Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Biografie über Gudrun Ensslin
"Ich will dieser Person ihre Rätselhaftigkeit zurückgeben"

In ihrer Biografie über die RAF-Terroristin Gudrun Ensslin hat die Autorin Ingeborg Gleichauf nicht die Geschichte der linksextremistischen Vereinigung beleuchtet, sondern die Person in den Fokus gerückt. Ensslin sei eine Frau, deren Leben in die Irre gegangen sei, sagte Gleichauf im DLF. Doch das könne nicht, wie in anderen Büchern, durch Kindheit oder Jugend erschlossen werden.

Ingeborg Gleichauf im Gespräch mit Angela Gutzeit | 24.01.2017
    Gudrun Ensslin bei Gericht im Gespräch mit ihrem Verteidiger, 1968.
    Gudrun Ensslin bei Gericht im Gespräch mit ihrem Verteidiger, 1968. (picture alliance / dpa / Manfred Rehm)
    Angela Gutzeit: Schauen wir zunächst zurück auf die alte Bundesrepublik, als 1970 unmittelbar nach der bewegten Zeit der Studentenrevolte die sogenannte Rote Armee Fraktion gegründet wurde. Die unaufgearbeitete Nazi-Zeit, die Notstandsgesetze, der grausame US-Krieg in Vietnam – wohl aus dieser Gemengelage heraus radikalisierten sich ihre Mitglieder zunehmend – bis am Ende 33 Menschenleben zu beklagen waren. Beileibe nicht nur Repräsentanten des von ihnen so bezeichneten kapitalistischen "Schweine-Systems", sondern auch Polizisten, Fahrer und Menschen, die eben in die Schusslinie gerieten. Auch die meisten Mitglieder der RAF starben, zum Teil durch eigene Hand wie unter anderen die Gründungsmitglieder Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Um Letztere soll es hier gehen. Die Literaturwissenschaftlerin und Publizistin Ingeborg Gleichauf hat jetzt gerade eine Biografie zu der 1940 im baden-württembergischen Bartholomä geborenen Pastoren-Tochter veröffentlicht unter dem Titel "Poesie und Gewalt". Gleichaufs Beweggrund war laut Vorwort, dass in fast allem, was bisher zu Gudrun Ensslin geschrieben wurde, der feinsinnige Bildungsmensch Ensslin hinter der Terroristin Ensslin gänzlich verschwindet. Ich habe mit Ingeborg Gleichauf gesprochen und sie zuerst gefragt, ob ihr Buch nun als Widerspruch gegen dieses verfestigte Bild zu werten sei.
    Ingeborg Gleichauf: Ich würde es nicht so extrem ausdrücken. Ich würde gern meine Biografie an die Seite derer stellen, die auch schon über Ensslin geschrieben haben, wobei über Ensslin selbst in der Tat noch nicht wirklich geschrieben wurde. Sie taucht in Auseinandersetzungen zur RAF auf, und in den Auseinandersetzungen, die mir bisher begegnet sind – ich weiß nicht, ob es noch mehr gibt –, ist sie wirklich eine – das, was ich nenne eine Schattengestalt, mit provinziellem, strengem Pastorenhaushaltshintergrund.
    Gutzeit: Ich habe das Gefühl, Sie sind durchaus auch fasziniert von diesem Menschen Gudrun Ensslin. Es ist nun 40 Jahre her seit ihrem Selbstmord in der Zelle von Stuttgart-Stammheim. Was ist denn das Unabgegoltene an dieser Lebensgeschichte?
    Gleichauf: Was meinen Sie mit unabgegolten?
    Gutzeit: Dass es einfach Leerstellen gibt, dass es was zu erklären gibt, was bislang nicht erklärt worden ist und was diese Person anders darstellen wird und muss.
    Gleichauf: Was Sie Unabgegoltenes nennen, das wird aber auch offenbleiben. Das ist genau das, was ich eigentlich auch will, ich will dieser Person ihre Rätselhaftigkeit zurückgeben. Ich finde nämlich, diese Rätselhaftigkeit, die kommt in anderen Auseinandersetzungen nicht raus. Sie wird enträtselt. Es sind die Leerstellen in Anführungszeichen, die die Abschnitte in ihrem Leben bezeichnen, in denen sie so was vielleicht wie einen Sprung gemacht hat, in denen sie sich den Rücken ihrer eigenen Vergangenheit zugekehrt hat, um in eine Zukunft zu gehen, die sie als bestimmt ansah, die aber letztlich unbestimmt war.
    "Dass dieses Leben in die Irre gegangen ist, kann man nicht aus ihrer Kindheit und Jugend erschließen"
    Gutzeit: Dann bleiben wir doch noch mal bei dem Rätselhaften. Was wahrscheinlich noch nie so zu lesen war wie bei Ihnen, das ist die Schilderung von Kindheit und Jugend Ensslins, das Heranwachsen in einem liberalen evangelischen Pfarrhaus, die Aufarbeitung auch ihres Bildungsweges, mit diesem großen Verlangen nach Wissen, nach Literatur. Ensslin wollte, wie Sie es ja auch beschreiben, ein Studium abschließen mit einer Promotion über Hans-Henny Jahn. Diese Prosa hat sie wohl sehr beeinflusst. Aber gerade das alles erklärt eigentlich überhaupt nicht, warum diese junge Frau mit einem Faible fürs Poetische, wie Sie ja auch immer wieder betonen, in die Gewalt abglitt. Da haben wir ja wieder das Rätselhafte.
    Gleichauf: Ja, und es soll es auch nicht erklären. Ich schildere die Kindheit und Jugend nicht, um zu erklären, was später passiert ist, sondern was mich interessiert, ist im Grunde nicht die Geschichte der RAF, ist auch nicht wirklich die RAF, sondern ist Gudrun Ensslin, ist eine Frau, deren Leben in die Irre gegangen ist. Aber dass dieses Leben in die Irre gegangen ist, kann man nicht aus ihrer Kindheit und Jugend erschließen. Und das ist halt sehr oft gemacht worden, indem man zum Beispiel gesagt hatte, dieses Mädchen hatte ein spitzes Kinn und eine spitze Nase, und das weist auf Gewaltbereitschaft hin.
    "Sie war sehr lange nicht unpolitisch, aber nicht wirklich politisch engagiert"
    Gutzeit: Aber es war eine zeit der Politisierung in den 60er-Jahren, das heißt, es muss ja bestimmte Knackpunkte gegeben haben, dass diese Frau sich dem Terrorismus angeschlossen hat. Und das wird mir an manchen Stellen bei Ihnen nicht so deutlich. Es gab den Schah-Besuch, es gab die Erschießung von Benno Ohnesorg, das wissen wir ja. Das waren entscheidende Punkte, aber ob es das auch für Gudrun Ensslin war?
    Gleichauf: Das waren für Gudrun Ensslin entscheidende Punkte, und ich denke, es ist wichtig, zu berücksichtigen, dass ihr Weg in die Politisierung hinein eigentlich ein langsamer Weg war. Sie war sehr lange nicht unpolitisch, aber nicht wirklich politisch engagiert. Sie hat sich für gesellschaftliche Fragen interessiert, aber sie war in diesen frühen 60er-Jahren vor allem eine – ja, auf dem Weg, eigentlich eine Wissenschaftlerin zu werden. Sie wollte diese Dissertation schreiben. Und dann, in Berlin, hat sie wahrgenommen, was da draußen eigentlich passierte. Und das war der Anfang ihrer, einer wirklichen Politisierung. Aber irgendwo ist sie auch reingestolpert, das würde ich schon so sehen.
    "Ich habe Texte versammelt, die bis in die allerspäteste Zeit reichen"
    Gutzeit: Sie betonen ja immer wieder Ensslins literarisches Talent, ihre Formulierungskunst. Sie soll ja sogar Gedichte geschrieben haben, aber die sind, wie ich bei ihnen gelesen habe, nicht auffindbar. Was ich in Ihrem Buch ein bisschen vermisst habe, das sind mehr Belege für dieses Talent. Also zum Beispiel längere Textstellen, die Ensslins Denken und Diktion veranschaulichen. Ihr Buch trägt ja ausdrücklich diesen Titel "Poesie und Gewalt".
    Gleichauf: Ja, aber ich finde, es sind überdurchschnittlich viele Texte versammelt. Ich habe Texte versammelt, die bis in die allerspäteste Zeit reichen. Also diese ganzen Info-Texte, die zeigen ja auch, wie Ensslin sprachlich gearbeitet hat. Und ich habe all die Texte benutzt, die überhaupt benutzbar sind. Es ist ja so, dass es sicher viele Texte gibt, die noch im Schoße der Familie liegen. Und die Familie hat mir auf meine Anfragen nie geantwortet, also Christiane Ensslin. Ruth Ensslin-Frei, der Sohn –
    Gutzeit: Der Felix Ensslin.
    Gleichauf: Der Felix, genau – was ich absolut verstehen kann. Aber bei denen wird so viel liegen, dass es im Grunde wichtig wäre, genau diese Texte auch einsehen zu dürfen.
    Gutzeit: Ich meinte damit jetzt ein bisschen längere Textauszüge, damit man überhaupt mal beurteilen kann, wie sie geschrieben hat. Sie haben natürlich zitiert, das ist vollkommen klar. Aber so ein bisschen mehr im Zusammenhang, wo man dann einfach mal so eine Seite lesen kann, das ist so nicht zu finden. Und so blieb sie mir ein bisschen rätselhaft von ihrem literarischen Talent. Das muss ich sagen.
    Gleichauf: Okay.
    Ensslin und zwei prägende Männerbeziehungen
    Gutzeit: Vielleicht kommen wir noch auf einen anderen Aspekt. Sie geben in Ihrem Buch den zwei prägenden Männerbeziehungen in Ensslins Leben einen breiten Raum, und das zu Recht, finde ich, denn beide Männer waren, ich sage mal so, extreme Gestalten. Zuerst Bernward Vesper, der Sohn des Nazi-Dichters Will Vesper. Dann, danach, ihre große Liebe, Andreas Baader, der im späteren Terroristen-Trio offensichtlich den Ton angab. Kann die Erklärung für Ensslins Abrutschen in den Terrorismus vielleicht auch einfach lauten: Diese poetische Seele, die sie ja war und wie Sie sie auch beschreiben, sehnte sich vielleicht nach einem starken Helden, den sie ja ganz offensichtlich zum Beispiel in Baader gefunden hatte. Für diese Zeit wäre das ja nicht ganz so untypisch, vom Frau-Mann-Verhalten. Und alle anderen Begründungen sind, wie wir eben auch schon angesprochen haben, schwierig.
    Gleichauf: Ja, sie sehnte sich nach etwas, sie sehnte sich auch sicher nach einem bestimmten Menschen. Aber ich würde eher sagen, dass Baader für die Möglichkeit des Handelns stand. Wenn Ensslin tatsächlich eher eine theoretisch ausgerichtete Person war, dann hat sie einfach jemanden gebraucht, mit dem sie jetzt nicht nur über Texte sprechen konnte, sondern der einfach gesagt hat, wir machen jetzt etwas. Und dieser Brandstifter, die Kaufhausbrandstiftung ist im Grunde genau der richtige Anfang dafür. Nämlich hinzugehen, sich zu inszenieren und es dieser Gesellschaft zu zeigen, und zwar indem man jetzt als Paar hier auftritt. Und da war tatsächlich Andreas Baader, glaube ich, der Richtige.
    Gutzeit: Na ja, ich sage das nur, weil Sie ja sie auch so beschreiben als eine, die eher ein bisschen für das harmonische Miteinander in diesem Terroristen-Trio gesorgt hat. Und der theoretische Kopf war ja wohl in erster Linie Ulrike Meinhof und Baader sozusagen der Aktionist. Insofern hatte ich sie jetzt in Ihrem Buch eher als eine Figur gesehen, die sich eventuell an diesen Mann Baader, an diese doch für sie faszinierende Gestalt einfach angelehnt hat. Wir sollten vielleicht aber auch kurz auf Ensslins erste Liebe eingehen, auf Bernward Vesper, der versuchte, wie Sie es auch schildern, die literarischen Werke seines Nazi-Vaters, Will Vespers, herauszubringen, und sich dabei sogar eines österreichischen Verlegers mit brauner Weste bediente. Ensslin hat Vesper dabei unterstützt, auch tatkräftig. Das liegt nun natürlich ein bisschen weiter zurück natürlich, vor ihrer politisierten Phase. Aber das ist doch eine seltsame Orientierungslosigkeit, so von rechts nach links, und ein Punkt, der eigentlich auch noch mehr Beachtung finden müsste.
    Gleichauf: Ich glaube nicht, dass es ein Orientierungswechsel von rechts nach links war, sondern ich glaube, dass sie da schlichtweg das einfach hat passieren lassen. Ich glaube nicht, dass sie sich in irgendeiner Weise wirklich auseinandergesetzt hat mit dem Werk Will Vespers, sondern dass sie in Tübingen einen gefunden hat, und das war eben der Bernward Vesper, mit dem sie, was weiß ich, so viele Gemeinsamkeiten hatte, dass sie da einfach reingeraten ist. Also ich glaube, da können wir wirklich sagen, das war einfach naiv.
    Gutzeit: Aber das ging schon sehr weit für diese Zeit. Wenn wir uns daran erinnern, das gab doch eine sehr starke Auseinandersetzung schon mit den Nazi-Eltern, und man muss sagen, sie ist ja da doch auch voll eingeschwenkt auf diese Texte, und es war ja klar, wer dahinterstand, nämlich ein Nazi-Dichter.
    Gleichauf: Das ist völlig klar, ja.
    Gutzeit: Um noch mal auf Ensslins Sprachtalent zurückzukommen, das Sie ja immer wieder erwähnen, ihre poetische Ader, ihre differenzierte Ausdrucksweise, die sie im Verlauf der Radikalisierung und Isolierung durch den Terrorismus ja wohl dann auch verloren hat, wie Sie auch beschreiben. Die Publizistin und Philosophin Carolin Emcke, die Sie ja auch erwähnen, schrieb in ihrem Buch "Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF" – ich glaube, das war von 2008, dass Menschen, die für sich in Anspruch nehmen, stellvertretend für andere, ihrer Meinung nach unterdrückte Gewalttaten auszuüben, sich einer Auseinandersetzung über ihr Tun stellen müssten, zumindest im Nachhinein. Das hat aber nie ein RAF-Mitglied der ersten, zweiten oder dritten Generation getan. Auch Gudrun Ensslin hat es nicht getan, also auch vom Gefängnis aus, oder wie man das jetzt immer sagen soll. Das wirft natürlich einen schwarzen Schatten auf ihr ganzes Leben, rückblickend, auch wenn man ihr gerecht werden will. Aber warum sollte es trotzdem wichtig sein – sagen Sie es mir bitte noch mal abschließend, sie zu verstehen?
    Gleichauf: Ich würde sagen, das, was Carolin Emcke erwartet – wir wissen nicht, ob sie nicht das doch geleistet hat. Also nicht nach außen, aber ich habe den Eindruck, dass sie das nach innen durchaus geleistet hat, nämlich in so einer Art Zwiegespräch mit sich selbst. Und dass dieses Zwiegespräch mit sich selbst, und zwar in einer unglaublich fragilen körperlichen Verfassung auch diesen Selbstmord provoziert hat oder hervorgebracht hat.
    Gutzeit: Aber das ist Spekulation.
    Gleichauf: Das ist Spekulation.
    "Es gibt keine dezidierte Rückschau, in der sie zugegeben hätte, was sie an Gewalt mitgetragen hat"
    Gutzeit: Ja. Und ich würde sagen, wenn man verantwortlich ist für viele Morde. Und wenn man sich da im Grunde genommen als Revolutionär versteht, sich aber nach außen hin nicht erklärt, dann ist das natürlich ein Manko bis heute und eine Leerstelle bis heute.
    Gleichauf: Das ist völlig klar, ja. Was ich denke, was man doch sehen kann, jetzt ohne irgendwas zu beschönigen, war aber, dass beispielsweise auch in der Auseinandersetzung mit Christiane Ensslin gibt es ja immer wieder auch Briefstellen –
    Gutzeit: Das ist die Schwester – das müssten Sie jetzt sagen.
    Gleichauf: Genau. Gesprächsstellen, bei denen man sehen kann, dass sie kundtun wollte, dass Gewalt auszuüben immer Schwäche bedeutet. Solche Sätze gibt es ja bei ihr. Aber es gibt keine dezidierte Rückschau, in der sie zugegeben hätte, was sie im Grunde an Gewalt mitgetragen und mit verursacht hat.
    Gutzeit: Ingeborg Gleichauf - ihr Buch "Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin" ist im Verlag Klett-Cotta zum Preis von 22 Euro erschienen. Die Biografie hat 350 Seiten.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.