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Binnenflüchtlinge in Aserbaidschan
Leben an der Linie

Vor 20 Jahren beendete ein Waffenstillstand den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um das Gebiet Berg-Karabach. So ungelöst wie der Konflikt selbst bleibt seine größte humanitäre Folge: Noch immer warten mehr als eine halbe Million Kriegsflüchtlinge in Aserbaidschan auf eine Rückkehr. Ihre Geduld schwindet, die Gefahr eines neuen Krieges wächst.

Von Sven Töniges | 22.02.2014
    Ein armenischer Scharfschütze der selbsterklärten Republik Nagorny-Karabach zielt auf die aserbaidschanische Seite der Front.
    Ein armenischer Scharfschütze der selbsterklärten Republik Nagorny-Karabach zielt auf die aserbaidschanische Seite der Front. (AFP / KAREN MINASYAN)
    Von fruchtbaren Feldern und sanften Hügeln singen der Junge und das Mädchen in der Musikschule von Ramana, einer Siedlung vor den Toren von Baku. Sie singen vom Land ihrer Mütter und Väter, das ist wenige hundert Kilometer entfernt - und unerreichbar. Die Musikschüler, die adrett gekleidet und frisiert einen traditionellen Mugham-Gesang anstimmen, gehören schon zur zweiten Generation von mehr als einer halben Million Aserbaidschanern, die vor zwanzig Jahren teils über Nacht Nagornyj-Karabach, oder auch Berg-Karabach, hatten verlassen müssen.
    So wie der 63-jährige Musafer Babaiev, der auf dem Gang der Musikschule mitgehört hat. Wie die Eltern der Musikschüler stammt auch er aus dem Dorf Malbeyli: "Dieses Foto hier ist das Einzige, das mir von meinen Großeltern geblieben ist. Es ist aus einer alten Ausgabe der Sowjetparteizeitung 'Prawda'."
    Karabach-Flüchtling Musafer Badaiev zeigt auf seinem Handy ein Bild; es sei das einzige Foto seiner Großeltern, das ihm nach der Vertreibung aus Berg-Karabach 1993 geblieben sei.
    Karabach-Flüchtling Musafer Babaiev: Einzig dieses Foto seiner Großeltern sei ihm nach der Vertreibung 1993 geblieben (Sven Töniges / Deutschlandradio)
    Im Februar 1992 wurde Musafer Babaievs Dorf Malbeyli von armenischen Truppen erobert, die aserbaidschanische Bevölkerung zur Flucht gezwungen. Als 1994 ein Waffenstillstand den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Exklave Berg-Karabach beendete, hatten anderthalb Millionen Menschen im Südkaukasus ihre Heimat verloren - Aserbaidschaner und Armenier. Viele derjenigen, die während der ersten Welle des Konflikts auf beiden Seiten vertrieben wurden, gelten heute als gut integriert.
    Sieben Prozent der Aserbaidschaner sind Binnenflüchtlinge
    Anders dagegen die fast 600.000 Aserbaidschaner, die bis Mitte der 90er-Jahre, während der Hochphase des Krieges, fliehen mussten. Sieben Prozent der Einwohner Aserbaidschans sind heute Binnenflüchtlinge – eine der höchsten Raten weltweit. Und eine andauernde, große Herausforderung für dieses Land. Die aserbaidschanische Regierung des feudal-autokratisch regierenden Präsidenten Ilham Alijev hat inzwischen laut einem Weltbank-Bericht viel Geld für diese Gruppe ausgegeben: Beachtliche drei Prozent des dank sprudelnder Ölgewinne gut ausgestatteten Staatshaushalts. Doch die Regierung selbst spricht noch immer von 400.000 Vertriebenen, die weiterhin unter prekären Bedingungen leben.
    Für den Oppositionspolitiker Arastun Orujlu sind dagegen selbst Vorzeige-Siedlungen wie die Kolonie Ramana lediglich Potemkinsche Dörfer. In Wirklichkeit fehle der politische Wille zur Integration der geflohenen Landsleute aus Berg-Karabach: "Tatsächlich wird die Flüchtlingsfrage so gut wie gar nicht angesprochen. Ganz offensichtlich lebt ein Gutteil der Vertriebenen unter sehr schlechten Bedingungen. Doch sie rühren sich nicht, sie begehren nicht auf. Und sie wären auch nicht in der Lage, Protest zu organisieren, da sie in kleinen zersplitterten Gemeinschaften leben. Die Regierung hat das sehr geschickt angestellt, als sie die Vertriebenen über das ganze Lande zerstreut hat."
    180 Kilometer Schutzengräben
    Sechs Autostunden von Baku entfernt steuert Bürgermeister Feci Kasi Allahverdijev seinen japanischen Geländewagen zügig durch eine friedlich anmutende Weidelandschaft. Vor einem Erdwall bringt er den Wagen zum Stehen. Nach Schnee riecht die Luft, die von den Bergen in Karabach fern am Horizont herüber weht. "Vorsicht! Kopf runter! Gebückt weiter gehen!", gestikuliert Allahverdijev stumm aber lebhaft. Die Erdwälle sind Teil eines Schützengraben-Systems. Ein Spalt in einem von Schüssen durchsiebten Tor gibt den Blick frei auf ebenes, grasüberwuchertes Gelände. Allahverdijev deutet auf eine kleine Bodenerhebung, vielleicht siebzig Meter entfernt: "Da drüben, das ist eine armenische Stellung. Das war einmal das Dorf Bash Gabad, jetzt sitzen dort die Armenier."
    Bewohner des aserbaidschanischen Dorfs Chiragli bewegen sich am 4. Dezember 2013 zum Schutz vor armenischen Scharfschützen in Gräben. Hinter dem von Schüssen durchsiebten Tor liegen die armenischen Stellungen.
    Die Bewohner des aserbaidschanischen Dorfs Chiragli bewegen sich zum Schutz vor armenischen Scharfschützen in Gräben. (Sven Töniges / Deutschlandradio)
    Hier, am aserbaidschanischen Dorf Chiragli, verläuft Europas derzeit wohl undurchlässigste Grenze, die sogenannte Line of Contact, die 180 Kilometer lange Waffenstillstandslinie. Hüben wie drüben belauern sich seit zwei Jahrzehnten armenisches und aserbaidschanisches Militär. Doch auch rund 130.000 Zivilisten leben unmittelbar längs der Waffenstillstandslinie, zum überwiegenden Teil Flüchtlinge aus der Karabach-Region.
    Ihre alte Heimat ist in Sichtweite – doch ebenso in Sichtweite seien die armenischen Scharfschützen, erzählt Bürgermeister Allahverdijev. "Sie schießen von drei Seiten, von da vorne, von links und von rechts. Jeden einzelnen Tag, jede Sekunde sind die Menschen hier in Gefahr. Wir wachen morgens mit dem Gedanken auf, heute könnte ich erschossen werden. Die Armenier schießen, wann immer sie wollen."Vor zwei Jahren, sagt der Bürgermeister, sei unweit von hier ein neunjähriger Junge erschossen worden. Seither soll eine gut sechshundert Meter lange und vier Meter hohe Steinmauer wenigstens das Dorf schützen.
    Nach 20 Jahren keine Einigung über Abzug der Scharfschützen
    30 Tote durchschnittlich pro Jahr auf beiden Seiten längs der Waffenstillstandslinie durch Scharfschützen – seit 1994. So schätzen Beobachter der in Brüssel ansässigen Nichtregierungs-Organisation International Crisis Group. Mehrfach haben die Vereinten Nationen und die OSZE die Kriegsparteien zum Abzug ihrer Scharfschützen aufgefordert. Armenien zeigte sich zu einem beidseitigen Abzug bereit, Aserbaidschan dagegen lehnte ab. Aserbaidschans Außenamtssprecher Elman Abdullajev zur Haltung seiner Regierung: "Erst einmal müssen andere Themen vom Tisch. Nämlich der Rückzug der armenischen Truppen von unserem Land, wenigstens der Beginn eines Rückzugs! Erst dann gäbe es die Möglichkeit miteinander ins Gespräch zu kommen und vertrauensbildende Maßnahmen und Ähnliches zu ergreifen."
    Unterdessen wächst die Sorge vor einem erneuten Waffengang. Denn nicht nur die Regierungen beider Länder rasseln mit den Säbeln. Karabach-Flüchtling Musafer Babaiev etwa gibt sich einstweilen noch abwartend: "Wir wollen diesen Konflikt friedlich lösen. Aber wenn das in den kommenden fünf Jahren nicht gelingen sollte? Ich bin jetzt 63 Jahre alt, doch ich bin bereit in den Krieg zu ziehen, wir sind jederzeit bereit zu kämpfen."