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Billiglöhne durch EU-Osterweiterung?

Durak: Es geht um Arbeitsplätze. Verdrängen die neuen EU-Bürger hierzulande Deutsche, später dann? Von Lohn-Dumping am Bau allein weiß der Vorsitzende der IG Bauen-Agrar-Umwelt, Klaus Wiesehügel, ein Lied zu singen, seit langem schon. Ich habe mit ihm darüber gesprochen und ihn gefragt, für wie groß er denn das Risiko hält, dass deutsche Arbeitnehmer durch neue EU-Bürger später ihre Beschäftigung verlieren?

    Wiesehügel: Um es gleich mal deutlich zu machen: Ich habe überhaupt nichts gegen Zuwanderung. Wir würden uns auch keine Sorgen machen, würde es sich nur um Zuwanderung handeln. Das wissen wir: Wenn Kolleginnen und Kollegen aus anderen Ländern zuwandern, also Migranten, die dann hier Wohnungen nehmen und hier leben wollen, die werden gar nicht anders können, als zu den Bedingungen wie ihre Nachbarn dann auch zu arbeiten, wenn sie ihren Lebensunterhalt davon bezahlen müssen. Unser Problem sind die Pendler, die für einige Wochen, einige Monate hier arbeiten und dann wieder nach Hause fahren. Die sind bereit, zu Löhnen zu arbeiten, für die hier keiner arbeiten kann. Dann führt dies zu sogenannten Arbeitsplatzverdrängungen.

    Durak: Die Zuwanderer, die Sie beschreiben, würden ja noch kommen. Die Pendler, die Sie beschreiben, haben wir schon. Was ist denn aber mit den neuen EU-Bürgern, die sozusagen an der Tür stehen?

    Wiesehügel: Wir haben Pendler, aber wir würden dann noch erheblich mehr Pendler haben. Das ist die Situation, die ich befürchte. Nahezu unbegrenzt könnte jeder der 70 Millionen neuen EU-Bürger in die Bundesrepublik Deutschland kommen und mit den Unternehmen, die sie dann hier herüberbringen, hier zu Bedingungen arbeiten, wo das kein Arbeitnehmer in diesem Lande aushalten kann beziehungsweise sich und seine Kinder überhaupt ernähren und kleiden und wohnen kann. Das führt dann zu einer Situation, die riesen Arbeitslosigkeit bei uns produziert. Dann werden wir natürlich sagen, wer hat uns das eingebrockt, bekommen riesen Probleme. Ich plädiere dafür, die Probleme vorher zu lösen.

    Durak: Das heißt Sie sind gegen die EU-Osterweiterung beziehungsweise für längere Wartefristen?

    Wiesehügel: Nein, nein. Ich bin schon für die EU-Osterweiterung. Die brauchen wir dringend. Die brauchen wir schon für ein geeintes Europa. Die brauchen wir für einen dauerhaften Frieden in Europa. Das ist unumgänglich und ich glaube auch, dass wir wirtschaftlich gar nicht darum herum können, ein gemeinsames Europa einzurichten. Aber wir sind lange noch nicht so weit, dass diese EU-Osterweiterung sozial gestaltet wird. Die Kluft zwischen unseren östlichen Nachbarn ist riesen groß, so dass wir Anpassungszeiten brauchen, und dafür brauchen wir Fristen.

    Durak: Das ist aber wie den Mund spitzen und doch nicht pfeifen, Herr Wiesehügel. Wie lange sollen denn die Osteuropäer warten, bis sie hier arbeiten dürfen?

    Wiesehügel: Doch so lange wie die Südwesteuropäer auch gewartet haben. Was ist denn daran eigentlich so ungewöhnlich? Wir haben für Spanien und Portugal zehn Jahre Übergangsfristen damals ohne großes Trara gemacht. Das hat hervorragend geklappt. Die Integration hat geklappt. Am Ende dieses Zehn-Jahres-Prozesses, sogar früher als erwartet, waren Spanien und auch Portugal auf einem Niveau, wo man sich durchaus keine großen Sorgen machen brauchte. Ich erwarte, wenn die Gewerkschaftsstrukturen und die Tarifstruktur in einer gemeinsamen EU, sehr stark auch in Polen, in Tschechien und in Ungarn wirkt, dass wir dann nicht mehr diese gewaltige Differenz haben. Jetzt haben wir Stundenlöhne, in Polen 2,50 DM und in Westdeutschland 25 Mark. Können Sie sich vorstellen, wie denn noch irgend Jemand hier Arbeit haben kann und wie er sich noch erfolgreich am Arbeitsplatz verdingen will für einen Stundenlohn von 2,50 DM, zu dem jemand anderes bereit ist zu arbeiten.

    Durak: Oder der Unternehmer ist so patriotisch, dass er die Billiglöhne nicht zahlt?

    Wiesehügel: Es gibt keine patriotischen Unternehmer. Es gibt nur Unternehmer, die auf die Rendite ihres Unternehmens achten müssen. Das ist deren Funktion.

    Durak: Herr Wiesehügel, wurden die zehn Jahre, die Sie angesprochen hatten, voll ausgeschöpft?

    Wiesehügel: Nein. In Spanien wurden sie nicht voll ausgeschöpft, weil man festgestellt hat, dass die Spanier relativ wenig von den Wanderungsmöglichkeiten Gebrauch machen. Das hängt auch so ein bisschen mit den stolzen Spaniern zusammen, die gesagt haben, wir nutzen viel, viel mehr die Möglichkeiten der EU und schöpfen an Entwicklungsprojekten ab, was wir können, um uns fit zu machen. Das haben sie auch sehr gut getan. Ich befürchte, dass das bei der EU-Osterweiterung etwas anders aussieht, weil auch traditionell das Wandern in den Westen - das können wir über die letzten 150 Jahre gut verfolgen - nichts Ungewöhnliches, sondern eher etwas Normales ist.

    Durak: Über den Stolz der Polen wurden auch schon Lieder geschrieben, Herr Wiesehügel. Ist es denn nicht so, dass EU-Bürger zu gleichen Preisen sozusagen eingestellt werden müssen?

    Wiesehügel: Ich würde das mit dem Stolz jetzt nicht so falsch interpretieren. Es ist in der Tat so, dass wir im Ruhrgebiet heute noch sehr, sehr viele Menschen antreffen, deren Vorfahren vor nicht kurzer Zeit aus Polen eingewandert sind. Das war und ist auch völlig okay. Ich habe ja gesagt, ich habe gegen Zuwanderung überhaupt nichts einzuwenden und ich weiß, dass wir in manchen Bereichen uns sogar freuen dürfen über Kolleginnen und Kollegen, die zu uns kommen und mit uns gemeinsam arbeiten. Wo ich was gegen habe ist, dass jemand kommt, hier die Löhne kaputt macht, sich an keinen Tarifvertrag hält, über irgendwelche illegalen Schleuser sich hier beschäftigen lässt und dann am Wochenende wieder nach Hause fährt und der hier betroffene Arbeitnehmer guckt in die Röhre. Dagegen wehre ich mich!

    Durak: Also was muss her, Herr Wiesehügel?

    Wiesehügel: Wir brauchen eine Übergangsfrist für die Dienstleistungsfreiheit. Wir haben durch den EU-Ministerrat angekündigt bekommen, dass die Übergangsfrist nur für die Arbeitnehmerfreizügigkeit sein soll. Das ist der falsche Weg. Wir brauchen eine Übergangsfrist für die Dienstleistungsfreizügigkeit, weil nämlich dann nicht die Möglichkeit besteht, als Scheinselbständiger in den westlichen EU-Ländern zu arbeiten.

    Durak: Noch einmal: Dienstleistungsfreizügigkeit, was betrifft das alles?

    Wiesehügel: Das betrifft die Möglichkeit, mit einem Unternehmen als Werkvertragsunternehmer nach zum Beispiel Deutschland zu kommen und zu sagen, ich bin Unternehmer und ich biete meine Dienstleistung an und bringe meine Arbeitnehmer mit. Dann werden die Arbeitnehmer nicht selber kommen und bei hiesigen Unternehmen anfangen, was eigentlich ein normaler Vorgang wäre, sondern die werden praktisch nur über Scheinfirmen, die im Grunde gar keine eigenen Werkleistungen anbringen, sondern deren einzige Funktion ist, Arbeitnehmer zu vermitteln, zu uns kommen und bei uns eingesetzt. Dienstleistungsfreiheit und Niederlassungsfreiheit muss eingeschränkt werden für eine gleich lange Übergangsfrist wie die Arbeitnehmerfreizügigkeit.

    Durak: Herr Wiesehügel, Sie werden ja im Gespräch sein mit Ihren Gewerkschaftskollegen in den neu zu kommenden Ländern, denke ich mal. Was sagen die Ihnen denn?

    Wiesehügel: Oh ja, natürlich! - Wir diskutieren mit denen sehr, sehr engagiert. Wir eröffnen zum Beispiel jetzt in wenigen Tagen in Warschau ein Gewerkschaftsbüro der IG Bau. Wir haben sehr viele Diskussionen gehabt und wir haben auch ein Abkommen. Die Kollegen dort wissen, welche Probleme wir haben, sagen natürlich auch, dass sie, wenn sie keine Arbeit in Polen haben, ganz gerne in Deutschland arbeiten. Ich habe gesagt, ich habe überhaupt nichts dagegen, aber ihr müsst das zu Bedingungen machen, wo wir nicht arbeitslos werden, und auf der Basis treffen wir uns.

    Durak: Und wie wird das geregelt? Wie soll das aussehen?

    Wiesehügel: Das muss praktisch so geregelt werden, dass Firmen, die zukünftig zu uns kommen, wenn diese Übergangsfristen vorbei sind, dann im Grunde auch die Tarifverträge anwenden. Wer sich dann in Deutschland niederlässt und hier Arbeitnehmer einsetzt, der muss die allgemein verbindlichen Tarifverträge anwenden und der muss die Gesetze, die hier gelten, befolgen.

    Durak: Das müsste doch jetzt auch schon passieren, aber Sie klagen ja, dass die Realität ganz anders aussieht?

    Wiesehügel: Nein, das passiert im Augenblick noch nicht. Das hat man wissenschaftlich und hoch juristisch nun einigermaßen erforscht. Wir haben Inseln fremden Rechtes. Im Augenblick ist es so, dass die Arbeitnehmer auf den Baustellen überhaupt keine Rechte haben, dass es überhaupt keine Gesetze für sie gibt und dass es keine Tarifverträge für sie gibt. Diesen Zustand dürfen wir gar nicht erst einreißen lassen.

    Durak: Wie kommt es, dass es diese Inseln gibt?

    Wiesehügel: Inseln fremden Rechtes. - Das hängt damit zusammen, dass im Grunde die meisten ja illegal hier hergezogen werden. Wer sich illegal in einem anderen Land betätigt, der hat nicht die Möglichkeit, sein Recht einzuklagen, weil ja seine Tätigkeit vom Grunde her schon illegal ist.

    Durak: Und der Unternehmer, der illegal beschäftigt, wird überhaupt nicht kontrolliert?

    Wiesehügel: Doch, es wird natürlich kontrolliert, aber diese Verlockung ist einfach viel zu groß. Damit ist so ein riesen Geld zu machen, dass wenn sie heute an einer Stelle kontrollieren sie unmittelbar daneben oder an der gleichen Stelle die gleiche Illegalität innerhalb Stunden schon wieder antreffen können.

    Durak: Was die Zuwandererzahlen betrifft, da geistern ja Ziffern durch die Landschaften von vier bis sechs Millionen oder auch nur 2,5 Millionen in den nächsten 15 Jahren. Hat man sich in Ihrer Gewerkschaft mal Gedanken gemacht?

    Wiesehügel: Das DIW sagt, es sind nur 300.000 aus den Erfahrungen mit Südwesteuropa. Professor Simm vom IFO-Institut spricht von acht Millionen. Ich glaube, wir liegen dazwischen.

    Durak: Was erwarten Sie denn von Ihrer Partei, der SPD, Herr Wiesehügel, an Unterstützung in dieser Sache?

    Wiesehügel: Wir erwarten das, was Bundeskanzler Schröder uns gesagt hat, den Arbeitgeberverbänden des Baugewerbes gesagt hat und was er in mehreren Referaten öffentlich auch klar gesagt hat, nämlich eine Übergangsfrist für Dienstleistung, Niederlassungsfreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit von sieben Jahren in der EU einzufordern.

    Durak: Das ist eine einseitig deutsche Forderung?

    Wiesehügel: Das ist nicht eine einseitig deutsche Forderung. Das ist eine Forderung von Deutschland, Österreich und es ist eine Forderung, die in Finnland zumindest aus den Bereichen, die davon betroffen sind, genauso mit vorgetragen wird.

    Durak: Kennen Sie den Stand der Zustimmung innerhalb der EU?

    Wiesehügel: Ich weiß, dass es sehr dünn ist, und ich weiß, dass die Spanier ihr Geschäft daraus machen wollen. Die haben keine Nachteile, keine Vorteile. Sie wittern aber, dass sie daraus wieder ein Geschäft machen können, und das macht das ganze so schwierig.

    Durak: Klaus Wiesehügel, der Vorsitzende der IG Bauen-Agrar-Umwelt. Ich habe mit ihm vor der Sendung gesprochen.

    Link: Interview als RealAudio