffen wurden, um jungen Menschen, die in unser Land kommen, beste Chancen der Integration und Bildung zu bieten." – Kann man das aber so, Herr Böhm, stehenlassen, wenn die Quote der Schulabbrecher, das ist noch ein Ergebnis aus dem Chancenspiegel, unter ausländischen Schülern doppelt so hoch ist wie die der Gesamtschülerschaft?
    Böhm: Also, Fakt ist, dass in Deutschland unwahrscheinlich viel passiert ist, was die Förderung von Migrantinnen und Migranten betrifft. Und ich glaube, dieser Chancenspiegel setzt zwar 2014 an oder hört 2014 auf, aber wenn man sich allein die Jahre nach 2014 anschaut, was wir durch die Flüchtlingswelle in Deutschland für immense Maßnahmen vollzogen haben, dann ist das einfach nicht ganz fair, wenn man Deutschland jetzt vorwirft, es passiert zu wenig. Das ist mir zu pauschal dargestellt und deswegen habe ich das so benannt. Und ich glaube auch, dass in den nächsten Jahren die Erfolge der Maßnahmen, die jetzt angesetzt werden seit 2015, noch mehr zum Tragen kommen. Und ich denke, da muss sich Deutschland nichts vorwerfen lassen und wir haben dort sehr, sehr gute Erfolge vorzuweisen.
    "Eben nicht in Einheitsschulsysteme investieren"
    Dichmann: Und nebenbei ist seit 2002 die Zahl der ausländischen Schulabbrecher ebenfalls gesunken, sogar deutlich in absoluten Zahlen und auch im Verhältnis.
    Böhm: Ja.
    Dichmann: Gestern kamen außerdem aber auch noch Forderungen auf und auch heute unter anderem von der Caritas und von der Grünen-Fraktion im Bundestag, dieses Problem der Schulabbrecher und auch der Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund noch mal gezielt anzugehen, im Zweifel sogar auch mit Bundesmitteln, wo wir ja auch über eine Änderung des Kooperationsverbotes nachdenken müssten. Was sagen Sie dazu?
    Böhm: Ich denke, dass die föderalen Systeme der einzelnen Bundesländer genügend Kapazitäten zur Verfügung haben, hier etwas zu verändern. Und ich sage es noch mal: Man muss vor Ort in den einzelnen Ländern die Rahmenbedingungen verändern, verbessern für die Kolleginnen und Kollegen, differenzierter Bildungsangebote vorhalten, eben nicht in Einheitsschulsysteme investieren, sondern differenziert gerade mit ausländischen Jugendlichen arbeiten, um dort einen Qualitätsvorsprung, einen Qualitätsfortschritt zu erzeugen. Und ich glaube, dass hier differenzierte Schularten – Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien – hervorragende Arbeit leisten.
    Dichmann: Also, Bildung bleibt Ländersache?
    Böhm: Natürlich.
    Dichmann: Sagt Jürgen Böhm, Vorsitzender des deutschen Realschulverbands, hier in "Campus und Karriere". Ich danke Ihnen, Herr Böhm!
    Böhm: Ich danke Ihnen, danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.