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Bildungspolitiker Glotz warnt vor vorschnellen Maßnahmen

Bettina Klein: Nachdem sich die ersten Schrecken über die PISA-Ergebnisse gelegt haben, geraten, ähnlich wie bei der ersten Studie, der Test selbst und die Aussagefähigkeit ins Blickfeld. Nicht zu Unrecht, denn bevor weitere Konsequenzen gezogen werden, sollte klar sein, woraus wir eigentlich Konsequenzen ziehen wollen. Darüber möchte ich sprechen mit Professor Peter Glotz, langjähriger SPD-Bildungspolitiker, jetzt am Institut für Medien und Kommunikationsmanagement der Hochschule St. Gallen. Herr Glotz, die PISA-Fertigkeiten sind eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für Bildung, heißt es. Umgekehrt kann man eine hohe Punktzahl bekommen und trotzdem nicht zuverlässig zu den Gescheitesten gehören. Das sind Einwände, die auch jetzt wieder aktuell gegen PISA erhoben werden. Sollten wir die ernst nehmen?

    Peter Glotz: Ja, ich glaube schon. Das, was gestern veröffentlicht worden ist in der Süddeutschen, sind eine ganze Reihe von Argumenten, die jedenfalls einer ernsthaften Debatte bedürfen. Ich bin kein Mathematikdidaktiker, um ein Beispiel zu nennen, aber da muss man genau hinschauen, ob es richtig ist, was zum Beispiel ein Mathematikdidaktiker sagt, dass man eigentlich gar nicht genau weiß, was diese Tests im Einzelnen für mathematische Qualifikationen messen. Also diese didaktische Frage verdient mit Sicherheit eine Diskussion.

    Klein: Eine technokratischer Begriff von Bildung werde hier abgefragt, so kann man hören; der sei praxis- und berufsweltbezogen. Es gibt aber auch einen anderen Begriff von Bildung, und der sei menschenbildend, er gehe mit einer Aufgeschlossenheit für Werte einher, die sich in der heutigen Welt eben nicht mehr so schnell in einen Arbeitsplatz oder in eine Lehrstelle umwandeln lassen. Trägt die PISA-Studie dazu bei, uns von einem klassischen Bildungsansatz zu entfernen?

    Glotz: Nein, also diese Debatte, glaube ich, führt nicht sehr viel weiter. Sie müssen ja bestimmte Berufsqualifikationen in der Welt, die Menschen befähigende Qualifikationen Weltbewältigung beibringen, auch wenn Sie einen werthaltigen Bildungsbegriff haben. Also das ist eine eher ideologische Diskussion. Aber die Argumente von Professor Meyerhöfer, der ganz konkret sagt, was misst das eigentlich in der Mathematik? Das sind Argumente, die man ernst nehmen muss. Und nun will nicht noch etwas anderes sagen: Diese Untersuchungen sind relativ kurz hintereinander. Da kommen Argumente auf, die auf die Dauer die Leute und die Politik fürchterlich ärgerlich machen werden, denn wissen Sie, es lässt sich nicht bestreiten, dass die Kultusministerkonferenz eine Reihe von Dingen wirklich getan hat. Das setzt sich nur in einem Land von 82 Millionen Menschen nicht so schnell um, und da kommt oft sehr kurzfristig das Beispiel Finnland, und in Finnland herrschen nun wirklich andere Bedingungen als in Deutschland. Wenn dann alle drei Jahre plötzlich ein junger Mann, der da bei der OECD das Ganze koordiniert, am Fernsehschirm sitzt und eigentlich vorgibt, was die deutsche Politik, sprich 16 Kultusminister, die Bundesbildungsministerin und andere machen sollen, dann kann das nicht gut gehen.

    Klein: Was meinen Sie damit genau?

    Glotz: Ja, damit meine ich genau, dass der Herr Schleicher sich da hinsetzt und sagt, nun muss man mal das dreigliedrige Schulsystem abschaffen, und jetzt muss man dieses und jenes machen - das sind ja alles politische Entscheidungen -, und das dann immer nach drei Jahren oder einer relativ kurzen Frist. Nun haben die Politiker schon reagiert, aber natürlich kann das noch nicht alles zu grandiosen Ergebnissen geführt haben. Dazu müssen Sie bitte doch eins bedenken, eine der entscheidenden Fragen, die jetzt heftig diskutiert wird, sind die so genannten Parallelgesellschaften, das heißt die Tatsache, dass wir ein System haben, das ja schwachsinnig genug ist, dass wir Kindergartengebühren verlangen, dass viele Eltern, gerade von Einwanderern, ihre Kinder deswegen nicht in Kindergärten schicken, dass die Kinder also nicht Deutsch können, wenn sie in die Schule kommen, dass sich also die Schulen mühsam kümmern müssen, dass Kinder Deutsch lernen. Das ist eines der Hauptprobleme auf diesem Feld Integration, Hauptschule usw. Das können die Bildungspolitiker gar nicht bestimmen. Das liegt in den Fehlern der Migrationspolitik. Da brauchen wir schon eine etwas weniger technokratische und eine etwas mehr politische Diskussion.

    Klein: Lassen Sie uns noch beim geforderten Umbau des Schulsystems bleiben. Auch die Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn hat gestern klipp und klar gesagt, sie glaube, dass die Hauptschule keine Zukunft habe. Folgen Sie ihr da nicht in den Argumenten?

    Glotz: Ich glaube schon, dass es dafür gute Argumente gibt. Das ist auch nicht sehr einfach, denn wenn Sie von heute auf morgen die Hauptschule abschaffen, müssen Sie sich überlegen, wie Sie das alles organisieren und wie Sie dann ein zweigliedriges System organisieren, denn bisher hat in vielen Städten die Hauptschule natürlich nach wie vor eine wichtige Funktion. Aber im Prinzip ist die Gefahr, dass die Hauptschule Restschule wird. Sie kennen das, dem wird zwar derzeit an der einen oder anderen Stelle widersprochen, aber ich glaube schon, dass es dafür sehr gute Argumente gibt.

    Klein: Geht es eigentlich überhaupt, in der Breite integrieren, schwächere Schüler einbeziehen und gleichzeitig die überdurchschnittlich Begabten ihre eigene Brillanz entwickeln zu lassen? Müssen wir vielleicht eingestehen, dass gute PISA-Noten nicht unbedingt heißt, dass man alles gleichzeitig hinbekommen kann?

    Glotz: Ja. Davon bin ich fest überzeugt. Das ist in der Tat sehr kompliziert, weil es auch ungeheuer aufwändig ist, also es kostet viel Geld. Das mag im Prinzip schon machbar sein, aber die Gesamtschule ist unter anderem deshalb beispielsweise halb gescheitert, weil man nicht genug Geld hineingesteckt hat. Wissen Sie, diese Grundidee, die Carl-Heinz Evers in meiner Jugend hatte oder übernommen hatte aus skandinavischen und anderen Ländern, dass man die Kinder lange gemeinsam erzieht und dann aber in einer Schule unterschiedliche Züge macht für besonders Begabte und weniger Begabte und dass man das dann auch nach unterschiedlichen Fächern differenziert, diese Idee ist sicher nicht falsch, nur sie ist deshalb nicht realisiert worden, weil die Gesamtschulen zunächst einmal in den Problembezirken der Städte entstanden, bei, ich sage mal, in der Arbeiterschaft. Das Bürgertum war scharf darauf, seine Kinder auf feine Gymnasien zu schicken und hat das dann letztlich auch durchgesetzt, und dann war aber in diesen Arbeitervierteln nicht genug Geld da, um die Schulen richtig gut auszustatten. Dann hatten die Gesamtschulen die viel größere Last, aber das geringere Geld, und ich meine, dass das nicht funktionieren kann, das kann man sich an den Fingern abzählen.

    Klein: Vielen Dank für das Gespräch.